Prozessbeobachter: Dr. Rolf Gössner

 

 

Stand: 5. Dezember 2008

 

Prozessbeobachtung:
PRO ASYL zieht nach 22 Monaten und fast 60 Prozesstagen Bilanz

Gericht mit Aufklärung des qualvollen Verbrennungstods von Oury Jalloh im Polizeigewahrsam gescheitert !

Brandursache und Verantwortlichkeiten weiter ungeklärt

 

I. Vorgeschichte

Prozess unter internationaler Beobachtung: Vor dem Landgericht Dessau geht nach 22 Monaten und 58 Verhandlungstagen ein international aufsehenerregendes Strafverfahren gegen zwei Polizeibeamte zu Ende, denen die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage vorwirft, für den grausamen Ver­bren­nungstod des schwarzen Asylbewerbers Oury Jalloh verantwortlich zu sein. Der unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen stattfindende Prozess hatte im März 2007 begonnen und stand in der Anfangsphase - auf Betreiben der "Initiative in Gedenken an Oury Jalloh" - unter Beobachtung einer internationalen Delegation von Menschenrechtlern, Anwälten, Wissenschaftlern und Schriftstellern aus Frankreich, Großbritannien, Südafrika und Deutschland. Die "Initiative in Gedenken an Oury Jalloh" ist im Sommer 2008 unter Protest aus der Prozessbeobachtung ausgestiegen. Sie geht davon aus, dass es sich bei dem Verbrennungstod nicht lediglich um bloße Nachlässigkeit, sondern um Mord durch die Polizei handele: Der bisherige Verlauf des Strafprozesses habe gezeigt, dass dieser Todesfall nicht rückhaltlos aufgeklärt werde; der Prozess sei eine Farce, ein Scheinprozess, weil in ihm die wesentlichen Fragen, die zur Aufklärung des Mordes an Oury J. hätten führen können, gar nicht erst gestellt worden seien und der rassistische Kontext vollkommen ausgeblendet werde; diese Alibiveranstaltung diene nur dazu, der demokratischen Öffentlichkeit Aufklärungswillen zu demonstrieren und den rechtsstaatlichen Schein zu wahren.

Zum Ende des Verfahrens am 8. Dezember 2008 (Urteilsverkündung) zieht die Flüchtlingsorganisation PRO ASYL (Frankfurt/M.), die diesen Strafprozess durch RA Dr. Rolf Gössner be­obachten ließ, eine kritische Bilanz.

Zur Erinnerung: Am 7. Januar 2005 hatten Dessauer Polizisten den Bürgerkriegsflüchtling Oury Jalloh aus Sierra Leone aufgegriffen, weil er Reinigungskräfte auf der Straße belästigt haben soll. Jalloh war betrunken, wehrte sich gegen seine Festnahme und wurde daraufhin in Gewahrsam des Dessauer Polizeireviers genommen. Nach gründlicher Durchsuchung fesselten ihn die Polizisten, weil er angeblich Widerstand leistete, fixierten ihn auf einer Matratze in der Arrestzelle Nr. 5 an Händen und Füßen und ließen ihn stundenlang allein im Zellentrakt des Polizeikellers zurück – unterbrochen nur durch gelegentliche Kontrollgänge. Diese Prozedur diente angeblich dazu, eine „Selbstgefährdung“ zu verhindern und in Ruhe seine Identität überprüfen zu können – obwohl er auf dem Polizeirevier bereits bekannt war. In der rundherum gekachelten Sicherheitszelle verbrannte Oury J. auf der feuerfesten Matratze bei lebendigem Leib. Angebliche Todesursache: Hitzeschock. Unbekannt ist, wer die Matratze entzündete und wie der Brand entstand – diese Umstände sollte das gerichtliche Verfahren klären. Trotz Alarmzeichen des Brand­melders und trotz der Hilferufe, die über eine Gegensprechanlage vernehmbar waren, sollen die wachhabenden Beamten nicht rechtzeitig reagiert haben. Ein Gutachten vom Juli 2006 stellte schon vor der mündlichen Verhandlung fest: Hätten die Polizeibeamten sofort reagiert, hätte Oury J. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet werden können. Auch diese Frage hatte das Gericht zu klären.

