Die Thüringer Staatsgewalt kommt nicht
aus den Schlagzeilen. Zum einen hat sich der thüringische Verfassungsschutz mit
seinen diversen V-Mann-Affären mehrfach als skandalträchtig erwiesen. Zum
anderen gibt es Sorgen um den Zustand der Thüringer Polizei: erst wegen zweier
bislang ungeklärter polizeilicher Schüsse, die am 27. Juni 1999 den Wanderer
Friedhelm Beate töteten und am 28. Juli 2002 den Zimmermann René Bastubbe. Und
dann wegen einer brisanten Prügelszene im November 2002, die auch die Justiz
erschütterte. Selbst die Staatsanwaltschaft spricht in diesem Zusammenhang von
einem „handfesten Polizeiskandal“.
Rolf Gössner hat während einer
Veranstaltung des Thüringer Forums für Bildung und Wissenschaft e.V. am 28. Juli
2003 im Rathaus von Erfurt diesen Themenkomplex behandelt. An diesem Tag jährte
sich der Tod von René Bastubbe zum ersten Mal. Gössners Vortrag ist auszugsweise
in Ausgabe 15 der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“
(Hannover/Berlin) erschienen. Wir dokumentieren seinen Text, den er für die FR
überarbeitet hat.
Thüringer Polizeibeamte machen einen
harten und weithin anerkannten Job, wie Polizisten anderer Bundesländer auch –
das dürfte unbestritten sein. Die Polizei ist bundesweit ausgestattet mit einer
Fülle von exekutiven Vollmachen und Befugnissen, mit denen sie „im Namen der
Sicherheit“ tief in die Grundrechte, tief in die Privatsphäre der Bürgerinnen
und Bürger einzugreifen vermag. Nicht zuletzt aus diesem Grund muss sich die
Vollzugspolizei in einem Rechtsstaat der öffentlichen Kontrolle stellen, soll
sie nicht zum Staat im Staate werden. Doch mitunter hat man den Eindruck, als
mangele es gerade im Polizeibereich an einer unvoreingenommenen
Kontrolle.
„In welchem Zustand ist eigentlich die
Thüringer Polizei, wenn sie Straftäter in ihren eigenen Reihen deckt?“ hat erst
kürzlich ein Hamburger Staatsanwalt gefragt und hinzugefügt, Thüringen habe
einen „handfesten Polizeiskandal“. Es sei verwunderlich, dass das in Thüringen
noch keiner mitbekommen habe.
Die Prügelszene spielte sich in der
Freien und Hansestadt Hamburg ab, während eines überaus harten Polizeieinsatzes,
ganz nach dem Gusto des Hamburger Innensenators Ronald B. Schill. Anlass war
eine Demonstration gegen die Räumung des Bambule-Wohnwagenplatzes im November
2002. Beamte aus Schleswig-Holstein und Thüringen unterstützten die Hamburger
Polizei. Drei Angehörige der Thüringer Bereitschaftseinheit „Bison“, eines
besonders draufgängerischen Spezialkommandos, verprügelten am Rande der
Demonstration zwei Teilnehmer mit erschreckender Brutalität. Die beiden hatten
nichts verbrochen, sie wehrten sich nicht einmal. Das Ungewöhnliche dieser
Szene: Die Polizeiopfer waren gar keine Demonstranten, sondern
Demonstranten-Darsteller – Polizisten in Zivil, die sich unauffällig unter die
Demonstranten gemischt hatten, um sie zu beobachten. Sie hatten sich als „linke
Aktivisten“ verkleidet, was ihnen zum Verhängnis wurde.
Anlass der wüsten Prügelszene war eine
fliegende Flasche. Ohne den eigentlichen Werfer gesehen zu haben, rannten die
drei Polizisten auf die beiden verdeckten Ermittler aus Schleswig-Holstein zu
und traktierten sie mit ihren Schlagstöcken. Einer der Zivilaufklärer rief immer
wieder die Einsatz-Parole „Mondlicht“, schrie auch verzweifelt: „Wir sind doch
Kollegen!“ – aber die Thüringer ließen sich davon nicht beeindrucken und
prügelten ungerührt weiter, selbst dann noch, als ihre Kollegen in Zivil längst
am Boden lagen. Sie verletzten die beiden dermaßen, dass sie für eine Woche
krankgeschrieben werden mussten.
