Internationale Prozessbeobachtung
Staatsschutz-Prozess
gegen Berlinerin vor spanischen Gericht
Ende
November 2004 beginnt vor dem höchsten spanischen Gericht Audiencia Nacional in
Madrid der Prozess gegen die deutsche Staatsangehörige Gabriele Kanze aus
Berlin. Die Angeklagte war aufgrund eines internationalen Haftbefehls von der
Schweiz an Spanien ausgeliefert worden und wird seit über zwei Jahren in
Auslieferungs- und U-Haft in der Schweiz und jetzt in Spanien festgehalten. Ihr
wird Eta-Unterstützung vorgeworfen: Sie habe eine Wohnung in Barcelona angemietet
und dort Sprengstoff besessen – Vorwürfe, die in einem bundesdeutschen
Ermittlungsverfahren längst widerlegt worden sind (Einstellung des Verfahrens
mangels Tatverdacht). Kanze war zur angeblichen Tatzeit seit Monaten nicht mehr
in ihrer Wohnung in Spanien, sondern arbeitete und wohnte in Berlin.
Die
belastenden Aussagen gegen sie und ihren Ehemann Benjamin Ramos Vega stammen
von einem Zeugen, der von der spanischen Polizei gefoltert worden war. Vega
wurde bereits 1996 von Berlin an Spanien ausgeliefert und in einem „Terroristenprozess“
zu neun Jahren Haft verurteilt, inzwischen allerdings vorzeitig freigelassen.
Wegen
der Auslieferungs- und Folterproblematik, die in diesem Verfahren eine zentrale
Rolle spielen wird, ist eine Delegation zusammengestellt worden, um diesen
Prozess zu beobachten und die Öffentlichkeit darüber zu informieren.
Rolf
Gössner wird für die Liga zusammen u.a. mit dem Politikwissenschaftler
Wolf-Dieter Narr, der Berliner PDS-Abgeordneten Marion Seelig, einem Schweizer
Anwalt und zwei Journalisten an der Prozessbeobachtung teilnehmen und im
nächsten Liga-Report berichten.
Liga-Präsident Dr. Rolf
Gössner:
„Es gibt erhebliche Zweifel an einem fairen Strafverfahren gegen die Angeklagte,
zumal belastende Aussagen unter Folter zustande kamen.“
Zusammen
mit einer Abgeordneten und Vertretern anderer Bürgerrechtsorganisationen beobachtet
die Internationale Liga für Menschenrechte in der kommenden Woche (ab
29.11.2004) einen brisanten Strafprozess gegen die deutsche Staatsbürgerin
Gabriele Kanze vor dem spanischen Sondergericht Audiencia Nacional in Madrid. Liga-Präsident
Dr. Rolf Gössner, der an der Delegation zur Prozessbeobachtung teilnehmen wird,
will vor Ort überprüfen, ob Gabriele Kanze ein fairer Prozess gemacht wird.
Folgende Punkte lassen hieran nach Auffassung der Liga Zweifel aufkommen:
Die 48jährige Lehrerin Gabriele Kanze
ist bereits im März 2002 in der Schweiz verhaftet und im Januar 2003 an Spanien
ausgeliefert worden und sitzt seither in Untersuchungshaft. Damit verbringt sie
mittlerweile zwei Jahre und acht Monate in Auslieferungs- und Untersuchungshaft.
Eine solch lange Haftzeit ohne Urteil ist mit den internationalen Menschenrechtskonventionen
kaum vereinbar und bedeutet eine vorweggenommene Strafe.
Die Staatsanwaltschaft greift in
ihrer Anklage auf belastende Aussagen eines Mannes zurück, der während der in
Spanien zulässigen „incomunicado“-Haft (ohne jeden Kontakt nach außen) gefoltert
wurde. Diese unter Folter entstandenen Aussagen müssten nach internationalem
Recht einem Verwertungsverbot unterliegen. Noch immer gibt es in Spanien zahlreiche
Fälle, in denen von Folter und Misshandlungen in Haft berichtet wird (vgl.
Jahresbericht 2004 von Amnesty International zu Spanien).
Der ehemaligen Austauschlehrerin G.
Kanze wird die Anmietung einer Wohnung in Barcelona im Jahr 1993 vorgeworfen.
In dieser sollen sich später Mitglieder der baskischen Untergrundorganisation
ETA aufgehalten haben sowie Waffen- und Sprengstoff gefunden worden sein. Die
Staatsanwaltschaft fordert eine Strafe von insgesamt 22 Jahren Freiheitsentzug
– obwohl das Bundeskriminalamt bereits zu diesen Vorwürfen umfangreiche
Ermittlungen auch in Spanien durchgeführt hatte und die Berliner
Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren 1998 wegen mangelnden Tatverdachts
einstellte. Tatsächlich hatte Gabriel Kanze zur angeblichen Tatzeit in Berlin
gelebt.