Die Anklage: Bei ihren Ermittlungen hatte die Staatsanwaltschaft, vertreten von Oberstaatsanwalt Christian Preissner, von Anfang an gravierende Widersprüche ignoriert, sich schon frühzeitig auf die Version einer Selbstanzündung Oury Jallohs festgelegt und damit die Einlassung der Angeklagten übernommen. Einem der angeklagten Polizisten, Hans-Ulrich M., wirft die Staatsanwaltschaft fahrlässige Tötung durch Unterlassen vor: Bei der Durchsuchung von Oury J. habe er ein Feuerzeug übersehen, mit dem der total Fixierte später das Feuer selbst gelegt haben soll. Dem Hauptangeklagten, Polizei-Dienstgruppenleiter Andreas Sch., der für den gesamten Gewahrsamsbereich, für die lebensgefährliche Fixierung und die Kontrollgänge die Verantwortung trug, wirft die Staatsanwaltschaft (gefährliche) Körperverletzung mit Todesfolge vor, ebenfalls durch Unterlassen: Er habe die Gegensprechanlage wegen der starken Geräusche aus der Gewahrsamszelle leise gestellt, den Brandalarm zweimal weggedrückt und erst auf Drängen einer Kollegin die Zelle aufgesucht.

Die Nebenklage: Die Anwälte der Nebenklage, Regina Götz, Ulrich von Klinggräff und Felix Isensee, vertreten Mutter, Vater und Bruder des Todesopfers. Sie hatten die Aufgabe, zur Aufklärung des Todesfalles beizutragen. Tatsächlich spielten sie an der Seite der Staatsanwaltschaft, aber unabhängig von ihr, mit ihren Interventionen und beharrlichen Nachfragen eine zentrale Rolle in diesem Strafverfahren (wobei sie skandalöse Polizeistrukturen und Lügenkonstrukte aufdecken, allerdings den eigentlichen Kern des Falles auch nicht aufhellen konnten).

Die 6. große Strafkammer des Landgerichts Dessau unter Vorsitz von Richter Manfred Steinhoff hatte im Verlaufe des Prozesses drängende Fragen zu klären – Fragen, die allerdings nur zum Teil mit der gebührenden Intensität behandelt wurden:

·      Sind Fesselung und Fixierung eines Betrunkenen (mit fast drei Promille) an allen Gliedmaßen in einer Polizeizelle mit der Menschenwürde und dem Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar und sind sie – auch im strafrechtlichen Sinne – verantwortbar, wenn der Fixierte über Stunden ohne ständige Aufsicht und medizinische Betreuung bleibt?

·      Wie sind die – erst bei einer zweiten Obduktion - festgestellten Verletzungen an Nase und Ohr zustande gekommen – ist Oury Jalloh vor seinem Tod womöglich misshandelt worden?

·      Wie gelangte ein Feuerzeug, trotz intensiver Durchsuchung von Oury J., in die Todeszelle und warum wurden Reste davon so spät gefunden?

·      Wie kann ein mit fast drei Promille stark alkoholisierter, an Händen und Füßen fixierter Mensch ein Feuerzeug aus der Hosentasche fingern und eine Matratze mit feuerfester Ummantelung anzünden, wie es die Anklage unterstellt?

·      Wie kann eine (angebliche) Selbstverbrennung im Polizeigewahrsam – praktisch unter den Augen der Polizei - passieren? Hat einer der Angeklagten nicht rechtzeitig auf den Brandmelder reagiert und aus welchen Gründen? Hätte also durch rechtzeitiges Reagieren der Tod von Oury Jalloh noch verhindert werden können?

·      War es Selbstanzündung, wie die Anklage behauptet, oder war es unterlassene Hilfeleistung, fahrlässige Tötung oder gar Mord aus rassistischer Motivation, wie etwa die "Initiative in Gedenken an Oury Jalloh" mutmaßt und worauf gewisse Umgereimtheiten und Umstände hindeuten könnten?