Von dem Vorfall wäre wahrscheinlich nicht
viel Aufhebens gemacht worden, wären die Opfer ganz normale Demonstranten
gewesen. Doch in diesem Fall war alles anders, was sicherlich auch daran lag,
dass Polizeiopfer und mutmaßliche Polizeitäter aus zwei verschiedenen
Bundesländern stammten und die Tat sich in einem dritten Bundesland abspielte –
dies erschwerte von vornherein jegliche Harmonisierungsbemühungen: Die
Schleswig-Holsteiner Prügelopfer stellten Strafanzeige gegen ihre Thüringer
Kollegen und die Hamburger Staatsanwaltschaft ermittelte ernsthaft gegen die 23,
29 und 30 Jahre alten Bereitschaftspolizisten wegen Körperverletzung im Amt.
Schließlich wurden sie sogar angeklagt. Den misshandelten Beamten hatte die
Staatsanwaltschaft offenbar mehr Glauben geschenkt als manchem echten
Demonstrationsteilnehmer. Polizisten rangieren eben ganz oben in der
Glaubwürdigkeitshierarchie – auch wenn sie sich als Zivilisten tarnten, ihr
Geschäft also Täuschung ist.
Und tatsächlich kam es im Juli 2003 gegen
die mutmaßlichen Täter zu einer Hauptverhandlung vor dem Hamburger Amtsgericht.
Doch was sich während des Gerichtsverfahrens abspielte, das hätten offenbar
weder Staatsanwalt noch Richter für möglich gehalten – obwohl man doch gerade in
Hamburg bereits einschlägige Erfahrungen mit Korpsgeist im Polizeiapparat und
der berüchtigten „Mauer des Schweigens“ gemacht hatte. Die Erfurter
Polizeiführung versuchte jedenfalls mit erstaunlicher Dreistigkeit, die
Ermittlungen zu behindern, Einfluss auf das Strafverfahren zu nehmen und so die
Aufklärung der Ereignisse zu torpedieren – aus reiner „Fürsorgepflicht“ für ihre
delinquenten Untergebenen, wie es hieß, aber letztlich in dem Bemühen, die
Beamten zu decken und damit das Ansehen der Thüringer Polizei und ihrer Führung
zu retten. So erschienen die Angeklagten zunächst nicht zur Gerichtsverhandlung
in Hamburg, sondern auf Drängen ihrer Polizeiführung erst beim Gesundheitsamt in
Erfurt, und entschuldigten sich dann bei Gericht mit gleichlautenden
amtsärztlichen Attesten: Wegen synchroner „psychologischer Beeinträchtigung“
waren alle drei angeblich nicht verhandlungsfähig.
Der Richter zeigte sich ob dieser
„Gefälligkeitsgutachten“ fassungslos, so etwas hatte er noch nicht erlebt. Seine
Antwort: Haftbefehle gegen die Polizisten. Diese wurden später gegen Auflagen
außer Vollzug gesetzt, weil sich der Thüringer Innenminister Andreas Trautvetter
(CDU) höchstpersönlich für das Erscheinen der Angeklagten vor Gericht verbürgte
und die Aussetzung der Haftbefehle anmahnte – zuvor hatte er sich bitterlich
über diese beschwert und sie als „unverhältnismäßig“ gerügt. Der hamburgische
Justizsenator Roger Kusch (ebenfalls CDU) zeigte sich „erstaunt“ über das
„Rechtsstaatsverständnis des Innenministers“, der mit seiner Intervention gegen
den Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung verstieß. Auch der Chef der
Thüringer Bereitschaftspolizei, Leitender Polizeidirektor Roland Richter,
mischte sich in das Gerichtsverfahren ein. Er wollte die Verteidiger der
Polizisten dazu bewegen, Befangenheitsanträge gegen den Richter zu
stellen.
Die Angeklagten hatten vor Gericht bis
zuletzt ihre Schuld bestritten – obwohl zumindest zwei, so einer ihrer
Verteidiger, angesichts der erdrückenden Beweislage zum Geständnis bereit gewesen seien. Doch
von der Erfurter Polizeiführung seien sie mit der Drohung „Wenn Sie gestehen,
fliegen Sie raus“ daran gehindert worden. Damit habe die Polizei „massiven
Einfluss auf das Aussageverhalten“ genommen. Alle drei Angeklagten wurden am 14.
