DER V-MANN-FALL MANFRED REICH

Bremer Anwalt will Fehler des Thüringer Verfassungsschutzes nicht ausschließen



Der Bremer Anwalt und Publizist Rolf Gössner.



Der Zella-Mehliser V-Mann Manfred Reich wollte - nach eigener Aussage - schon seit längerem aus der Szene aussteigen, sei aber immer wieder hingehalten worden. Inwieweit ist dem Thüringer Landesamt hier ein Fehler unterlaufen? Der Bremer Anwalt und Publizist Rolf Gössner will jedenfalls Fehler des Thüringer Verfassungsschutzes bei der V-Mann-Führung nicht ausschließen. Was könnten die langfristigen Folgen sein?

Ein V-Mann sitzt daheim, ist verbittert über seine Auftraggeber und gibt freimütig Interviews. Abseits der Schuldfrage: Ist dem Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz da ein Fehler unterlaufen?

Rolf Gössner: Im Fall des V-Manns Manfred Reich ist diese Frage schwer zu beantworten, da wir im wesentlichen nur seine eigene Version kennen. Wenn wir seine Aussagen als wahr unterstellen, dann hätten sich das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLV) und sein V-Mann-Führer in zentralen Punkten pflichtwidrig verhalten.

Inwiefern?

Rolf Gössner: Wenn sich ein ausstiegswilliger V-Mann mehrfach an den Verfassungsschutz (VS) wendet, um Hilfe zu erhalten, und dennoch keinerlei Unterstützung erfährt, dann verstößt der VS gegen die eigenen Dienstvorschriften sowie gegen Fürsorgepflichten, die aus dem V-Mann-Verhältnis resultieren.

Welche Pflichten sind das?

Rolf Gössner: Wenn V-Leute aus ihrer Funktion als bezahlte Spitzel beziehungsweise aus der braunen Szene aussteigen wollen, dann müsste ihnen ihr Auftraggeber, also der VS, schon aus Fürsorgegründen jede Hilfe gewähren, um den Ausstieg zu ermöglichen und Schutz zu gewähren. Das gilt ganz besonders, wenn ein V-Mann aus der von ihm bespitzelten Szene bedroht wird und er kurz vor der Enttarnung steht. Sobald erhöhte Sicherheitsrisiken vorliegen, ist dies ein triftiger Grund für die unverzügliche „Abschaltung“ der V-Person. Hier scheint das TLV versagt zu haben.

Kommt das öfter vor?

Rolf Gössner: Dieses „Versagen“ hat bei Geheimdiensten ein gewisses System: Wenn der VS in der zu beobachtenden Szene oder in verdächtigen Parteien V-Leute erst mal rekrutiert und jahrelang erfolgreich platziert hat, dann will er in aller Regel auch weiter langfristig an ihnen festhalten, solange sie eben „wertvolle“ Informationen liefern. In dieses Muster passt die Aussage des V-Mannes, der VS habe ihn immer wieder gedrängt, nicht aufzuhören.

Also Selbstenttarnung als letztes Mittel?

Rolf Gössner: Dass sich Manfred Reich mangels amtlicher Hilfe genötigt gesehen hat, sich selbst als V-Mann in der Öffentlichkeit zu outen, ist zwar verständlich, macht seine Situation aber nicht besser. Zwar hat er mit der Selbstenttarnung zwingend seine „Abschaltung“ erreicht, aber damit sich selbst auch in erhöhte Gefahr gebracht, seine V-Mann-Pflicht zur „Verschwiegenheit gegenüber Jedermann“ verletzt und sich möglicherweise sogar wegen Geheimnisverrats strafbar gemacht. Dennoch: Der VS kann in diesem Fall nicht aus seiner Verantwortung entlassen werden.

Nun sagt Manfred Reich, er habe Angst. Ist seine Angst vor der Szene berechtigt?

Rolf Gössner: Bedrohungen aus der Neonazi-Szene sind durchaus ernst zu nehmen, wenn der Ex-V-Mann die Rache seiner „Opfer“ fürchten muss. Dazu müsste der VS zunächst eine Gefährdungsanalyse vornehmen. Sollten sich dabei tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Gefahr für Leib und Leben der betreffenden Person oder ihrer Angehörigen ergeben, dann wäre es wohl angezeigt, die gefährdeten Personen in ein Schutzprogramm aufzunehmen. Zu dieser Fürsorge ist der Staat verpflichtet, schließlich geraten V-Leute wegen ihrer anrüchigen Geheimtätigkeit für den VS in eine solche Gefahrenlage.

Nun wissen wir nicht, ob eine solche Analyse vorgenommen wurde. Ist der Wunsch von Herrn Reich, er wolle woanders mit neuem Namen und neuem Job beginnen, berechtigt?

Rolf Gössner: Nicht selten bekommen ausgestiegene und enttarnte V-Personen eine neue Identität verpasst, wenn sie erheblich gefährdet sind: Dazu gehören Tarndokumente, also amtlich gefälschte Ausweispapiere sowie eine neue Lebenslegende. Hierfür müssen gegebenenfalls Urkunden wie Führerscheine oder Zeugnisse gefälscht werden - mitunter aber auch die Gesichtszüge im Zuge einer gesichtschirurgischen Operation. Vielfach ist ein Wohnungswechsel an einen sicheren Ort nicht zu umgehen, auch Hilfen zum Lebensunterhalt oder Jobs werden mitunter angeboten.

Das kann ins Geld gehen ...

Rolf Gössner: ... das wird dann richtig teuer und kann im Einzelfall in die Hunderttausende gehen. Aber das sind eben die Folgekosten dieser hochproblematischen Geheimmethode. Inwieweit die Gefährdung von Manfred Reich tatsächlich so geartet ist, dass solche weitreichenden und kostspieligen Maßnahmen gerechtfertigt sind, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis.

Generell: Darf Nachsorge für ehemalige V-Leute am Geld scheitern?

Rolf Gössner: Eigentlich nicht. Zwar müssen die Maßnahmen und Kosten angemessen, also verhältnismäßig sein. Aber wir müssen uns bei diesen Fällen vor Augen halten: Es handelt sich um Personen, die sich in staatlichem Auftrag in eine Gefahrenlage mit individuell unkalkulierbarem Risiko begeben haben. Die zahlreichen Fälle aufgeflogener V-Leute zeigen letztlich, wie der VS und damit der Staat Menschen systematisch instrumentalisiert, gerade in rechtsextremen Szenen teilweise in brandgefährliche Lebenslagen und oft ausweglose Situationen manövriert. Die betroffenen Menschen, so dubios ihre Rolle und ihr Eigeninteresse auch immer sein mögen, werden auf diese Weise zu bloßen Objekten staatlicher Sicherheitspolitik gemacht – ein Vorgang, der keineswegs dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht und deshalb strenggenommen verfassungswidrig ist. Diese Einwände gelten prinzipiell für jeden systematischen Einsatz von geheimdienstlichen V-Leuten.

Halten Sie es für denkbar, dass künftig potentielle V-Leute sich vom Fall Reich in ihrer Entscheidung zur Mitarbeit negativ beeinflussen lassen?

Rolf Gössner: Selbstverständlich haben solche Fälle auf andere V-Leute oder auf potentielle Informanten einen negativen Einfluss – negativ in dem Sinne, dass sie Angst haben, im Falle von Bedrohung und Enttarnung vom VS im Stich gelassen zu werden. Die größte Angst löst bei den meisten V-Leuten - neben Drohungen und körperlichen Angriffen - die Vorstellung aus, vom eigenen sozialen Umfeld, das in der Regel aus Szeneangehörigen besteht, konsequenterweise als „Verräter“ und Denunzianten geächtet zu werden - wie es dem Ehepaar Reich ja wohl inzwischen passiert. Das bedeutet in aller Regel die Zerstörung sämtlicher Sozialkontakte. Da überlegen sich dann so manche aktiven oder potentiellen V-Leute, ob sie sich unter derartigen Bedingungen weiter auf den VS einlassen und für ihn Spitzeldienste leisten sollen. Und das ist auch mehr als verständlich.

FRAGEN: MATTHIAS THÜSING


Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, ist Präsident der „Internationalen Liga für Menschenrechte“ sowie Autor zahlreicher Sachbücher. Zuletzt: „Geheime Informanten: V-Leute des Verfassungsschutzes – Kriminelle im Dienst des Staates“, Knaur-Verlag München 2003. Darin hat Gössner anhand zahlreicher Fallstudien die Verstrickung des Verfassungsschutzes in die braune Szene aufgedeckt.

 

Aus: FREIES WORT (Thüringen) vom 19.07.2004