II. Zum Prozessverlauf

1.    Stattfinden des Gerichtsverfahrens als Erfolg: Als prozessbeobachtende Organisation werten wir es als nicht zu unterschätzenden Erfolg, dass dieser Prozess überhaupt stattgefunden hat und das Verfahren nicht endgültig eingestellt worden ist, wie es so häufig bei Todesfällen auf Polizeirevieren und durch Polizeigewalt passiert. Die Aktivitäten der "Initiative in Gedenken an Oury Jalloh" und der so erzeugte öffentliche Druck spielten hier eine maßgebliche Rolle – nachdem das Verfahren über zwei Jahre lang verschleppt worden war. Dem Umstand, dass dieses Gerichtsverfahren überhaupt stattgefunden hat, verdanken wir einen erschreckenden Einblick in Organisation, Verhalten und Mentalität im Dessauer Polizeirevier, und wir konnten das ganze Repertoire dreister Versuche von Polizeibeamten erleben, die juristische Aufarbeitung einer Tragödie, die sich in ihrem Gewahrsam und unter ihrer „Obhut“ ereignete, zu hintertreiben – ein makabres Stück bundesdeutschen Polizeialltags, der immer noch von Korpsgeist, einer Mauer des Schweigens und Sanktionsimmunität geprägt ist.

2.    Vorprogrammierung durch Selbstanzündungshypothese: Die Staatsanwaltschaft hatte sich frühzeitig auf die wenig plausible Hypothese einer rätselhaften Selbstanzündung festgelegt und damit den Prozess entsprechend vorprogrammiert: Das Opfer habe die Matratze, auf der er an Händen und Füßen fixiert worden war, selbst angezündet, indem er mit knapp drei Promille Alkohol im Blut den feuerfesten Bezug der Matratze aufgerissen und die entstandene Öffnung erweitert haben soll, um den Füllstoff in Brand setzen zu können – mit Hilfe eines Feuerzeugs, das bei seiner zuvor erfolgten gründlichen Durchsuchung übersehen worden sein soll. Das ver­schmorte Feuerzeug ist erst bei einer zweiten Zellendurchsuchung gefunden worden, wobei die Frage, wie ein Feuerzeug überhaupt in die Zelle gelangen konnte, bis heute nicht aufgeklärt ist.

3.    Früherer Fall von Pflichtwidrigkeit: Die Anwälte der Nebenklage konnten schon zu Beginn der öffentlichen Verhandlung einen wichtigen Erfolg verbuchen, der dazu führte, dass in dem Verfahren auch jener Todesfall verhandelt werden konnte, der sich bereits 2002 in derselben Zelle 5 des Dessauer Polizeireviers ereignet hatte. Damals starb der 36jährige Obdachlose Mario B. im Polizeigewahrsam, in dem er 15 Stunden verbringen musste, davon mehrere Stunden unkontrolliert. Verantwortlich waren der jetzt angeklagte Polizeibeamte und jener Arzt, der auch die »Gewahrsamstauglichkeit« von Oury Jalloh festgestellt hatte. Zwar ist das Ermittlungsverfahren damals eingestellt worden, aber die Frage nach einer Pflichtwidrigkeit des Angeklagten in jenem Fall blieb offen und spielte auch in dem jetzigen Verfahren eine nicht unerhebliche Rolle. Es drängten sich jedenfalls erstaunliche Parallelen zum Todesfall Oury J. auf.

