Rolf Gössner         

Wie der „Aufstand der Anständigen“ scheiterte

aus: Ossietzky 7/2003, S. 238 ff.

 

Als das Bundesverfassungsgericht am 18. März 2003 das Parteiverbotsverfahren gegen die NPD einstellte, war das keine große Überraschung mehr. Trotzdem bedarf es einer Nachbetrachtung.

Drei Stolpersteine brachten den Prozess zu Fall: 1. Die Verfassungsschutzbehörden hatten die rechtsextreme Partei mit zahlreichen bezahlten V-Leuten auf allen Führungsebenen unterwandert, 2. die Antragsteller, also Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat, hatten Aktivitäten und Aussagen dieser V-Leute zur Begründung ihrer Verbotsanträge heranzogen, und 3. hatten sie das Gericht hiervon nicht rechtzeitig unterrichtet. Daraus ergaben sich Verfahrenshindernisse, die zur Einstellung des Verfahren zwangen – so jedenfalls sahen es drei Verfassungsrichter, die eine ausschlaggebende Sperrminorität im zuständigen Senat des Verfassungsgerichts bildeten.

Nach Auffassung dieser Richter sind die Antragsteller ihrer Verfahrensverantwortung und den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht geworden. Sie hätten Personen als Belastungszeugen in das Verfahren eingeführt, die „mit ihren Äußerungen das Bild einer verfassungswidrigen Partei mitprägten“ und gleichzeitig nachrichtendienstliche Kontakte zum Verfassungsschutz unterhielten – ohne offen zulegen, wem die jeweiligen Äußerungen zuzurechnen sind, etwa jene antisemitischen Ausfälle des führenden NPD-Funktionärs Wolfgang Frenz, die in den Verbotsanträgen eine zentrale Rolle spielten; Frenz war der dienstälteste V-Mann des Verfassungsschutzes und hatte für diese Tätigkeit einen hohen sechsstelligen Betrag aus der Staatskasse bezogen. Noch unmittelbar vor und nach Einreichung der Verbotsanträge waren, wie die Richter monierten, V-Leute in den NPD-Vorständen aktiv, unter ihnen V-Mann Udo Holtmann, der noch ein Jahr nach Eröffnung des Verbotsverfahrens im Bundesvorstand der NPD saß. In jener Zeit habe der Geheimdienst sogar noch versucht, Funktionäre aus der NPD als V-Leute anzuwerben. Möglicherweise hätten V-Leute in Führungsfunktion der Partei sogar die Verteidigungsstrategie der NPD ausspähen und an den VS verraten können – wobei es den Richtern nicht darauf ankam, dass eine solche Ausspähung tatsächlich stattgefunden hatte. Schon die Gefahr des Verrats reichte ihnen aus, um ein unüberwindliches Verfahrenshindernis anzunehmen.

Ein Leitsatz der Richter lautet: Die Beobachtung einer politischen Partei durch V-Leute sei in der Regel dann mit den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren unvereinbar, wenn diese V-Leute unmittelbar vor und während der Durchführung eines Parteiverbotsverfahrens als Mitglieder des Bundesvorstands oder eines Landesvorstands fungieren. Denn: „Staatliche Präsenz auf der Führungsebene einer Partei macht Einflussnahmen auf deren Willensbildung und Tätigkeit unvermeidbar“. Die Rolle als führendes Parteimitglied habe „notwendig zur Folge, dass jedwede politische Aktivität wie Passivität Willensbildung und außenwirksames Erscheinungsbild der Partei mit beeinflussen“. V-Leute in Führungspositionen wirkten zwangsläufig als „Medien staatlicher Einflussnahme“, erst recht im Fall einer „massiven staatlichen Präsenz“ – bekanntlich tummelten sich in den Vorstandsetagen der NPD etwa 30 V-Leute, das sind 15 Prozent aller Funktionäre, oder anders ausgedrückt: Jeder siebte war ein Spitzel. Die VS-Behörden hätten spätestens mit der öffentlichen Bekanntmachung ihrer Absicht, einen Verbotsantrag zu stellen, ihre Quellen in den Vorständen „abschalten“ müssen. Durch die Art und Intensität der Beobachtung sei das „Verfassungsgebot der strikten Staatsfreiheit“ der Führungsebene sowie des eingereichten Tatsachenmaterials von den Antragstellern rechtsstaatswidrig verfehlt worden.

Das verfassungsgerichtliche Parteiverbot, „die schärfste und überdies zweischneidige Waffe des demokratischen Rechtsstaats“, so lautet ein zweiter Leitsatz der Entscheidung, brauche „ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, Transparenz, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit des Verfahrens“. Diese Maximen, die zu den Grundfesten des Rechtsstaats gehören, hätten die Antragsteller sträflich missachtet.

Angesichts dieses „Verfassungsverstoßes von erheblichem Gewicht“ zog das Gericht konsequenterweise die Notbremse. Damit verhinderte es, dass aus dem Verbotsprozess ein Geheimverfahren wurde, aus dem die Öffentlichkeit und die NPD aus Gründen des „Quellenschutzes“ und des „Staatswohls“ ausgeschlossen worden wären. Schließlich wollten die Antragsteller bis zuletzt die involvierten V-Leute geheim halten und ihre offene Vernehmung in einem rechtsstaatlich korrekten Verfahren torpedieren – und damit den Anspruch der Prozessbeteiligten auf Akteneinsicht und rechtliches Gehör. Wären sie damit durchgedrungen, hätte sich wieder einmal gezeigt, dass rechtsstaatlich-faire Verfahrensbedingungen nicht mit geheimer Informationsbeschaffung und Geheimhaltungszwängen zusammen passen – schon gar nicht in einem Prozess, in dem der Rechtsstaat gegen verfassungswidrige Bestrebungen verteidigt werden sollte.

