Internationale
Prozessbeobachtung
Öcalan-Revisionsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte
Im
Juni 2004 hat Rolf Gössner im Auftrag der Liga das Gerichtsverfahren von
Abdullah Öcalan gegen die Türkei vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte beobachtet. Es geht in dem Verfahren um die Frage der
Rechtmäßigkeit und Rechtsstaatlichkeit des Öcalan-Verfahrens und seiner
Verurteilung vor türkischen (Militär-) Gerichten.
07. Juni 2004
Die
Internationale Liga für Menschenrechte beobachtet
Revisionsverfahren im Fall des Kurdenführers Abdullah Öcalan
vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg
Liga-Präsident Rolf Gössner: Auch die völkerrechtswidrige Verschleppung Öcalans sowie
die menschenunwürdigen Isolationshaftbedingungen müssen aufgeklärt und
geahndet werden.
Auf Einladung einer Internationalen Initiative wird die Internationale Liga für Menschenrechte zusammen mit Persönlichkeiten aus ganz Europa das Revisionsverfahren im Fall Abdullah Öcalan am Mittwoch, 9. Juni 2004 vor der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg beobachten. Prozessbeobachter wird Liga-Präsident Dr. Rolf Gössner sein, der 1999 zusammen mit mehreren Menschenrechtsorganisationen die Internationale Beobachtung des Öcalan-Verfahrens in der Türkei initiiert hatte.
Die Durchführung dieses fragwürdigen Strafverfahrens steht in Straßburg auf dem Prüfstand. Bereits im Beschwerdeverfahren hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 13. März 2003 festgestellt, dass Öcalan in der Türkei kein faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht erfahren habe, dass sein Recht auf Verteidigung eingeschränkt gewesen sei und dass er durch die Verhängung der Todesstrafe eine inhumane Behandlung erlitten habe (inzwischen ist die Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt worden).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte es allerdings bislang unterlassen, zwei für das Strafverfahren wesentliche Punkte zu klären. So wurden die dubiosen Umstände der Entführung Öcalans am 15.02.1999 aus Kenia ebenso wenig behandelt, wie das Haftregime der Isolation, dem der politische Gefangene Öcalan auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali unterzogen wird - obwohl es sich hierbei mutmaßlich um schwere Verstöße gegen das Völkerrecht und das Folterverbot der Menschenrechtskonvention handelt. Wegen dieser Nichtbehandlung hat die Verteidigung Öcalans (ebenso wie die Türkei aus anderen Gründen) Revision gegen das Urteil eingelegt.
In zahlreichen
Verfahren ist die Türkei für schwerwiegende
Menschenrechtsverletzungen, insbesondere systematische Folterungen, verurteilt
worden. Abdullah Öcalan wird seit nunmehr über fünf
Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali von der Außenwelt
weitgehend isoliert und unter menschenunwürdigen
Haftbedingungen gefangen gehalten. Die verschärften
Isolationshaftbedingungen bedrohen ernsthaft seine Gesundheit. Er leidet in
den feuchten Gemäuern, so wurde uns von seinen Anwälten
berichtet, unter Atembeschwerden und
unter mangelhaften hygienischen Bedingungen. Die Liga unterstützt
die Forderung der Familie und Anwälte Öcalans, eine unabhängige
Ärztekommission
zu entsenden, um seinen Gesundheitszustand festzustellen und geeignete medizinische
Maßnahmen
zu ergreifen. Es ist höchste Eile geboten, wenn
diese Haftbedingungen nicht zu einer Hinrichtung auf Raten führen
sollen,
erklärte
Rolf Gössner
unmittelbar vor dem Prozess.
Hier
der Prozessbericht on Rolf Gössner:
Letzte Instanz Europa:
Öcalan ./. Türkei
Zum Revisionsverfahren vor dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Rolf Gössner
The Court,
ruft der Saaldiener, und alle erheben sich. 17 Gestalten in schwarzen Roben mit
weißen
Rüschenlätzchen
betreten den Saal, bewegen sich im Gänsemarsch langsam auf ihre Plätze
zu. Es sind die Richterinnen und Richter der großen Kammer des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg
der höchsten
gerichtlichen Instanz auf dem europäischen Kontinent. Vor dem
Richter-Halbrund sitzen die Anwälte des Klägers,
in gehörigem
Abstand die des beklagten Staates, der Türkei.
