(vor ca. 30.000 Menschen)
Videos über http://www.youtube.com/watch?v=UeHioai5CMI
http://www.youtube.com/watch?v=n0L_3nVQwsk
Liebe
Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter!
»Angst ist das Schmieröl der Staatstyrannei« - es ist diese
Erkenntnis, die uns antreibt, hier und heute zu demonstrieren: gegen politische
Angstmacherei, gegen Überwachungswahn und den Angriff auf die Bürgerrechte.
I. Ein ausufernder Antiterrorkampf bescherte uns eine dramatische
Einschränkung der Freiheitsrechte. Eine wahre Flut sogenannter
Antiterrorgesetze haben die Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft
beträchtlich erhöht – angeblich im Namen der Sicherheit, doch mit Sicherheit
auf Kosten der Freiheit. Tatsächlich kommt das Bundesverfassungsgericht kaum
noch nach, etliche dieser maßlosen Sicherheitsgesetze für grundrechtswidrig zu
erklären. Tatsächlich dokumentiert die hohe Anzahl verfassungswidriger Gesetze
ein katastrophales Verfassungsbewusstsein in der politischen Klasse –
strenggenommen: ein Fall für den Verfassungsschutz. Solche parteipolitischen
Wiederholungstäter sind eine wahre Gefahr für dieses Land – und sie sind
schlichtweg nicht wählbar.
II. Leider ist das nicht alles. Wir erleben auch einen
besorgniserregenden Umbau des Staates und eine Entfesselung staatlicher
Gewalten. Wir erleben eine Militarisierung der Inneren Sicherheit, in deren
Mittelpunkt der Bundeswehreinsatz im Innern steht. Wir erleben eine zunehmende
Vernetzung und Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten – zuletzt mit der
neuen Abhörzentrale in Köln und mit dem Umbau des Bundeskriminalamtes zu einem
zentralen deutschen FBI mit geheimpolizeilichen Befugnissen zur präventiven
Vorfeldausforschung.
Das ist ein skandalöser Vorgang: Denn mit dieser neuen
Sicherheitsarchitektur wächst zusammen, was nicht zusammen gehört. Dies
verstößt gegen das Gebot der Trennung von Geheimdiensten und Polizei – einer
wichtigen Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo der Nazizeit.
So werden elementare Lehren aus der deutschen Geschichte entsorgt – mit der Folge
einer gefährlichen Machtkonzentration der Sicherheitsorgane. So droht der
demokratische Rechtsstaat zu einem präventiv-autoritären Sicherheitsstaat zu werden
– einem Staat im permanenten Ausnahmezustand, in dem der Mensch zum
Sicherheitsrisiko mutiert, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen der Bürger
verloren gehen, Angst und Entsolidarisierung gedeihen.
Und spätestens hier stellt sich die Frage: Soll der Staat mit diesem
Umbau und der Anhäufung von Kontroll-Instrumenten auf Vorrat womöglich nicht
nur vor Gewaltkriminalität und Terror geschützt werden? Wappnet er sich in
Wirklichkeit – gerade in Zeiten verschärfter ökonomisch-sozialer Krisen -
vorsorglich auch gegen mögliche soziale Unruhen und Aufstände? Tatsächlich
scheint der präventive Sicherheitsstaat in dem Maße aufgerüstet zu werden, in
dem der Sozialstaat abgetakelt wird.
III. Diesem Zerstörungsprozess und der zugrundeliegenden
Sicherheitsideologie müssen Bürgerrechtsgruppen, Gewerkschaften und
politisch-soziale Bewegungen, müssen wir alle energischer entgegentreten. Die
heutige Demonstration für „Freiheit statt Angst“ hier in Berlin ist ein
hoffnungsvolles Signal. Genauso wie die fast 35.000 Verfassungsbeschwerden gegen
die Vorratsdatenspeicherung – die größte Massenbeschwerde in der deutschen
Rechtsgeschichte.
Was ist noch zu tun? Wir müssen dringend das verengte und angstbesetzte
Sicherheitsdenken aufbrechen. Wir brauchen einen anderen, einen sozialen,
umwelt- und friedenspolitischen Sicherheitsbegriff – einen Begriff von
Sicherheit, der auch an Ursachen und Bedingungen von Terror, Gewalt und
Kriminalität ansetzt, von denen kaum noch die Rede ist. Denn die Übel dieser
Gesellschaft und der Welt lassen sich jedenfalls nicht mit Vorratsdatenspeicherung,
Internet-Sperren und Antiterrorgesetzen bekämpfen, sondern viel mehr mit
sozialer Gerechtigkeit, einer neuen Weltwirtschaftsordnung und einer konsequenten
Umwelt-, Klima- und Friedenspolitik.
Wir fordern schon heute von der neuen Bundesregierung ein Ende der
Politik mit der Angst, wir fordern eine Generalrevision aller „Notstandsgesetze
für den Alltag“!
Wir fordern auch ein striktes Exportverbot für deutsche
Überwachungstechnologien an diktatorische Staaten (wie den Iran)!
Und wir wollen einen transparenten demokratischen Staat – und keine
gläsernen Bürger unter Generalverdacht!
[Und angesichts der vielen staatlichen, aber auch betrieblichen Datenskandale und des oft leichtfertigen Umgangs mit persönlichen Daten – im Internet, beim Einkauf mit Rabatt- und Kreditkarten, am Handy oder in Fernsehshows – brauchen wir auch eine breite gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Personendaten, über den Wert von Privat- und Intimsphäre und über das Problem ausufernder Überwachung und sozialer Kontrolle in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Bei der Lösung der drängenden Frage, wie der Ausverkauf der Privatsphäre und die Beschneidung der Kommunikationsfreiheit in einer modernen Informationsgesellschaft gestoppt werden können, sind wir alle gefordert.]
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt/Publizist in Bremen; Vizepräsident der
Internationalen Liga für Menschenrechte, Berlin (www.ilmr.de); Sachverständiger in
Gesetzgebungsverfahren des Bundestags und von Landtagen; Mitherausgeber des
"Grundrechte-Reports - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in
Deutschland" und als solcher ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille
2008 (www.grundrechte-report.de). Seit 10 Jahren Mitglied
der Jury zur Verleihung des Negativpreises "BigBrotherAward" (www.bigbrotherawards.de). Autor zahlreicher Bücher
zur Entwicklung von Polizei, Geheimdiensten und Justiz sowie der Bürgerrechte
und des Datenschutzes; zuletzt: >Menschenrechte in Zeiten des Terrors.
Kollateralschäden an der "Heimatfront"< (Hamburg 2007). Internet: www.rolf-goessner.de.