Rolf Gössner
Abschiebungen trotz Krankheit
„Fachärzte
für Abschiebungen“ als Erfüllungsgehilfen der Ausländerbehörden
Um Ausländer/innen besser
abschieben zu können, haben Ausländerbehörden mitunter erstaunliche Kreativität
bewiesen. Sie scheinen weder Kosten noch Mühen zu scheuen, um selbst kranke Personen,
die eine Duldung erhalten müssten (§ 60a AufenthaltsG), abschieben zu können. Solche skandalösen
Praktiken sorgen immer wieder für Schlagzeilen - auch im Jahr 2010.
Tatort: Freie Hansestadt Bremen
Die Bremer Ausländerbehörde
versuchte in der Vergangenheit mehrfach, psychisch erkrankte oder suizidgefährdete
Flüchtlinge mit Duldungsstatus entgegen klarer, aber offenbar unerwünschter
Diagnosen von Fachärzten oder des Bremer Gesundheitsamtes widerrechtlich abzuschieben.
Offenbar wollte man so das Problem bereinigen, dass 2009/2010 in Bremen mehr
als 90 der 2.200 Geduldeten aus Krankheitsgründen und rund 130 geduldete Angehörige
dieser Kranken nicht abgeschoben werden konnten.
So sollten Ende 2009 Mehmet T.
und Fetulla D. in die Türkei verbracht werden, obwohl sie laut amtsärztlicher
Begutachtung „jetzt und langfristig nicht reisefähig“ waren. Schon zuvor hatte
die Ausländerbehörde versucht, T. aus einer stationären psychiatrischen Behandlung
heraus abzuschieben; das Oberverwaltungsgericht Bremen untersagte damals jedoch
die Ausweisung. Das amtsärztliche Attest half beiden Betroffenen nichts, obwohl
darin schwere posttraumatische Belastungsstörungen und Suizidgefahr im Falle
der Abschiebung bescheinigt wurden. Dessen ungeachtet trieb die
Ausländerbehörde ihre Abschiebung voran und buchte bereits den Flug in die Türkei.
Unter Umgehung des amtsärztlichen Gutachtens sollte eine Ärztin die Flugtauglichkeit
der Männer am Abflugtag direkt im Flughafen bescheinigen, ein weiterer Arzt sollte
den Flug begleiten und ein dritter die Betroffenen in der Türkei empfangen.
Die erforderlichen Flugtauglichkeitsprüfungen
vor Ort haben in vielen Bundesländern Ärzte übernommen, die bei Flüchtlingsinitiativen
treffend „Fit-for-Fly-Doctors“ heißen. Deren Untersuchungsergebnisse sind für
die Ausländerbehörden absehbar – anders als jene von Vertrauensärzten oder des
Bremer Gesundheitsamts, die sich nicht zu Handlangern einer
inhumanen Abschiebepolitik machen lassen.
Stets zu Diensten: Fachanwälte für Abschiebungen
Die Bremer Ausländerbehörde ließ eigens Ärzte aus
Süddeutschland anreisen und zahlte ihnen stattliche Honorare. In einem aufschlussreichen
Schreiben, das dem Autor vorliegt, hatten zwei dieser Ärzte der Behörde unter
Hinweis auf ihre, so wörtlich, „langjährige Erfahrung bei Rückführungen ausländischer
Staatsangehöriger in die jeweiligen Heimatländer weltweit“ ihre unzweideutigen
Dienste angeboten: Sie seien „spezialisiert auf die Rückführung“ von
Ausländern, so heißt es dort, könnten „sämtliche medizinischen Gutachten“ erstellen
und Untersuchungen auf „Gewahrsamsfähigkeit“ durchführen, ebenso wie Flugreisetauglichkeitsuntersuchungen
unmittelbar vor dem Abflug; auch zu einer „medizinischen Begleitung“ von
Abzuschiebenden seien sie in der Lage, könnten ihre „Zeit flexibel gestalten“
und auch „sehr kurzfristig Aufträge übernehmen“ – so das Schreiben vom 10.
Januar 2010 der Notärztin Tatjana M. aus Hessen und des Suchtmediziners Oliver
E. aus dem Saarland. Man freue sich über Interesse – und die Bremer Ausländerbehörde
griff tatsächlich zu. Es handelt sich offenbar um spezielle „Fachärzte für
Abschiebungen“, die sich jenseits ihres ärztlichen Berufsethos’ und fachlicher
Qualifikation in die staatliche Abschiebemaschinerie einbinden und so zu staatlichen
Erfüllungsgehilfen machen lassen.
„Ärzte sind keine Erfüllungsgehilfen des Staates“
Diese
Praxis geht auf die Innenministerkonferenz und eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe
„Rückführung“ zurück: Schon seit Jahren sollen Abschiebehindernisse beseitigt
und die Rückführung von Ausländern beschleunigt werden, u. a. mit Hilfe eines Pools
von „Ärzten für Flugmedizin“ und der Zielsetzung, die Flugreisetauglichkeit
notfalls mit allen denkbaren Mitteln (ärztliche oder pflegerische Begleitung, Medikamente,
Sedierung) herzustellen. Der damalige Vizepräsident
der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, warnte
Anfang 2008 seine Kollegen: „Wer
sich aus politisch-ideologischen oder rein ökonomischen Gründen ein
Geschäftsfeld sucht, muss mit seinem Gewissen vereinbaren, dass er
Menschenleben zerstören kann… Der Arzt ist kein Erfüllungsgehilfe des Staates“
(FR 14.4.2008). Schon 1999 stellte der Deutsche Ärztetag
unmissverständlich fest: "Abschiebehilfe
durch Ärzte in Form von Flugbegleitung, zwangsweiser Verabreichung von
Psychopharmaka oder Ausstellung einer ‚Reisefähigkeitsbescheinigung‘ unter
Missachtung fachärztlich festgestellter Abschiebungshindernisse wie z. B. in
Behandlung stehende Traumatisierungen sind mit in der ärztlichen Berufsordnung
verankerten ethischen Grundsätzen nicht vereinbar."