Es fehlt die
Hauptperson, deren Revisionssache verhandelt wird: Der Platz des Kurdenführers
Abdullah Öcalan bleibt unbesetzt. Hafturlaub hat er nicht erhalten, um seine
Sache persönlich vertreten zu können. Und per Videoschaltung kann er sich dem
Gericht auch nicht erklären. Doch durch seine Anwälte ist er gut vertreten. Im
Saal sitzen Pressevertreter und Prozeßbeobachter aus vielen Ländern, eingeladen
von einer Internationalen Initiative.
Auf dem juristischen Prüfstand steht
das Staatsschutzverfahren gegen den früheren Vorsitzenden der Kurdischen Arbeiter-Partei
(PKK), das Ende der 90er Jahre vor einem Sondergericht in der Türkei stattgefunden hat. Bereits
im Beschwerdeverfahren hatte die kleine Kammer des Europäischen Gerichtshofs in ihrem
Urteil vom 13. März 2003
festgestellt, daß Öcalan kein fairer Prozeß vor einem unabhängigen Gericht gemacht wurde.
Sein Recht auf Verteidigung sei eingeschränkt worden, und durch die Verhängung der Todesstrafe habe er
eine inhumane Behandlung erlitten. Inzwischen wurde die Todesstrafe auf Druck
des Europarates und der EU in lebenslange Haft umgewandelt und in der Türkei per Gesetz abgeschafft,
ebenso wie die berüchtigten
Staatssicherheitsgerichte.
Der Europäische
Gerichtshof hatte es allerdings unterlassen, zwei für die menschenrechtliche
Beurteilung des türkischen
Strafverfahrens wesentliche Sachverhalte zu klären und zu ahnden: Weder die dubiosen Umstände der geheimdienstlichen Entführung Öcalans am 15. Februar 1999 aus
Kenia in die Türkei noch das
Haftregime der Isolation, dem er seit seiner Inhaftierung unterzogen wird,
waren erörtert worden obwohl diese Behandlung des
Gefangenen Einfluß auf das
Strafverfahren hatte und es sich dabei mutmaßlich um schwere Verstöße gegen das Völkerrecht und das Folterverbot
der Menschenrechtskonvention handelt. Nach seiner Festnahme war Öcalan sieben Tage lang ohne
jeden Kontakt zu seinen Anwälten
festgehalten worden. Weil diese Umstände nicht aufgeklärt worden waren, hatte die Verteidigung Öcalans ebenso wie die Türkei aus anderen Gründen Revision gegen das Urteil
eingelegt. Öcalan erhofft
sich nun eine verschärfte
Verurteilung des türkischen
Staates, während dieser
sich reinzuwaschen sucht.
Die
englischen und kurdischen Anwälte Öcalans tragen die Begründung für ihre
Revision vor, die Anwälte der Türkei versuchen, die aufgezeigten
Menschenrechtsverletzungen als notwendige Antiterrormaßnahmen zu rechtfertigen.
