Cemal Altun war in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland der erste politische Flüchtling, der sich das Leben nahm, weil er
die Auslieferung an einen Folterstaat befürchten mußte. Am 30. August vor
zwanzig Jahren sprang der damals 23jährige Asylbewerber aus einem Fenster im sechsten
Stock des Verwaltungsgerichts in Berlin, wo gerade über seine Anerkennung als
Asylberechtigter verhandelt wurde. Der Bundesbeauftragte für
Asylangelegenheiten hatte Beschwerde gegen die bereits ausgesprochene
Anerkennung eingelegt. Anläßlich des Jahrestages wurde in verschiedenen Medien
an den Fall erinnert, doch die Vorgeschichte blieb meist ausgeblendet. Und die
Nachgeschichte auch.
Altun war Angehöriger der demokratischen Opposition in der
Türkei. 1981 mußte er das Land verlassen, weil Schergen der damaligen
Militärjunta ihn verfolgten. Er floh in die Bundesrepublik Deutschland, um sich
in Sicherheit zu bringen. Die damalige CDU/FDP-Bundesregierung verweigerte ihm
den Schutz, wollte ihn rasch loswerden und kooperierte zu diesem Zweck mit
seinen Häschern. Altun floh auf den Boden der „freiheitlich-demokratischen
Grundordnung“ und landete in einer vermeintlichen Freiheit, die ihn rasch
hinter Gitter brachte. Seine letzte Flucht endete tödlich. Sein Sturz in die
Tiefe war kein Freitod – denn er sah keinen anderen Ausweg aus seiner
bedrückenden Situation, in der er sich während seiner 13monatigen Auslieferungshaft
befand. Er stürzte sich in den Tod aus Verzweiflung, aus Angst vor Abschiebung
und drohender Folter in der Türkei. Und diese Verzweiflung, diese Angst waren
fleißig geschürt worden von verantwortlichen Regierungspolitikern wie dem
damaligen Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) und Justizminister
Hans A. Engelhard (FDP). Gnadenlos beharrten sie auf Altuns Auslieferung an die
Türkei – obwohl er im Juni 1983 vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge als Asylberechtigter anerkannt worden war. Schon „im Interesse der
Fortführung einer nach wie vor guten Zusammenarbeit mit der Türkei auf
polizeilichem Gebiet“ müsse Altun „unverzüglich“ ausgeliefert werden, so
schrieb Zimmermann am 21.7.1983 an den Justizminister, der sich ebenfalls für
den sofortigen Vollzug ausgesprochen und dafür den „Gleichbehandlungsgrundsatz“
bemüht hatte: Schließlich habe die Bundesregierung seit der Machtübernahme
durch das türkische Militär bereits 28 Flüchtlinge an die Türkei ausgeliefert.
Warum sollte es Altun also anders ergehen?
Die Internationale Liga für Menschenrechte hatte angesichts
dieser Gefahr schon frühzeitig auf das Schicksal Cemal Altuns aufmerksam
gemacht. Zusammen mit anderen politischen Kräften im In- und Ausland, zusammen
auch mit Altuns Anwalt Wolfgang Wieland forderte sie mit Beschwerden, mit
Eingaben an die verantwortlichen Regierungen und mit Demonstrationen vor dem Abschiebeknast
Altuns Freilassung und protestierte gegen die drohende Auslieferung, die dann
auch noch verhindert werden konnte; doch für Altun änderte sich nichts an den
menschenrechtswidrigen Verhältnissen in der Auslieferungshaft, nichts an der
Auslieferungsdrohung, nichts an seiner Angst und Verzweiflung. Sein Todessturz
markierte nicht nur das grausame Ende eines mehr als einjährigen Dramas,
sondern gleichzeitig auch das Scheitern aller solidarischen Bemühungen um seine
Freiheit und sein Leben – das Scheitern an einer bürokratischen Realpolitik.
Folgerichtig machte die Liga die Bundesregierung und die zuständigen Berliner Behörden
mitverantwortlich für Altuns Tod.