Mit seiner Verfahrenseinstellung hat das Bundesverfassungsgericht gleichzeitig ein vernichtendes Urteil über die V-Mann-Praxis des VS, über die Qualität der Verbotsanträge und das Verhalten der Antragsteller gefällt. Für dieses politische Desaster tragen die Antragsteller die alleinige Verantwortung. Sie waren ursprünglich ausgezogen, als Anführer des „Aufstands der Anständigen“ die NPD zu delegitimieren und damit einen schweren Schlag gegen den Rechtsextremismus zu landen. Doch sie haben nicht nur dieses Ziel verfehlt, sondern mit ihrem unverantwortlichen Taktieren auch dem „demokratischen Rechtsstaat“, den sie eigentlich schützen wollten, einen schweren Schlag versetzt – und sämtlichen antirassistischen Bemühungen gleich mit.

Die Antragsteller haben der rechtsextremen NPD zu einem Triumph verholfen. Jetzt können deren Funktionäre die Karlsruher Entscheidung wie einen Freispruch feiern, wie einen selbst verdienten Sieg, den sie prompt mit „1 : 0 für Deutschland, Herr Schily“ (PM vom 18.3.02) verbuchen – obwohl das Gericht keinerlei Sachentscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Partei getroffen hat. Aber auch Verfassungsschützer atmen hörbar auf: Sie können ihre V-Mann-Stützpunkte und ihr symbiotisches Verhältnis zur NPD weiter aufrechterhalten; außerdem müssen sie nun nicht befürchten, dass weitere Staatsgeheimnisse gelüftet werden und ihr mühevoll gesponnenes Netz weiter Schaden nehmen könnte. NPD-Anwalt Horst Mahler ging sogar so weit zu behaupten, „interessierte Kreise“ hinter den Antragstellern (gemeint sind wohl Verfassungsschützer) hätten den Komplex Frenz/Holtmann absichtlich als „tickende Zeitbombe“ in die Antragskonstruktion eingebaut, um den Verbotsprozess zu sabotieren. Tatsächlich hatten viele Verfassungsschützer von Anfang an ein NPD-Verbot abgelehnt.

Unabhängig von den Befindlichkeiten der Akteure steht zu befürchten, dass das gesamte rechte Lager gestärkt aus dieser V-Mann-Affäre hervorgeht. Das würde die gesellschaftliche Ächtung und politische Auseinandersetzung mit den Neonazis erheblich erschweren. Die NPD kann nun ihre rassistische Politik fortsertzen, kann weiter Demonstrationen organisieren, Propaganda betreiben, das gewaltbereite Spektrum an sich binden und möglicherweise auch staatliche Wahlkampfgelder kassieren – während ihr gleichzeitig in VS-Berichten „Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus“ und eine „offen vorgetragene Feindschaft gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ bescheinigt wird. Um so mehr sind jetzt die nichtstaatliche Kräfte gefordert, das rechte Treiben mit politischen Mitteln zu bekämpfen – ein lang vernachlässigtes Unterfangen, das durch eine Politik des Verbietens und Verdrängens eher behindert denn befördert wird.

Das Neonazi-Problem an einen Geheimdienst zu delegieren, bringt gleichfalls, wie sich zeigte, mehr Schaden als Nutzen. Mit seiner V-Mann-Verstrickung in die rechte Szene ist der Verfassungsschutz offenbar selbst Teil des Neonazi-Problems geworden; er hat nicht ansatzweise zu dessen Lösung beigetragen. Nun gilt es, eine rückhaltlose Schadensbilanz zu ziehen – nur der NPD-Connection des VS, sondern seiner vielfältigen Verstrickungen in die gesamte Neonazi-Szene. Die Strukturen und die Arbeit der VS-Behörden gehören auf den Prüfstand – ihre Aufgaben, Befugnisse und Methoden, aber auch ihre Effizienz, von der niemand auch nur eine leise Ahnung hat. Die Einsetzung eines Geheimdienstbeauftragten zur besseren Kontrolle, wie ihn die Bündnisgrünen mit einiger Berechtigung fordern, wird als Reformmaßnahme nicht ausreichen. Letztlich wird sich das V-Mann-Unwesen und das damit verbundene Geheimhaltungssystem nur aufbrechen lassen, wenn die systematische Anwendung dieser nachrichtendienstlichen Methode unterbunden, die erkennbar gewordene Symbiose von Verfassungsfeinden und Verfassungsschützern beendet wird. Die Überlegung, den Geheimdienst wegen Unvereinbarkeit mit Demokratie und rechtsstaatlichen Verfahren aufzulösen, ist wieder hochaktuell. Das wäre womöglich ein wirklich schwerer Schlag gegen die Neonazi-Szene, die über kriminelle V-Leute vom VS mitfinanziert und unterstützt wird.

Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist in Bremen, ist seit kurzem Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte in Berlin.

 

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