Das Gericht rafft sich kaum zu kritischen Nachfragen auf. Seine Entscheidung
wird noch Monate auf sich warten lassen. Sollte es die Türkei in wesentlichen
Punkten verurteilen, dann müßte der Prozeß gegen Öcalan vor einem türkischen Gericht
neu aufgerollt und rechtsstaatlich korrekt durchgeführt werden. Die Türkei will
das natürlich vermeiden. Und Öcalan wäre es lieber, wenn ein neuer Prozeß
außerhalb des Landes stattfände nämlich vor dem Internationalen
Strafgerichtshof in Den Haag. Dann endlich könnte der ursächliche Part der
Türkei an dem kriegerisch ausgetragenen Kurdistan-Konflikt angemessen
berücksichtigt werden also jene grausame Unterdrückung der Kurden, gegen die
sich die Kurdische Arbeiterpartei, für die Öcalan verantwortlich war, mit
Gewalt zur Wehr gesetzt hat. Das würde seine Straftaten, seine Verantwortung
in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Draußen vor dem
Straßburger
Gerichtsgebäude ist an
diesem heißen Junitag
erheblich mehr los als im Gerichtsaal. Hier versammeln sich bunt gekleidete
Kurdinnen und Kurden, schwenken Fahnen und lassen Abdullah Öcalan hochleben. Zehntausend
Menschen demonstrieren für seine
Freiheit und für eine
gerechte und demokratische Lösung des
Kurdistankonflikts.
Die Türkei ist vom Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte bereits in zahlreichen Verfahren für
schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, insbesondere systematische
Folterungen, verurteilt worden, teilweise auch zu hohen
Schadensersatzleistungen an die Opfer. Trotz einiger Reformansätze wird in der
Türkei nach wie vor massiv gegen Menschenrechte und rechtsstaatliche Standards
verstoßen. Die größten Defizite, so stellt der letzte vertrauliche Lagebericht
des Berliner Auswärtigen Amtes fest, liegen bei den Institutionen von Justiz
und Polizei. Zwar gingen die Hinweise auf Fälle schwerer körperlicher Folter
zurück, dafür nähmen Berichte über verfeinerte Methoden zu, die weniger
bleibende Spuren hinterlassen etwa Elektroschocks, Abspritzen mit kaltem
Wasser aus Hochdruckgeräten, erzwungenes Ausziehen sowie Androhung von
Vergewaltigungen.
Abdullah Öcalan wird
seit nunmehr über fünf Jahren als einziger
Gefangener auf der Gefängnisinsel
Imrali im Marmarameer gefangen gehalten, also von der Außenwelt weitgehend isoliert,
unter menschenunwürdigen
Haftbedingungen. Außer mit seinen
Bewachern kann er mit niemandem sprechen. Oft bleibt er monatelang ohne Besuch,
weil die türkischen
Sicherheitsbehörden immer
wieder den Anwälten und
Verwandten die Überfahrt
durch das militärische Sperrgebiet
mit Verweis auf defekte Boote oder schlechtes Wetter verweigern. Die verschärften Isolationshaftbedingungen
bedrohen ernsthaft seine Gesundheit. Er leidet in den feuchten Gemäuern, wie seine Anwälte berichten, unter Atembeschwerden. Die hygienischen Bedingungen seien
mangelhaft. Eine unabhängige Ärztekommission, so die Forderung
der Anwälte und
Verwandten, müsse Öcalan untersuchen und geeignete
medizinische Maßnahmen
ergreifen. In der Tat ist Eile geboten, sollen diese Haftbedingungen nicht zu
einer Hinrichtung auf Raten führen.
Just am Tag des Revisionsverfahrens im Fall Öcalan wird in der Türkei die seit zehn Jahren inhaftierte
kurdische Parlamentarierin Leyla Zana zusammen mit drei weiteren ehemaligen Abgeordneten
überraschend
freigelassen nicht gerade
aus freien Stücken, sondern
um eine wichtige Forderung der EU zu erfüllen. Ob mit dieser Freilassung einer weithin
bekannten Symbolfigur des kurdischen Widerstands eine neue Ära in der Türkei angebrochen ist, bleibt
abzuwarten. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für Frieden im Lande und für eine Verbesserung der Menschenrechtslage
wird die politisch gerechte Lösung des
Kurdistankonflikts sein. Dieses Problem ist nach wie vor ungelöst, solange Kurden unterdrückt und ihnen kulturelle,
soziale und politische Rechte vorenthalten werden.
Aus: OSSIETZKY - Zweiwochenschrift für
Politik/Kultur/Wirtschaft (Hannover/Berlin)
(www.sopos.org/ossietzky.de
oder www.linksnet.de)