4.    Institutioneller Rassismus: Es ist keineswegs von der Hand zu weisen, dass bereits die Umstände der Kontrolle, der Festnahme und Identifizierung von Oury Jalloh und nicht zuletzt seine Ingewahrsamnahme und Fixierung an allen Gliedmaßen mit institutionellem Rassismus zu tun haben – zumal Jalloh erst wenige Monate zuvor schon einmal auf demselben Revier einer Identitätsüberprüfung unterzogen worden war, was zumindest der Hauptangeklagte wusste. Jalloh hätte also rasch identifiziert und medizinisch versorgt werden können – stattdessen ist der hoch alkoholisierte Migrant, dem keine Straftat vorgeworfen wurde, von dem zuständigen Arzt für gewahrsamstauglich erklärt, dann an allen vier Gliedmaßen über Stunden fixiert und angeblich zur eigenen Sicherheit nahezu bewegungsunfähig gemacht worden. Solche schikanösen und unwürdigen Prozeduren erleben Flüchtlinge und besonders Schwarze hierzulande tagtäglich. Im Gerichtssaal, wo viele Schwarzafrikaner dem Prozess mit Spannung folgten, konnte man es als Prozessbeobachter förmlich spüren, dass in diesem Verfahren auch ihre demütigenden Alltagserfahrungen – etwa willkürliche, rassistisch motivierte Polizeikontrollen – zur Sprache kamen und eine Rolle spielten – besonders spürbar, wenn Polizeibeamte als Zeugen vernommen wurden, die sich an nichts mehr erinnern wollten und sich recht indifferent und verantwortungslos zeigten. Der Vorwurf des latenten bis offenen Rassismus erhielt Nahrung durch die zynischen Redensarten über den Inhaftierten in zwei Telefongesprächen, die der Hauptangeklagte mit jenem Arzt führte, der Jallohs „Gewahrsamstauglichkeit“ festgestellt hatte. Ein hochrangiger Polizeibeamter kommentierte später den Ver­brennungstod von Oury J. mit den Worten „Schwarze brennen nun mal länger“.

5.    Polizeizeugen vor Gericht – Korpsgeist in Uniform: Während der Befragung von Zeugen aus den Reihen der Polizei sind auffällige Erinnerungslücken und eklatante Widersprüche zu ihren früheren Vernehmungen zu Tage getreten. Hier lugte der alte Korpsgeist in Polizeiuniform hervor, der sich hinter einer Mauer des Schweigens zu verschanzen und der öffentlichen Kontrolle zu entziehen sucht. Dem Vorsitzenden Richter Manfred Steinhoff platzte angesichts der offenkundigen Lügen, Widersprüche und Ungereimtheiten mehr­mals regelrecht der Kragen. Er betonte, dass ein demokratischer Rechtsstaat nicht damit leben könne, dass Polizeibeamte vor Gericht die Unwahrheit sagen. Auch den Hauptangeklagten ermahnte der Richter mehrmals, seine Einlassungen endlich zu überdenken. »Sie sind Beamter des Landes Sachsen-Anhalt und wir leben in keiner Bananenrepublik«, polterte der Richter. »Ich werde den Prozess in Grund und Boden verhandeln. Ich werde notfalls jeden Zeugen zehnmal vorladen. Irgendwann fällt jemand um.«

6.    Die richterlichen Standpauken zeigten gelegentlich auch Wirkung – auch wenn sie keine wirkliche Wende auslösten. Die erneute Vernehmung des Polizeibeamten Gerhardt M. etwa drehte sich um die letzte Phase der Tragödie. Aufhorchen ließ seine erstmals gemachte Aussage, dass er nach Öffnen der Gewahrsamstür durch den Hauptangeklagten – trotz des schwarzen Qualms – zwei Schritte in die Zelle gemacht und Jallohs festgeschnallten Körper gesehen habe. Er habe versucht, die Matratze zu löschen, was ihm aber nicht gelungen sei. »Das einzige, was geholfen hätte, wäre gewesen, ihn sofort loszumachen.« Jalloh hätte von seinen Hand- und Fußfesseln befreit werden müssen, aber er habe bedauerlicherweise keine Schlüssel dabei gehabt. Die hatte der Hauptangeklagte, der stets bestritt, dass es möglich gewesen sei, die Zelle zu betreten, da es zu stark gequalmt habe.

7.    Die Hauptbelastungszeugin Beate H. relativierte vor Gericht ihre zuvor gemachte belastende Aussage – jetzt soll plötzlich alles zügiger verlaufen sein, nachdem sie zunächst bekundet hatte, dass der Hauptangeklagte die Gegensprechanlage wegen der starken Geräusche aus der Gewahrsamszelle leise gestellt, den Brandalarm zweimal weggedrückt und erst auf ihr Drängen die Zelle aufgesucht habe. Nach dieser ursprünglich gemachten belastenden Aussage hatte sie enorm unter Druck gestanden, war gegen ihren Willen (aus angeblicher „Fürsorgepflicht“) versetzt worden, was sie als Bestrafungsaktion empfand. Der ursprüngliche Vernehmungsbeamte bestätigte im Prozess, dass Beate H. bei der ersten Vernehmung klar und deutlich die belastenden Aussagen gemacht habe. Inzwischen hat auch ein Kollege des Hauptangeklagten bekundet, dieser habe ihm gegenüber zugegeben, zu spät reagiert zu haben.