Juli 2003 wegen Körperverletzung im Amt zu je einem Jahr Freiheitsstrafe mit
Bewährung verurteilt. Damit verhängte der Amtsrichter bewusst eine Strafe, die,
sofern sie rechtskräftig wird, ihrer polizeilichen Beamtenlaufbahn ein Ende
setzen müsste. Wegen Missbrauchs des Gewaltmonopols sollten die Prügelpolizisten
nicht länger im Staatsdienst verbleiben. Diese Strafe sei schon deshalb nötig,
so der Richter, weil die Angeklagten aufgrund des offenkundigen Korpsgeistes in
der Thüringer Polizei von der dortigen Führung „keine einschneidenden
disziplinarrechtlichen Folgen zu erwarten“ hätten. Ob dieser Schuldspruch die
nächsten Instanzen übersteht, ist fraglich.
Thüringens Innenminister Trautvetter
bezeichnete das Hamburger Urteil postwendend als zu hart, das Berufsverbot sei
unverhältnismäßig. Und er kündigte an, dass Thüringer Polizisten in anderen
Bundesländern künftig nur noch dann bei Demonstrationen mit Schlagstockeinsatz
Amtshilfe leisten würden, wenn gesichert sei, dass keine Zivilpolizisten anderer
Bundesländer eingesetzt sind. Dann ließe sich, so muss der CDU-Minister
verstanden werden, künftig wieder ungestört auf echte Demonstranten einprügeln,
denen im Fall der rechtlichen Gegenwehr ohnehin niemand
glaubt.
Der Hamburger Staatsanwalt leitete
inzwischen Ermittlungsverfahren ein, zum einen gegen die Amtsärzte wegen ihrer
mutmaßlichen Gefälligkeitsgutachten für die Angeklagten, zum anderen gegen
Polizeidirektor Roland Richter wegen des Verdachts auf Falschaussage vor Gericht
und der versuchten Strafvereitelung im Amt.
Die Frage des
Hamburger Anklägers, in welchem Zustand sich die Thüringer Polizei eigentlich
befinde, stellt sich um so dringlicher, als Bedienstete dieser Polizei in den
vergangenen Jahren zwei Todesschüsse zu verantworten haben – Todesschüsse, die
bis heute nicht aufgeklärt sind.
Am 28. Juli 2003 jährte sich der Todestag
von René Bastubbe. Der 30jährige Zimmermann, Vater eines vierjährigen Sohnes,
wurde im vorigen Jahr in der thüringischen Stadt Nordhausen erschossen.
Getroffen in den Rücken. Von einem Projektil aus der Dienstwaffe eines ebenfalls
30jährigen Polizisten. Angeblich aus Notwehr.
Es geschah am frühen Morgen, mitten im
Stadtzentrum. Die Polizei war alarmiert worden, weil sich zwei angetrunkene
Männer auf dem Heimweg von einer Feier im Jugendclubhaus an einem
Zigarettenautomaten zu schaffen machten. Sie wollten Zigaretten ziehen, was
ihnen aber nicht gelang, weil der Automat vermutlich defekt war. Daraufhin haben
sie ihn lautstark mit Steinen bearbeitet. Also: mutmaßliche
Automatenknacker.
Die alarmierte Polizei sei nach ihrem
Eintreffen am Tatort ebenfalls mit Steinen bearbeitet worden: beworfen mit
Pflastersteinen. So behaupten die beiden Streifenpolizisten, ein
Polizeiobermeister und eine Polizeimeisterin, so will es auch ein Zeuge
wahrgenommen haben. Zwei Brocken seien knapp am Kopf des Obermeisters
vorbeigeflogen. Nachdem einer der beiden Verdächtigen, ein 23 Jahre alter Mann
von der Beamtin widerstandslos überwältigt worden war, habe der andere
Verdächtige, das spätere Todesopfer, versucht, sich durch Flucht und
Steinewerfen der Festnahme zu entziehen. Der Beamte versuchte, sich zunächst mit
Pfefferspray zu wehren, allerdings ohne die erhoffte Wirkung, so seine
Wahrnehmung. Trotz einer Warnung – Zeugen hörten den Ruf „Stehen bleiben!“ –
habe sich der Flüchtende erneut nach einem Stein gebückt – eine andere
Interpretation besagt, das Pfefferspray habe sehr wohl gewirkt: Bastubbe habe
sich aus diesem Grunde vor Schmerzen gekrümmt und gebückt. Unstreitig hat der
Polizeiobermeister mit seiner Dienstpistole dann einen Schuss abgefeuert – aber
keinen Warnschuss in die Luft, wie es die Dienstanweisung vorschreibt, sondern
einen Schuss, der den vermeintlichen Zigarettendieb in den Rücken
trifft.
Danach ist es totenstill, so eine
Anwohnerin später. René Bastubbe bleibt auf dem Pflaster liegen und verblutet
innerhalb weniger Minuten – getroffen von einer neuartigen Munition, die in
Thüringen wie in anderen Bundesländern nach einem Beschluss der
Innenministerkonferenz seit 2001 von der Polizei eingesetzt wird:
„schadstoffreduzierte“ Neun-Millimeter-Deformationsgeschosse, die
„mannstoppende Wirkung“ haben. Sie pilzen beim Eintreten in einen Körper auf,
vergrößern sich dabei um ein Drittel und reißen daher große Wunden – größere,
als die früher verwendeten Vollmantelgeschosse, die zuweilen durch den Körper
hindurchflogen, ohne den Getroffenen handlungsunfähig zu machen. Die neue
Munition bewirkt einen hydrostatischen Wundschock, der sofort angriffs- und
fluchtunfähig macht; mitunter wirkt sie deshalb tödlich, weil durch ihre
Verformung innere Organe oder Adern zerfetzt werden. Bei René Bastubbe schlägt
das Projektil neben der Wirbelsäule im Rücken ein, zerreißt eine Hauptschlagader
und bleibt unterhalb des Schlüsselbeins im Brustkorb stecken. Bastubbe stirbt an
den inneren Blutungen.
Die beiden beteiligten Polizeibeamten
wurden nach diesem Vorfall unverzüglich vom Dienst freigestellt und
polizeipsychologisch betreut. Andere Todesschützen wären sofort verhört worden,
ohne Möglichkeit, sich untereinander abzusprechen. Die Polizisten stünden unter
Schock und seien vernehmungsunfähig, so hieß es offiziell. Den Angehörigen des
Toten wurde indessen keine psychologische Betreuung
zuteil.
Die Staatsanwaltschaft ging sogleich
zugunsten des Polizisten von einer Notwehrsituation aus – nach einer
„vorläufigen juristischen Bewertung“, wie es hieß, aber ohne Kenntnis der
näheren Umstände, ohne Befragung der beteiligten Polizisten und noch vor der
Vernehmung von Zeugen. Und dies, obwohl das Opfer in den Rücken getroffen worden
war. Dem schießenden Polizeibeamten könne kein Vorwurf gemacht werden, so die
vorschnell entlastende Einschätzung der Staatsanwaltschaft. Der stark
angetrunkene Bastubbe habe sich im entscheidenden Moment in Bewegung befunden,
so dass der Beamte mit einem erneuten Steinwurf habe rechnen müssen. Im übrigen
sei der mutmaßliche „Automatenknacker“ bereits polizeibekannt, unter anderem
wegen Körperverletzung, Drogendelikten, Diebstahls und Sachbeschädigung. So
wurde der Getötete der Öffentlichkeit als vorbestrafter Krimineller präsentiert,
der an seiner Erschießung womöglich nicht ganz unschuldig war. Als wäre ein in
der Vergangenheit Gestrauchelter vogelfrei.
Warum, so ist zu fragen, waren zwei
Beamte in der konkreten Krisensituation nicht in der Lage, einen mutmaßlichen
Steinewerfer, der ansonsten nicht bewaffnet war, zu bändigen, nachdem der andere
Verdächtige bereits festgenommen worden war? War das nur mit Waffengewalt
möglich, oder hätte es mildere Mittel gegeben? Ist der Einsatz einer Schusswaffe
gegen einen Steinewerfer nicht unprofessionell und unverhältnismäßig, wie die
Bundesarbeitgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten meint? Warum
haben sich die Polizisten nicht einfach vorläufig zurückgezogen, etwa um
Verstärkung abzuwarten?
Fragen über Fragen, die nach über einem
Jahr noch immer nicht geklärt sind. Warum hat der erfahrene, umfassend
ausgebildete Polizist zuvor keinen Warnschuss abgegeben? Warum wurde Bastubbe in
den Rücken getroffen? Sollte er womöglich fluchtunfähig geschossen werden und
wurde dabei auf der Flucht erschossen? Liegen die Gründe und Ursachen für den
tragischen Ausgang in mangelhafter Ausbildung oder am Schießtraining? Im Zuge
der Aufarbeitung müsste gerade das Schießtraining besonders analysiert und
kritisch hinterfragt werden. War es lebensnah oder werden in den Schießkinos
realitätsferne Actionszenen simuliert, mit denen das Schießen als Reflex
getrimmt wird – also schießen, ohne zu denken, ohne alternative
Konfliktlösungsstrategie. Das könnte in Alltagssituationen fatale Folgen
haben.
Geklärt werden muss aber auch die Frage,
ob Bastubbe heute noch leben könnte, wenn eine andere Munition verwendet worden
wäre? Weil sich das neuartige Deformationsgeschoss beim Auftreffen auf
„Weichziele“ – das ist die dezente Umschreibung des menschlichen Körpers –
aufpilzend verformt, reißt es, wie gesagt, große Wunden, bevor es im Gewebe
stecken bleibt. Weil damit absichtlich starke Leiden und schwere innere
Verletzungen verursacht werden, hält etwa die Bundesarbeitsgemeinschaft
Kritischer Polizistinnen und Polizisten diese Munition für “unmenschlich,
grausam und unverhältnismäßig”. Insoweit hat diese Munition zumindest
Ähnlichkeit mit den völkerrechtlich nach der Haager Landkriegsordnung und dem
Genfer Rotkreuz-Abkommen – allerdings ”nur” für Kriegszwecke – geächteten
”Dum-Dum-Geschossen”. Das im Kriegsvölkerrecht verankerte Verbot sei schon
deshalb nicht einschlägig, war im Fachorgan “Deutsche Polizei” (GdP) als Replik
auf diesen Vorwurf zu lesen, “weil unsere Polizeibeamten sich nicht (Gott sei
Dank) im Kriegszustand befinden”. Eine eher verwegene Rechtfertigung für die
Verwendung von Deformationsmunition im Polizeialltag. Richtig ist allerdings,
dass sich diese Geschosse, anders als Dum-Dum-Munition, nicht in zahlreiche
Splitter zerlegen.
Innerhalb der Polizei stehen die
kritischen Polizisten mit ihrer kategorischen Ablehnung aus humanitären Gründen
allerdings ziemlich alleine da. Doch die Polizeirechtler Hans Lisken und Erhard
Denninger mahnen in ihrem ”Handbuch des Polizeirechts” eine eng begrenzte
Anwendung von Deformationsgeschossen an: Weil diese nicht selten über den Tod
zur Handlungsunfähigkeit führen, dürfen sie nach ihrer Auffassung nur eingesetzt
werden, ”wenn die Voraussetzungen für einen gezielt tödlichen Schuß vorliegen” –
nach einigen Länderpolizeigesetzen etwa im Fall von Geißelnahmen bzw. in
Nothilfesituationen.
Bislang gibt es keine verlässliche
Untersuchungen zur Wirkung der Deformationsgeschosse im Polizeialltag. Ginge es
nach den Vorstellungen des früheren thüringischen Innenministers Christian
Köckert, dann bräuchte gerade diese Frage erst gar nicht untersucht zu werden:
Denn es gebe keinen Grund anzunehmen, dass die tödliche Verletzung Bastubbes
durch diese Munition verursacht wurde. Doch selbst wenn sich aufgrund eines
Gutachtens herausstellen sollte, so der damalige Innenminister im Innenausschuss
des Thüringer Landtags, dass bei Verwendung der früheren Munition die Verletzung
geringer gewesen wäre, ändere das nichts an den Gründen, die für die Verwendung
der neuen Munition sprächen.