Konsequenterweise machte sich die damalige Liga-Präsidentin
Alisa Fuss dann für ein Mahnmal stark, das schließlich mit Unterstützung des
Bezirksamts Charlottenburg, der Bezirksbürgermeisterin Monika Wissel (SPD) und
einer Vielzahl von Spendern realisiert werden konnte. Seit Juni 1996 erinnert
dieses Denkmal aus Granitstein an die Tragödie. Die von Akbar Behkalam
geschaffene Skulptur zeigt einen kopfüber herabstürzenden Menschen mit
ausgestreckten Armen – ein Symbol für alle Asylsuchenden, die hierzulande
Schaden an Leib und Leben befürchten oder erleiden müssen.
Cemal Altuns Tod hat ein Fanal gesetzt – doch hat dieses
Fanal zu einem Umdenken in der Asylpolitik geführt oder gar eine Humanisierung
bewirkt? Nein – so lautet die klare und bedrückende Antwort. Auch die
Schicksale vieler anderer Migranten blieben folgenlos. Allein seit 1993 haben
sich weit über hundert Menschen aus Angst vor drohender Abschiebung getötet
oder sind bei dem Versuch gestorben, sich der Abschiebung zu entziehen. Jahr
für Jahr verlieren Menschen an den Grenzen, in Abschiebehaft oder bei der
gewaltsamen Abschiebung ihr Leben.
Die „Maschen im Grenzzaun“ um Europa und die Bundesrepublik
sind mittlerweile enger geflochten worden. Die Abschiebegründe wurden
erweitert. Die Situation im Abschiebegewahrsam hat sich nicht verbessert. Migranten
gehören schon lange zu der am intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe. Seit
2002 werden sie mit den neuen „Anti-Terror“-Gesetzen unter Generalverdacht
gestellt und einem noch rigideren Überwachungs- und Abschiebesystem
unterworfen. Sie sind die eigentlichen Verlierer des staatlichen
„Anti-Terror-Kampfes“. Die neuen Sicherheitsregelungen schaffen allerdings kaum
mehr Sicherheit, sondern sind dazu geeignet, Migranten zu stigmatisieren, ihren
Aufenthalt in Deutschland noch weiter zu erschweren und fremdenfeindliche
Ressentiments zu schüren. Ohne den geringsten Nachweis, daß von ihnen etwa mehr
Terror ausgehe als von Deutschen, werden sie zu einem gesteigerten Sicherheitsrisiko
erklärt und einer entwürdigenden Sonderbehandlung unterzogen, die für viele
existentielle Folgen haben kann – bis hin zu politischer Verfolgung, Folter und
Mord durch die Regime, denen sie zuvor entflohen waren.
Das Mahnmal ist auch den Opfern dieser Politik gewidmet. Es
wurde errichtet nahe dem ehemaligen Verwaltungsgericht an der Hardenbergstraße,
das über das Schicksal von Asylbewerbern zu entscheiden hatte und Altun posthum
als Asylberechtigten anerkannte. Solche Mahnmale müßten längst an ganz anderen
Orten angebracht werden, dort nämlich, wo die Leitlinien der Ausländer- und Asylpolitik
entschieden wurden und werden: so etwa in Bonn am ehemaligen Bundestag, wo
1993, also vor zehn Jahren, von einer großen Koalition aus CDU/FDP und SPD die
Demontage des Asylgrundrechts beschlossen wurde; an Innenministerien,
Ausländerämtern und Abschiebeknästen, wo die restriktive Ausländer- und
Asylpolitik umgesetzt und nicht eben selten die Menschenwürde der Betroffenen
verletzt wird.
Der staatliche Umgang mit
traumatisierten und gefährdeten Menschen muß gründlich überdacht und verändert
werden. Abschiebungen in Folterstaaten und Kriegsgebiete darf es nicht länger
geben. Übermäßig lange Abschiebehaft, unzumutbare Haftbedingungen, die
Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen und
die gewaltsame Trennung von Familien sind ein Skandal; die praktizierte Abschiebehaft,
also die Inhaftierung ohne Straftat, ohne eigenes schuldhaftes Handeln, ist
prinzipiell ein Verstoß gegen Menschenrechte und gehört abgeschafft. Das
Asylrecht ist ein Menschenrecht – es muß immer wieder von neuem erkämpft
werden.
Rolf
Gössner ist Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte.