ISLAMISCHE
ZEITUNG vom 08.08.2004:
Hintergrund:
„Bürgerrechte als Hemmnisse ?"
(iz) Im
Begegnungen-Interview geht es diesmal um die rechtliche Situation der Muslime
in Deutschland. Dr. Rolf Gössner ist Präsident der „Internationalen Liga für
Menschenrechte“ sowie Autor zahlreicher Bücher, zuletzt: „Geheime Informanten:
V-Leute des Verfassungsschutzes - Kriminelle im Dienst des Staates“.
Islamische Zeitung: Inwieweit hat sich die rechtliche Situation, sowohl
allgemein als auch in Bezug auf die muslimische Minderheit in Deutschland, seit
dem 11. September 2001 verändert?
Dr. Rolf Gössner: Seit den menschenverachtenden Terroranschlägen in den
USA kommen Menschenrechte weltweit mehr und mehr unter die Räder. Im Namen der
Terrorismusbekämpfung werden Bürger- und Menschenrechte zunehmend relativiert
und instrumentalisiert. Wir erleben teils aberwitzige „Anti-Terror“-Reaktionen,
die zu einem dramatischen Verlust an Freiheit und Privatheit führen - und damit
letztlich zu einem Verlust an Sicherheit. Eine selbstzerstörerische Tendenz,
wie sie von Menschenrechtsorganisationen in vielen demokratischen Staaten festgestellt
wird. Nach den grausamen Anschlägen von Madrid im März hat diese fatale Entwicklung
einen neuen Schub erfahren. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen:
Selbstverständlich sind Regierungen und Sicherheitsbehörden verpflichtet, die
Mittäter und Hintermänner von Terror-Anschlägen zu ermitteln und mit geeigneten
- aber eben auch mit angemessenen - Maßnahmen für die Sicherheit der Bürger zu
sorgen. Doch die Bundesregierung hat weit mehr getan: Sie hat schon mit ihren
„Antiterror“-Paketen von 2002 erheblich überreagiert und verfassungsrechtlich
verbriefte Grundrechte unterhöhlt. Es sind immerhin die umfangreichsten „Sicherheitsgesetze“,
die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet
worden sind. Alle Einwohner der Bundesrepublik sind davon betroffen, aber in
besonderem Maße hier lebende Migranten und Muslime.
Islamische Zeitung: Wie sehen Sie heute die rechtliche Lage von Muslimen als
Minderheit? Werden Muslime von den neuen Sicherheitsgesetzen besonders
diskriminiert?
Dr. Rolf Gössner: Migranten und Muslime sind die eigentlichen Verlierer
des staatlichen „Anti-Terror-Kampfes“. Schon zuvor gehörten sie zu der am
intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe. Nun werden sie per Gesetz unter
Generalverdacht gestellt, zu Sicherheitsrisiken erklärt und einem noch
rigideren Überwachungssystem unterworfen - denken Sie nur an die ausufernden
Rasterfahndungen, an biometrische Erfassung, Regelanfragen bei Geheimdiensten
und erleichterte Auslieferungen. Ohne Nachweis, dass von ihnen etwa mehr Terror
ausgehe als von Deutschen, werden Migranten - unter Verletzung des
Gleichheitsgrundsatzes nach dem Grundgesetz - oft einer entwürdigenden
Sonderbehandlung unterzogen, die für viele existentielle Folgen haben kann: so
kann ihnen die Einbürgerung oder Visa-Erteilung verweigert werden, sie können
ihren Arbeits- oder Studienplatz verlieren, in Haft geraten, ausgewiesen oder
abgeschoben werden. Solche Regelungen machen Migranten zu gläsernen Menschen
und Sündenböcken, schaffen aber kaum mehr Sicherheit. Insbesondere die mehr als
drei Millionen Anhänger der drittgrößten Religion in Deutschland sind verstärkt
ins Visier aller Sicherheitsbehörden geraten. Vielfach werden Muslime als
„Islamisten“ stigmatisiert und zu innenpolitischen Feinden erklärt, zu
Gewalttätern oder Terroristen gestempelt und ausgegrenzt. Das Europarat-Komitee
gegen Rassismus und Intoleranz hat schon voriges Jahr eine „stark wachsende
Islamfeindlichkeit“ in allen EU-Mitgliedsstaaten festgestellt. Das gesellschaftliche
Klima habe sich gegen Migranten und Muslime gewendet. Dies schlage sich auch in
einer restriktiven Gesetzgebung nieder, die die Diskriminierung faktisch
institutionalisiere.
Islamische Zeitung: Sehen Sie bei der
Kopftuchdiskussion Parallelen zur Zeit der Berufsverbote?
Dr. Rolf Gössner: Ich weiß nicht, ob man solche Parallelen ziehen kann.
Mit der unsäglichen Berufsverbote-Politik, wie wir sie aus den 70er und 80er
Jahren kennen, sind politisch linksorientierte Bewerber oder Bedienstete vom öffentlichen
Dienst ferngehalten beziehungsweise ausgeschlossen worden. Im Moment geht es
„nur“ um ein symbolisches Stück Stoff, das von allen Seiten ideologisch
aufgeladen wird. Aber wir müssen die erregte Debatte um das Kopftuchverbot in
dem zuvor bereits geschilderten Diskriminierungszusammenhang sehen: Denn längst
schon hat sich diese Debatte in öffentlichen und privaten Arbeitsbereichen
stigmatisierend und desintegrierend auswirkt. Lassen Sie mich noch folgendes
anfügen: Ich halte religiös motivierte Kopftücher in öffentlichen Schulen prinzipiell
für fehl am Platz. Genauso spreche ich mich aber auch gegen Kreuze, christliche
Trachten oder jüdische Kippas an öffentlichen Schulen aus. Ich bin für eine
strikte Trennung von Staat und Religion/Kirche, die es allerdings in der
Bundesrepublik leider so nicht gibt - weder im Steuerwesen noch im öffentlichen
Schulwesen. Artikel 140 Grundgesetz kodifiziert zwar mit Verweis auf die Weimarer
Verfassung ausdrücklich den säkularen Staat, lässt aber kirchlich-religiöse Durchbrechungen
dennoch zu - etwa bei der Garantie des Religionsunterrichts oder der Einziehung
der Kirchensteuern durch den Staat. Wenn nun in einzelnen Ländern, wie
Baden-Württemberg oder Niedersachsen, Kopftuch-Verbote per Gesetz verordnet
werden, andere religiöse Symbole wie Kruzifix, Priestergewand oder Kippa aber
unangetastet bleiben, dann sind solche Gesetze meines Erachtens politisch und
verfassungsrechtlich angreifbar. Denn legt man das Kopftuch-Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zugrunde, dann ist der Staat zur religiösen
Neutralität verpflichtet, und alle Religionen müssen gleich behandelt werden;
keine darf durch den Staat bevorzugt oder benachteiligt werden. Der Berliner
SPD-PDS-Senat zeigt gerade einen gangbaren Ausweg auf: Er will nicht nur das
Kopftuch an Schulen, sondern alle religiösen Symbole aus dem Öffentlichen
Dienst verbannen, sofern sie demonstrativ zur Schau gestellt werden.
Islamische Zeitung: Wie bewerten Sie die jüngstens häufiger stattfindenden
Durchsuchungen von Moscheen und/oder erkennungsdienstliche Maßnahmen in
Moscheen aufgrund eher diffuser Verdachtsmomente?
Dr. Rolf Gössner: Polizeiliche Durchsuchungen und Razzien
in Moscheen, in islamischen Vereins- und Kulturstätten häufen sich in letzter
Zeit tatsächlich - ebenso übrigens Versuche des Verfassungsschutzes, V-Leute in
muslimischen Gemeinschaften anzuwerben. Tatsächlich sind die Anlässe für
Durchsuchungen und Personenüberprüfungen oft äußerst diffus, Verdachtsmomente
basieren zuweilen auf dubiosen Hinweisen und stereotypen Bedrohungsszenarien.
In diesen Fällen sind solche einschneidenden Maßnahmen nicht zu rechtfertigen,
sie verletzen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und
wirken rufschädigend. Häufig genug geht es nicht um konkrete Fahndungsmaßnahmen,
sondern lediglich darum, den „Fahndungsdruck“ auf „Islamisten“ zu erhöhen - wobei
nicht geleugnet werden soll, dass mitunter im Schutze von Moscheen Menschen
indoktriniert, Hass und Gewalt gepredigt sowie kriminelle Handlungen geplant
werden. Das rechtfertigt gegebenenfalls gezielte Maßnahmen, jedoch keinen
staatlichen Aktionismus, keine verdachtsunabhängigen Polizeikontrollen im
Umfeld von Moscheen oder gar präventive Durchsuchungen, Razzien und Telefonabhöraktionen,
solange keine hinreichend konkreten Verdachtsgründe vorliegen. Und das
rechtfertigt auch nicht die präventive Videoüberwachung von Moscheen, wie sie
von CDU-Politikern schon gefordert wurde.
Islamische Zeitung: Vorschläge von Politikern, die vor wenigen Jahren noch
kaum denkbar gewesen wären, werden inzwischen ganz normal diskutiert -
Beispiele sind Sicherheitsverwahrung in Lagern, immer stärkere
Überwachung und Abhörung zum Beispiel auch von Rechtsanwälten oder Ärzten, oder
die Diskussion über die Zulässigkeit von Folter. Regt sich, gerade auch unter
Juristen, Widerstand dagegen, und was kann gegen den weiteren Abbau von
Grundrechten getan werden? Was bedeuten diese Entwicklungen für die Zukunft des
Rechtsstaates?
Dr. Rolf Gössner: Das ist in der Tat eine alarmierende Entwicklung, die
selbst vor der Relativierung des absolut geltenden Folterverbots nicht halt
macht. Bürgerrechte werden zunehmend als Hemmnisse auf dem Weg zu vermeintlich
mehr Sicherheit gesehen. „Sicherheit“ wird zum Supergrundrecht erklärt, das
alle anderen individuellen Grund- und Freiheitsrechte in den Schatten zu
stellen droht. Etliche der „Anti-Terror“-Maßnahmen dürften gegen den
verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen und Merkmale
eines autoritär-präventiven Sicherheitsstaats aufweisen. In einem solchen Staat
dürften Rechtssicherheit und Vertrauen der Bürger allmählich verloren gehen.
Die meisten „Anti-Terror“-Gesetze sind nur wenig geeignet zur Bekämpfung des
fanatisierten, religiös aufgeladenen und selbstmörderischen Terrors. Letztlich
wird es nicht gelingen, die Bürger mit der drastischen Einschränkung von
Bürgerrechten wirksam vor Terror zu schützen. Weder in einer hochtechnisierten
Risikogesellschaften noch in einer liberalen und offenen Demokratie kann es
einen absoluten Schutz vor Gefahren und Gewalt geben. Das Streben nach totaler
Sicherheit kann zerstören, was es zu schützen vorgibt: die Freiheit. Gegen
diese Entwicklung rührt sich leider nur wenig Opposition. Lediglich Bürger- und
Menschenrechtsorganisationen, (links-)liberale Juristen, Politiker und Medien
versuchen, die fatalen Folgen dieser „Sicherheitspolitik“ aufzuzeigen und
gegenzusteuern - nachzulesen etwa im jährlich erscheinenden
„Grundrechte-Report“ (Fischer TB), der die Kritik am Weg in den autoritären
Sicherheitsstaat bündelt. Doch auf die verunsicherte Bevölkerung ist dieser
Funke noch nicht übergesprungen, zumal immer neue Bedrohungsszenarien kursieren
und Ängste geschürt werden. Möglicherweise rückt aber im Laufe des zunehmenden
Widerstands gegen die Demontage des Sozialstaates auch die Aushöhlung der
Bürgerrechte in den Fokus einer erstarkenden Oppositionsbewegung.
Islamische Zeitung: Sehen Sie eine mögliche Lobby für Muslime, und sehen Sie
Ansprechpartner auf Seiten der Muslime in Deutschland?
Dr. Rolf Gössner: Im Kampf um elementare Freiheits- und Bürgerrechte
sind Muslime hierzulande auf starke Bündnispartner angewiesen, die ihnen
beistehen und behilflich sind in der Auseinandersetzung mit der
Mehrheitsgesellschaft - einer Gesellschaft, die allzu oft zu Ausgrenzung und
Verboten neigt und damit zur kollektiven Verdrängung von existentiellen
Problemen, die unter anderem mit Migration, Globalisierung und Ungerechtigkeit
zusammenhängen. Als Ansprechpartner für einzelne Muslime und für muslimische Gemeinschaften
kommen einerseits die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, die
Integrationsbeauftragten der Landesregierungen und aufgeschlossene Personen aus
Parteien und Politik in Betracht, wie etwa der Bremer Bürgermeister Henning
Scherf (SPD) - andererseits Bürger- und Menschenrechtsgruppen sowie
Friedensinitiativen. Im konkreten Konfliktfall empfiehlt sich möglicherweise
der Gang zum Anwalt oder zur Anwältin.
Islamische Zeitung: Was raten Sie den Muslimen in Deutschland?
Dr. Rolf Gössner: Da hätte ich eine ganze Reihe von Ratschlägen, auch
unbequeme: Wer sich hierzulande als Muslima oder Muslim auf die Menschenrechte
beruft und sie für sich und Glaubensgeschwister einfordert, hat nach meinem
Verständnis auch selbst die Menschenrechte anderer zu respektieren und sich mit
der menschenrechtlichen Situation in islamischen Ländern kritisch auseinander
zu setzen - dort, wo Menschenrechte vielfach mit Füßen getreten werden, wie
etwa im Iran. Amnesty International sieht in sämtlichen islamischen Staaten die
Menschenrechte massiv verletzt. Zu den geschundenen Menschenrechten gehören
unter anderem die Gleichberechtigung der Frau, der Minderheitenschutz, der
Schutz von Anders- und Nichtgläubigen, die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit.
Das Verhältnis des Islam und von Muslimen zu den universellen und
unveräußerlichen Menschenrechten ist ebenso klärungsbedürftig wie ihr
Verhältnis, ihr Verhalten gegenüber religiösem, menschenverachtendem Fanatismus
beziehungsweise Fundamentalismus, aus dem sich der „moderne“ Terror nährt. Muslime
sind ebenfalls dazu aufgerufen, sich den mehr oder weniger starken
antisemitischen Tendenzen innerhalb von islamischen Gemeinschaften
entgegenzustellen - Tendenzen, die sie mitunter in gefährliche Nähe zu Neonazis
rücken. Es gibt keinen tolerablen Rassismus und keine tolerablen Menschenrechtsverletzungen.
Deshalb, so denke ich, ist von Muslimen in Deutschland auch zu erwarten, dass
sie sich denjenigen widersetzen, die in ihren Reihen oder in muslimischen
Gemeinschaften den „Heiligen Krieg“ und den „Gottesstaat“ propagieren, die im
Namen Allahs und des Islam Hass, Gewalt und Terror gegen Anders- oder
Nichtgläubige predigen. Abgesehen von den unmittelbaren Opfern des Terrors hat
schließlich auch die übergroße Mehrheit der Muslime unter den Folgen von Terroranschlägen
zu leiden. Sie sollten sich aus ihrer Opferhaltung befreien und sich mit diesen
brennenden Problemen nicht nur insgeheim, sondern offen und selbstkritischer
auseinandersetzen, um auch so den Teufelskreis des Generalverdachts und der
Ausgrenzung durchbrechen zu helfen. Diese Auseinandersetzung wird, so bleibt zu
hoffen, die Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft befördern, den Dialog so
offen und vorurteilsfrei wie möglich zu führen. Dieses Interview sollte dazu
anregen.
Islamische Zeitung: Sehr geehrter Herr Dr. Gössner, wir danken Ihnen für
dieses Interview.