Die Staatsanwaltschaft, die im Todesfall
Bastubbe zunächst ohne nähere Kenntnis der Umstände von Notwehr ausging,
versprach, den Vorfall restlos aufzuklären. Nichts werde vertuscht. Angesichts
dieser Beteuerung mutet es allerdings verwunderlich an, dass ausgerechnet die
Polizeidirektion Nordhausen beauftragt wurde, federführend gegen ihren
beschuldigten Kollegen zu ermitteln – und nicht etwa das Landeskriminalamt oder
die Abteilung „Innere Ermittlungen“, wie es ein Erlass des Innenministeriums bei
Beschuldigungen gegen Polizeibeamte vorschreibt.
Die Medien in Thüringen berichteten
ausführlich über diesen polizeilichen Todesschuss und befassten sich auch – mehr
oder weniger kritisch – mit seiner widersprüchlichen Aufarbeitung. Kritikern der
anfangs zögerlichen Ermittlungen begegnete die Polizeiführung zunächst mit
massiven Einschüchterungsversuchen, die für erheblichen Wirbel sorgten. Trotz
des öffentlichen Drucks, der so entstand, dauerte es über neun Monate, bis die
Staatsanwaltschaft endlich Anklage gegen den beschuldigten Polizeibeamten erhob.
„Fahrlässige Tötung“ aufgrund eines „intensiven Notwehrexzesses“ lautet nun der
Vorwurf (vgl. Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Mühlhausen vom
29.04.2003). Der Ankläger geht also weiterhin von einer Notwehrsituation aus.
Dem Beschuldigten wird nur angelastet, das „Maß der erforderlichen Abwehr“
fahrlässig, also unter Missachtung seiner Sorgfaltspflichten, überschritten zu
haben: Als ausgebildeter Polizist hätte er erkennen können und müssen, „dass
andere, weniger einschneidende Maßnahmen ausreichend gewesen wären“, um den
Angriff abzuwehren. Insbesondere hätte er weitere Verstärkung herbeirufen und
auch kurzzeitig zurückweichen können, um sich vor dem Angreifer zu schützen.
Noch ist die Anklage vom Landgericht Mühlhausen nicht
zugelassen.
Bis zum Abschluss des Verfahrens gilt für
den Angeklagten die Unschuldsvermutung. Das bedeutet aber nicht, dass bis dahin
jedes kritische Hinterfragen unzulässig wäre – genauso wenig wie im Fall des
Wanderers Friedhelm Beate, der 1999 von zwei Thüringer Zivilpolizisten an der
Tür seines Hotelzimmers erschossen wurde. Es waren Beamte der gleichen
Polizeidirektion in Nordhausen. Zur Erinnerung: Die beiden Zivilpolizisten
wurden von ihren Vorgesetzten nach Heldrungen ins Hotel "Zur Erholung" beordert,
um die Identität eines verdächtigen Hotelgastes festzustellen. Das Hotelpersonal
hatte vermutet, dass es sich bei diesem Gast um den als extrem gefährlich
geltenden "Mörder von Remagen", Dieter Zurwehme, handeln könnte. Er soll, so
hieß es in Fahndungsaufrufen, mit Wanderstock und Rucksack durch die Lande
ziehen, sein Konterfei wurde millionenfach verbreitet.
Die Ähnlichkeit des Kölner Wanderers im
Hotel "Zur Erholung" mit dem flüchtigen Zurwehme beschränkte sich in Wahrheit
auf Wanderstock und Rucksack – im Thüringischen keine besondere Seltenheit. Für
eifrige Dienstvorgesetzte dennoch Grund genug, Untergebenen den Auftrag zu
erteilen, sofort die Identität des Kölners festzustellen – ohne ihnen aber
Vergleichsfotos des Verdächtigen mitzugeben, der dem gesuchten Zurwehme in
keiner Weise ähnlich sah. Grund genug auch für die dienstfertigen
Polizeibeamten, den Hotelwirt nachts gegen 23 Uhr an die Zimmertür trommeln zu
lassen und den müden Wanderer aus dem Bett zu nötigen. Der arglose Friedhelm
Beate öffnete die Tür einen Spalt breit und sah in zwei Pistolenläufe, dahinter
zwei Männer in Zivil. Instinktiv soll Beate daraufhin versucht haben, die Tür
wieder zuzuschlagen – eine überaus verständliche Reaktion. Sie kostete ihn das
Leben. Denn in diesem Moment fallen auch schon die Schüsse: Die erste Kugel
trifft den Wanderer mitten ins Herz, die zweite durchschlägt die Tür und streift
seine Rippen. Die Schützen leisten nicht etwa sofort Erste Hilfe, sondern warten
auf das Spezialeinsatzkommando, das erst verspätet eintrifft. Beate ist längst
auf dem Fußboden seines Hotelzimmers verstorben.