8.    Organisierte Verantwortungslosigkeit: Die Aussagen vieler Polizeizeugen haben zum Teil erschreckende Einblicke in die Organisation, das Verhalten und die Mentalität innerhalb des Dessauer Polizeireviers und im Verantwortungsbereich des Hauptangeklagten geboten. Man könnte insoweit auch von organisierter Verantwortungslosigkeit sprechen: Hier lernt man eine Sicherheitsbehörde kennen, in der „Sicherheit“ offenbar über Menschenwürde und Bürgerrecht gestellt wird, in der - trotz gesteigerter Garantenpflicht gegenüber einem an Händen und Füßen fixierten Menschen - Kontrollgänge nachlässig absolviert („dem ging’s gut“, so ein Polizeizeuge) und beunruhigende Auffälligkeiten ignoriert werden (etwa ungeklärte Flüssigkeit auf Zellenboden), in der es kaum Schulungen oder Unterweisungen gab, geschweige denn ausreichende Brandschutzmaßnahmen, in der ungewöhnliche Geräusche und Alarmzeichen von Feuer- und Rauchmeldern nicht zum sofortigen Handeln führen – „ich hatte nebenbei noch etwas anderes zu tun“, so versuchte sich der Angeklagte vor Gericht immer wieder zu entschuldigen. Am Ende geriet diese unverhältnismäßige und unwürdige Gewahrsamsprozedur zur angeblichen Eigensicherung zu einer ausweglosen Todesfalle und der Sicherheitsgewahrsam zu einer Todeszelle. Einer der Polizisten im Zeugenstand meinte gar, mangels Einhaltung minimalster Brandschutzbestim­mungen hätte das Polizeirevier längst gesperrt werden müssen. Dann wäre Oury Jalloh wohl heute noch am Leben.

9.    Späte Änderung der Gewahrsamsordnung: Oury Jalloh war von den beteiligten Polizeibeamten in eine ausweglose Situation und damit auch in Lebensgefahr gebracht worden. Erst nach diesem unglaublichen Vorfall ist die Gewahrsamsordnung geändert worden: Heute wäre Oury J. in seinem alkoholisierten Zustand nicht mehr in Gewahrsam genommen, sondern in ein Krankenhaus gebracht und dort medizinisch betreut worden. Wer mehr als zwei Promille hat, darf grundsätzlich nicht mehr in die Polizeizelle gesperrt werden, sondern muss  - eigentlich eine Selbstverständlichkeit - als medizinischer Fall in ärztliche Obhut. Oury J. könnte also heute noch leben.

10.    Interne Hausmitteilungen und Zeugeninformationstreffen: Während des Prozesses sind interne „Hausmitteilungen“ des Polizeireviers Dessau aufgetaucht, in denen die Revierleitung unmittelbar nach dem Vorfall den Geschehensablauf vorschnell und einseitig darstellte – basierend allein auf der Version des Hauptbeschuldigten, ohne die abweichende Darstellung der Hauptbelastungszeugin auch nur zu erwähnen. Es liegt der Verdacht nahe, dass damit von Anfang an eine Version festgeschrieben worden ist, die von allen Beteiligten und Zeugen als verbindlich angesehen werden sollte. Die Anwälte der Nebenklage sprechen vom Versuch einer „massiven Manipulation“ von Zeugen. Und das war nicht der einzige Versuch: Während des laufenden Prozesses fand im Polizeirevier ein Zeugeninformationstreffen statt, in dem es um Verhaltensregeln und etwaige Falschaussagen von Seiten einzelner Polizeibeamter ging. Anwesend waren Polizisten, die bereits vor Gericht ausgesagt hatten und solche, denen die Vernehmung noch bevor stand. Es ist mehr als anrüchig, generell geschulte Polizeibeamte ausgerechnet anlässlich eines solchen Prozesses und während der laufenden Vernehmungen speziell hierauf vorzubereiten.