Dennoch
werden immer wieder kranke Menschen zwangsweise in Länder abgeschoben, in denen
sie nicht angemessen behandelt werden können. Oder: Opfer von Folter und politischer
Gewalt werden an Orte ihrer Traumatisierung abgeschoben, was diese als lebensbedrohlich
erleben. Jeder dritte Flüchtling ist psychisch traumatisiert und leidet unter
entsprechenden Folgestörungen. Daher ist es unzulässig, vor der Abschiebung von
Flüchtlingen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, anderen psychischen
Erkrankungen oder Suizidgefährdung allein deren Flugreisetauglichkeit zu überprüfen,
um die Frage zu beantworten, ob der Mensch den Flug übersteht. Diese
Beschränkung auf die Transportfähigkeit vor dem Abflug kann sowohl geltendes
Verfassungsrecht (Art. 1 und 2 GG) als auch europäische Menschenrechte (Art. 3 EMRK) verletzen
und widerspricht ganzheitlichen ethisch-ärztlichen Grundsätzen.
Aus
diesen Gründen kritisierten zahlreiche Mediziner, Juristen und Flüchtlingsinitiativen
den skandalösen Umgang der Bremer Ausländerbehörde mit kranken Flüchtlingen. In
einigen der Fälle machte selbst die auf Flughäfen zuständige Bundespolizei nach
einer Intervention von Anwälten der Betroffenen ihre Bedenken geltend und beharrte
mit Verweis auf amtsärztliche Gutachten und „offensichtliche Reiseunfähigkeit“ auf
„Rückführungshindernissen“. In anderen Fällen musste das Verwaltungsgericht
Bremen wegen nicht ausreichender Prüfung oder Berücksichtigung krankheitsbedingter
Abschiebeverbote, Abschiebungen in letzter Minute stoppen.
Senat: „fehlerhafte Bearbeitung in äußerst
sensiblem Bereich“
Inzwischen
räumte die Ausländerbehörde Fehler ein und der rot-grüne Senat bedauerte die
„fehlerhafte Bearbeitung in diesem äußerst sensiblen Bereich“ (Senatsmitteilung,
1.06.2010). Es handelte sich um gravierende, in etlichen Fällen kaum wieder gut
zu machende Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz (§§ 25, 60a), gegen rechtsstaatliche
und humanitäre Grundsätze. Die genaue Zahl der davon Betroffenen ist unbekannt.
Eine
neue amtsinterne Dienstanweisung führte im Frühsommer 2010 zur
Abänderung der bisherigen Praxis. Kein Sachbearbeiter darf mehr allein über Abschiebemaßnahmen
entscheiden, im Zweifel muss die Amtsleitung eingeschaltet werden. Darüber
hinaus solle für Flugtauglichkeitsprüfungen - unter Einbeziehung der Bremer
Ärztekammer - ein Kriterienkatalog für die erforderliche ärztliche
Qualifikation entwickelt werden. Dennoch versuchte die
Ausländerbehörde auch danach noch, einen kranken Inder mit schwerem, dringend
operationsbedürftigem Herzfehler abzuschieben - entgegen den eindeutigen
Diagnosen von Ärzten und deren Warnung vor den Folgen einer Flugreise. Diese
Missachtung der neuen Dienstanweisung führte zu einem Disziplinarverfahren
gegen den verantwortlichen Team-Leiter des Ausländeramtes.
In vielen Fällen dürfte es im
Übrigen angemessener sein, geduldete, aber ausreisepflichtige Betroffene aus
humanitären Gründen eine sichere Aufenthaltsperspektive zu eröffnen, statt sie
in hoch problematische Länder mit medizinischer Unterversorgung abzuschieben,
in denen sie keine Lebensperspektive haben.
Literatur
Grüne
im Landtag NRW, Krankheit als Abschiebehindernis (Dokumentation), Düsseldorf 2008
Mesovic, Therapie während des
Fluges, in: Grundrechte-Report 2004, S. 55 ff.
Autorenangaben
wie GRR 2010
Gössner, Rolf, Dr. jur., geb. 1948,
Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater. Vizepräsident der
„Internationalen Liga für Menschenrechte“ (Berlin; www.ilmr.de).
Stellv. Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen sowie
Mitglied/stellv. Sprecher der Deputation für Inneres der Bremer Bürgerschaft.
Mitherausgeber der Zweiwochenschrift "Ossietzky", Mitglied der Jury
zur jährlichen Verleihung des Negativpreises „BigBrotherAward“ sowie der
Carl-von-Ossietzky-Medaille. Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des
Bundestages und von Landtagen. Autor zahlreicher Sachbücher zu Bürger- und
Menschenrechtsthemen, zuletzt: "Menschenrechte in Zeiten des Terrors.
Kollateralschäden an der Heimatfront“, Hamburg 2007. Internet: www.rolf-goessner.de