„Aufgrund
der schwerwiegenden prozessualen Probleme gibt es erhebliche Zweifel an einem
fairen Strafverfahren gegen die Angeklagte – zumal die sie belastenden Aussagen
unter Folter zustande kamen und entlastende Beweise bislang kaum zur Kenntnis
genommen werden,“ gibt Rolf Gössner zu bedenken. „Es muss unbedingt verhindert
werden, dass Gabriele Kanze zu Unrecht verurteilt wird.“ Deshalb ist auch die
deutsche Botschaft in Spanien, die den Prozess ebenfalls beobachten lässt, gefordert,
genau darauf zu achten, dass die Angeklagte ein faires Verfahren erwartet.
Zu Ihrer Information ist auf Seite 2 die Erklärung der Prozessbeobachtungskommission vom 23.11.2004 dokumentiert.
Unrecht verhindern!
KOMMISSION
ZUR BEOBACHTUNG DES PROZESSES
GEGEN GABRIELE KANZE
Am
29.November 2004 wird vor dem spanischen Sondergericht Audiencia Nacional in Madrid
der Prozess gegen die deutsche Staatsbürgerin Gabriele Kanze beginnen. Gabriele
Kanze wurde im März 2002 in der Schweiz verhaftet und im Januar 2003 an das
Königreich Spanien ausgeliefert, wo sie seither in Untersuchungshaft sitzt. Sie
wird der Unterstützung einer „bewaffneten Bande“ sowie der Lagerung von Kriegswaffen
und Sprengstoff angeklagt. Die Staatsanwaltschaft fordert eine Strafe von
insgesamt mindestens 22 Jahren Haft.
Wir –
Abgeordnete, Mitglieder und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen,
Strafverteidigervereinigungen und Gewerkschaften aus Deutschland – halten es
für dringend geboten öffentlich zu prüfen, ob der Angeklagten das Recht auf ein
faires Verfahren gewährt wird. Wir werden den Prozess gegen Gabriele Kanze
beobachten.
Wir haben
uns zu diesem Schritt entschlossen, weil wir feststellen mussten, dass bei der
Anklageerhebung durch die spanische Generalstaatsanwaltschaft auf Aussagen
zurückgegriffen wurde, die unter Folter entstanden sind; dass aber andererseits
entlastende Umstände, Zeugenaussagen und Ermittlungsergebnisse nicht
berücksichtigt wurden. Dies sind insbesondere:
Zeugenaussagen:
Mehrere
Personen versichern, dass sich Gabriele Kanze zum Zeitpunkt ihrer angeblichen
Straftat 1994 nicht in Barcelona aufhielt, sondern in Berlin studierte und arbeitete.
Urteile:
Der
Ehemann von Gabriele Kanze, Benjamin Ramos Vega: Er wurde 1997 im gleichen Verfahrenskomplex
ebenfalls angeklagt, eine Wohnung in Barcelona angemietet zu haben, in der sich
später ETA-Mitglieder aufhielten. Er wurde zwar auf Grund anderer Delikte
verurteilt, aber in diesem Anklagepunkt mit der Begründung freigesprochen, dass
die Anmietung einer Wohnung keine strafbare Handlung darstelle, wenn Dritte zu
einem späteren Zeitpunkt ohne Wissen des Mieters dort Waffen und Sprengstoff lagerten.
Ermittlungsergebnisse:
Die
spanischen Strafverfolgungsorgane traten das Ermittlungsverfahren gegen die in
Berlin wohnhafte Gabriele Kanze an Deutschland ab. Das Bundeskriminalamt führte
eine umfangreiche Ermittlung auch in Spanien. 1998 wurde dieses Verfahren wegen
mangelnden Tatverdachts eingestellt. Der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“
muss immer und ohne Einschränkung gelten. Im Licht der Tatsachen sind Zweifel
an der Schuld von Gabriele Kanze besonders angebracht. Gabriele Kanze hat bereits
zwei Jahre und sieben Monate in Auslieferungs- und Untersuchungshaft verbracht.
Wegen des gegen sie geführten Ermittlungsverfahrens kann sie seit 1997 ihren in
Spanien inhaftierten Ehemann nicht besuchen. Mit einer vorbehaltlosen Beweiswürdigung
kann das Gericht entstandenes Leid nicht wieder gut machen; wohl aber
verhindern, dass Gabriele Kanze ein noch größeres Unrecht zugefügt wird.