11.    Geprägt von Ermittlungspannen, verschwundenen Beweisen, Ungereimtheiten: Erst auf die Initiative von Freunden des Verbrannten konnte eine zweite Obduktion von Oury Jalloh durchgeführt werden, die einen Nasenbeinbruch und eine Mittelohrverletzung zu Tage förderte – Verletzungen, die Jalloh vor seinem Feuertod erlitten haben musste. Auf mysteriöse Weise sind im Laufe der Jahre Beweismittel verschwunden, so etwa eine der Handschellen und auf einem Videoband zur Spurensicherung fehlten entscheidende Passagen. Hier nicht an bewusste Beweismittelunterdrückung zu denken, fällt schwer. Die Geschichte um das ominöse Feuerzeug ist auch nach Abschluss des Verfahrens mysteriös geblieben. Offen geblieben ist, warum das verschmorte Feuerzeug so spät (bei einer zweiten Zellendurchsuchung) gefunden wurde, wo und von wem? Wie war es trotz vorheriger gründlicher Leibesvisitation von Oury Jalloh in die Zelle gelangt und wie soll ein vollkommen fixierter Mensch eine feuerfest ummantelte Matratze entzünden? Oder gab es alternative Geschehensabläufe, denen das Gericht nicht genügend nachgegangen ist? All diese Fragen sind auch nach diesem langen Verfahren ungeklärt.

 

III. Gesamteinschätzung und Fazit

Dieser Fall eines unglaublichen Polizeiskandals und seine justizielle Aufarbeitung sind geprägt von Ungereimtheiten und Schlampereien, Gedächtnislücken und Lügen, Widersprüchen und Vertuschungen, unhaltbaren Hypothesen, verschwundenen Beweisstücken und unterlassenen Ermittlungen. Es gibt mehrere Strafanzeigen gegen Polizeizeugen wegen Falschaussagen. Bei dem Dessauer Mammutprozess handelt es sich zwar um ein bemerkenswertes Strafverfahren, dem es zu verdanken ist, dass die „Ermittlungspannen“ und „Wagenburgmentalität“ (Ulrich von Klinggräff), die skandalträchtigen Verhaltensweisen und Polizeistrukturen – kurz: die organisierte Verantwortungslosigkeit - auf dem Dessauer Polizeirevier zutage gefördert wurden. Gericht, Staatsanwalt­schaft und Nebenklage gaben sich - innerhalb eines eng gesteckten strafprozessualen Rahmens – offensichtliche Mühe, der Tragödie auf die Spur zu kommen und die strafrechtliche Verantwortung zu klären. Aber die Verfahrensbeteiligten scheiterten dennoch an dem öffentlichen Anspruch, den Fall wirklich und umfassend aufzuklären. Die Brandursache ist auch nach langen 22 Monaten und 58 Prozesstagen, nach zahlreichen widersprüchlichen Zeugenaussagen, aufwändigen Brand-Versuchs­anordnungen und Brandsachverständigen-Gut­achten nicht geklärt.

Manche fragen deswegen nach dem Sinn eines solchen Strafverfahrens, wenn es weder Aufklärung bringt noch die Verantwortlichen angemessen zur Rechenschaft zieht. Ist das nicht tatsächlich eine Farce, die rechtsstaatlichen Aufklärungswillen nur vortäuscht? Doch zu einem erheblichen Teil liegt dies am „systembedingt“ begrenzten Charakter von Strafprozessen, die nach formal-prozessua­len Regeln ablaufen und in denen es tatsächlich weder um "Wahrheit" noch um "Gerechtigkeit" geht (wie Manche immer noch glauben und hoffen) – allenfalls geht es um den Anschein, strenggenommen nur um eine forensische, also eingeschränkte „Wahrheit“, die nicht selten zur Verfälschung neigt. Die Geschehnisse werden aus den Gesamtumständen herausisoliert, strafprozessual „kleingearbeitet“ und auf die konkret angeklagten Personen fokussiert.

Und so sind im vorliegenden Fall - angesichts der angeklagten, aber nicht bewiesenen und auch wenig plausiblen These von der Selbstanzündung durch Oury Jalloh – alternative Geschehensabläufe und Verantwortlichkeiten weitgehend aus dem gerichtlichen Blick geraten. So konzentrierten sich die Bemühungen auf die Rekonstruktion des Brandverlaufs und auf die Bestimmung der Hitzeentwicklung nach Ausbruch des Feuers – aber nicht auf die eigentlich entscheidende Frage, wie dieses Feuer tatsächlich ausgebrochen und wer dafür ursächlich verantwortlich war. Zumal die Matratze einen feuerfesten Bezug hatte, der erst mit einem scharfen Gegenstand aufgerissen werden musste, um die Matratzenfüllung über ein genügend großes Loch erreichen und entzünden zu können. Diese Fragen blieben im ganzen Strafverfahren, trotz mancher Anhaltspunkte, merkwürdig unterbelichtet – an Indizien und Schlussfolgerungen mangelte es nicht, aber an greifbaren Beweisen für ein bewusstes Tötungsdelikt oder gar Mord bezogen auf die Angeklagten.

Die Hauptanstrengungen des Gerichts galten also der Aufarbeitung der Phase nach Brandlegung. Bei all den notwendigen Überprüfungen, ob der Angeklagte M. nachlässig gehandelt und der Hauptangeklagte Sch., aus welchen Motiven auch immer, nicht rechtzeitig gehandelt hatte – wofür vieles spricht – darf die alles entscheidende Fragestellung nicht vergessenen werden, wie es überhaupt zu dieser Tragödie eines Verbrennungstodes im Polizeigewahrsam kommen konnte und dass dafür letztlich die Ingewahrsamnahme Oury Jallohs und seine Fixierung an Händen und Füßen eine nicht hinwegzudenkende Bedingung war. Er ist von den verantwortlichen Polizeibeam­ten, nicht zuletzt vom Hauptangeklagten, erst in eine solch brenzlige Lage gebracht worden – eine Lage ohne ausreichende Kontrolle, die von Sachverständigen im Verfahren als gefährlich und verantwortungslos bezeichnet wurde – und die für Jalloh zur ausweglosen Falle wurde.

Dieser Prozess und die zu erwartende Entscheidung dürfen nicht das letzte Wort sein. Wir fordern eine angemessene Entschädigung der Familie des im Polizeigewahrsam verbrannten Oury Jalloh – für diesen Verbrennungstod haben die Polizei und damit das Land Sachsen-Anhalt die Verantwortung zu übernehmen (selbst wenn das Gericht die angeklagten Polizeibeamten mangels Beweises oder nach dem Grundsatz in dubio pro reo freisprechen oder gar das Verfahren gegen Auflage einstellen sollte).

Wir halten es, ähnlich wie die „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“, für notwendig, alle Todesfälle im Polizei- und Abschiebegewahrsam und aufgrund von Polizeigewalt der letzten Jahre  von einer unabhängigen internationalen Experten-Kommission untersuchen zu lassen. Denn es kommt immer wieder vor, dass Angehörige sozialer Randgruppen, darunter Obdachlose, Drogenabhängige und besonders Flüchtlinge in Polizeigewahrsam und in Abschiebehaft schwer verletzt werden oder gar ums Leben kommen; häufig bleiben solche Fälle unaufgeklärt und ungesühnt. Nach einer Studie der Universität Halle starben zwischen 1993 und 2003 bundesweit 128 Menschen im Polizeigewahrsam; dabei hätte jeder zweite Tod verhindert werden können.

Aus dem gravierenden Befund einer organisierten Verantwortungslosigkeit, wie er sich aus dem Verfahren ergab, müssen dringend politische Konsequenzen gezogen werden – etwa was personelle Verantwortlichkeiten, Qualität gewahrsamsärztlicher Untersuchungen und Menschenrechtsbildung anbelangt. Zu fordern ist darüber hinaus, strukturelle Missstände bei der Polizei transparent zu machen und Fehlentwicklungen auch mit Hilfe von unabhängigen Kontrollinstitutionen, wie einem Polizeibeauftragten mit besonderen Kontrollbefugnissen, zu begegnen. (R.G.)