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft soll
Friedhelm Beate nach einer der ihn bedrohenden Waffen gegriffen haben. In diesem
"Gerangel" habe sich dann der tödliche Schuss aus der Pistole des Polizeibeamten
Peter Z. gelöst. Der Schuss seines Kollegen Jörg K. habe die geschlossene Tür
durchdrungen und das Opfer noch gestreift. Beide Beschuldigten hätten erklärt,
so die Staatsanwaltschaft weiter, dass sie "unabsichtlich, gleichermaßen als
Reflex", geschossen hätten – ein Gutachter nennt das eine "vegetative Reaktion"
auf den international gesuchten Mörder Zurwehme, den sie an der Hotelzimmertür
vor sich wähnten. In dieser Stresssituation sei das Urteilsvermögen der
Polizisten eingeschränkt gewesen. Durch das "Gerangel" an der Tür habe sich eine
"Eigendynamik" entwickelt, die ihnen ein Handeln in Sekundenschnelle abgenötigt
habe – mit tödlichen Folgen, aber ohne juristische Konsequenzen. Wäre am Ende
Dieter Zurwehme erschossen auf dem Hotelfußboden gelegen – Deutschland hätte
nach erfolgreicher Hetzjagd wohl erleichtert aufgeatmet ob dieser gerechten
Strafe und ihrer prompten Exekution. So aber ist es nach Einschätzung der
Staatsanwaltschaft ein "tragischer" Verwechslungsfall, eine fahrlässige Tötung,
die jedoch ungesühnt bleiben müsse, da den schießenden Polizisten nichts
vorzuwerfen sei; noch nicht einmal unterlassene Hilfeleistung. Dass sich die
zwei Polizeibeamten und ihre Dienstvorgesetzten durch gravierende Fehler und
mangelhafte Klärung im Vorfeld selbst in diese prekäre Situation
hineinmanövriert hatten, bleibt unberücksichtigt. Die Angehörigen des Opfers
könnten ja, so die Staatsanwaltschaft, gegen den Einstellungsbescheid Beschwerde
einlegen – was sie auch getan haben.
Dass es soweit kommen muss, ist im Fall
von tatverdächtigen Polizisten nicht ungewöhnlich: Stress, Angst und
Überforderung schützen Polizeibeamte immer wieder vor Strafe – obwohl sie doch
im Umgang mit der Waffe in Fahndungs- und Stresssituationen besonders geschult
werden. An die Sorgfaltspflicht von Polizeibeamten werden immer wieder
erschreckend geringe Maßstäbe angelegt.
Bei der Exkulpation ist immer wieder ein
ähnliches Muster zu beobachten, wenn es um die staatliche Aufarbeitung von
polizeilichen Todesschüssen geht, die sich "unabsichtlich gelöst" haben sollen.
Nach diesem Muster hat 1997 auch das Landgericht Hannover den wegen fahrlässiger
Tötung angeklagten SEK-Polizeibeamten Klaus T. freigesprochen. Öffentliche
Empörung, auch im Ausland, hatte immerhin dazu geführt, dass Anklage erhoben und
ein Prozess eröffnet wurde. Im Urteil folgte das Gericht den Einlassungen des
Angeklagten. Es machte sich die Version zu eigen, die Tötung des kurdischen
Jungen Halim Dener durch einen Schuss aus dem Dienstrevolver sei ein
Unglücksfall gewesen. Dem Beamten sei nämlich beim Versuch der Festnahme des
späteren Opfers und während eines anschließenden "Gerangels" der Revolver aus
dem Holster gefallen. Der Schuss müsse sich beim Zurückführen der Waffe und
Losreißen des Flüchtenden unbeabsichtigt gelöst haben. Halim Dener wurde aus
einer Entfernung von ungefähr zehn Zentimeter in den Rücken getroffen und
verblutete wenig später. Der 16-Jährige hatte Plakate für eine PKK-nahe
Organisation geklebt, die in Deutschland damals als "terroristische Vereinigung"
galt. Auch hier also ein entsprechendes Bedrohungsszenario, das für einen
erhöhten Adrenalinspiegel sorgte: Plakatekleben als terroristisches
Delikt.