Marion
Seelig (MdA), Stellvertretende
Vorsitzende der PDS-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus; Rechtsanwältin
Silke Studzinsky, Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein und
Berliner Strafverteidigervereinigung; Constanze Lindemann, Vorsitzende
ver.di Fachbereich Medien, Kunst und Industrie Berlin-Brandenburg; Rechtsanwalt
Dr. Rolf Gössner, Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte; Prof.
Dr. Wolf-Dieter Narr, Komitee für Grundrechte und Demokratie; Otto
Pfeiffer, Botschafter a.D.
Erklärung der internationalen Delegation
zum Ende des Verfahrens gegen Gabriele Kanze
Der Prozess gegen die deutsche Staatsangehörige
Gabriele Kanze, der heute am 29.11.04 vor der Audiencia Nacional in Madrid
begann, endete nach nur wenigen Stunden mit der Entscheidung, sie nach 2 Jahren
und acht Monaten aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Sie wurde zu einer
Strafe von 2 Jahren und acht Monaten verurteilt, die durch die bereits
erlittene Auslieferungs- und Untersuchungshaft verbüßt ist. Damit entspricht
der vom Gericht festgestellte Schuldumfang „rein zufällig“ der Dauer der
bereits erlittenen Haft.
Dieses Ergebnis
kam zustande, weil die Staatsanwaltschaft vor Prozessbeginn anbot, wesentliche
Teile der Anklage fallen zu lassen, nämlich Waffen-und Sprengstoffbesitz, wenn
Gabriele Kanze auf eine weitere
Beweisaufnahme verzichten und eine Verurteilung wegen Unterstützung einer „bewaffneten
Bande“ akzeptieren würde. Im Gegenzug dafür sollte sie sofort freigelassen
werden. Die Strafe sollte der bereits erlittenen Haftdauer entsprechen.
Dieses Angebot
kam, ohne dass sich an dem zugrunde liegenden Sachverhalt irgendetwas geändert
hatte. Es blieb der Anklagevorwurf der Unterstützung einer bewaffneten Bande,
für den das Gesetz eine Mindeststrafe von sechs Jahren vorsieht. Da die Tat auf
Bitten ihres Freundes und jetzigen Ehemannes begangen worden sein soll,
reduzierte das Gericht diese Mindeststrafe.
Gabriele Kanze
und ihre Verteidigerinnen haben dieses Angebot akzeptiert. Die Erfahrung vor
dem spanischen Sondergericht Audiencia Nacional zeigt, dass eine Verurteilung
selbst aufgrund einer einzigen unter Folter erpressten Aussage übliche Praxis
ist. Damit war das Risiko einer Verurteilung zu einer wesentlich höheren Strafe
zu groß.
Wir sind der
Auffassung, dass mit diesem Urteil nicht Recht gesprochen wurde.
Schon die Auslieferung von Gabriele
Kanze durch die Schweiz an Spanien wurde durch unhaltbare Vorwürfe –
angeblicher Sprengstoff- und Waffenbesitz – rechtsmissbräuchlich von der
spanischen Staatsanwaltschaft durchgesetzt.
Die Berliner Staatsanwaltschaft hatte das Ermittlungsverfahren in allen diesen Punkten bereits mangels Tatverdachts eingestellt. Wie windig die Beweislage tatsächlich von Anfang war, zeigt, dass diese Punkte jetzt von der spanischen Staatsanwaltschaft selber fallen gelassen wurden.
Die Auslieferung erfolgte trotz der Tatsache, dass die belastenden Aussagen gegen Gabi Kanze unter Folter zustande gekommen waren.
Die in Spanien zulässige Untersuchungshaft von zwei Jahren ohne Überprüfung und eine weitere Verlängerung bis zu vier Jahren, ohne dass die Dauer mit Ermittlungshandlungen begründet werden muss, ermöglicht es, Untersuchungshaft als Strafhaft zu missbrauchen.
Wir sind
erleichtert, dass Gabriele Kanze freigelassen wird. Diese Freilassung erfolgt
2
Jahre und acht Monate zu spät.
Madrid, den 29.11.2004
Marion Seelig(MdA), Stellvertretende Vorsitzende der
PDS-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus
Silke Studzinsky,
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein und Berliner Strafverteidigervereinigung
Constanze Lindemann, Vorsitzende
ver.di Fachbereich Medien, Kunst und Industrie Berlin-Brandenburg
Dr. Rolf Gössner, Präsident der
Internationalen Liga für Menschenrechte/Bremer Rechtsanwalt
Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr, Komitee für
Grundrechte und Demokratie
Otto Pfeiffer, Botschafter a..D.
Marcel Bosonnet, Demokratische Juristinnen und Juristen
der Schweiz und Anwalt in Zürich