Das Gericht billigte dem Polizisten zu,
dass er in dieser Stresssituation, in der er einen unbewaffneten 16jährigen
Plakatekleber festhalten und gleichzeitig seine zu Boden gefallene Waffe wieder
holstern wollte, "deutlich überfordert" gewesen sei. Er habe den Schuss unter
Stress in einer außergewöhnlichen Situation unabsichtlich abgegeben. Bloße
Unvorsichtigkeit sei keine Fahrlässigkeit. Die Situation sei so dramatisch
zugespitzt gewesen, "dass auch ein ausgebildeter SEK-Beamter sie nicht in den
Griff bekommt", urteilte das Gericht über die "Fähigkeiten" besonders geschulter
Angehöriger von Spezialeinsatzkommandos. Grundlage für diese Argumentation war
das Gutachten des für das SEK tätigen Unfallforschers und Sachverständigen für
Sensomotorik an der Universität Bremen, Professor Ungerer – eben dieser Experte
trug dann mit ganz ähnlichen Formulierungen auch zur Exkulpation der beiden
Polizeibeamten bei, die den Kölner Wanderer Friedhelm Beate erschossen haben.
Nach dem so begründeten Freispruch zeigte
sich auch die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ erstaunt: “Wenn SEK-Beamte mit
der Verfolgung eines unbewaffneten 16Jährigen hoffnungslos überfordert sind,
wenn es nach Zeugenaussagen vorkommen kann, beim Laufen den Revolver zu
verlieren, dann sollte der Bürger künftig in Deckung gehen, wenn die angeblich
so hochqualifizierten Spezialeinsatzkommandos unterwegs
sind.“
Zurück zum Heldrunger Todesschuss, der
bis heute ohne strafrechtliche Folgen blieb: Ein Ermittlungsverfahren gegen die
beteiligten Polizeibeamten wurde inzwischen bereits zum zweiten Mal eingestellt.
Der letzte Einstellungsbescheid vom Februar 2003 stützt sich wiederum auf das
Gutachten jenes Sachverständigen für Sensomotorik, dessen Unvoreingenommenheit
nach seiner Beratertätigkeit für das Spezialeinsatzkommando (SEK) in
Niedersachsen höchst umstritten ist. Der tödliche Schuss könne sich durch eine
„unbeabsichtigte Kontraktion des Zeigefingers“ gelöst haben, der zweite Polizist
könne nach dem ersten Schuss „aus Schreck einem unbewussten Mitzieheffekt“
unterlegen sein. Aufgrund dieser Feststellung, so die Staatsanwaltschaft Erfurt,
könne eine willentliche Schussabgabe nicht mit hinreichender Sicherheit
nachgewiesen werden, weshalb von einer Anklage abgesehen werde. Die Angehörigen
Beates haben über ihren Kölner Anwalt Dr. Krämer gegen diesen Bescheid wiederum
Rechtsmittel eingelegt.
In der Bundesrepublik
werden seit den 70er Jahren in jedem Jahrzehnt im Durchschnitt 125 Menschen von
Polizeikugeln tödlich getroffen – auf frischer Tat, etwa bei Geiselnahmen, zur
Abwehr von tatsächlichen oder vermeintlichen Angriffen, bei Verkehrs- und
Ausweiskontrollen, beim Versuch der Festnahme oder auch bei dem Versuch, einen
mutmaßlichen Verbrecher oder flüchtigen Strafgefangenen fluchtunfähig zu
machen.
Durchschnittlich fallen
also Jahr für Jahr zwölf bis dreizehn Menschen polizeilichen Todesschüssen zum
Opfer, mal sind es, wie etwa im Jahr 1999, neunzehn, mal, wie im Jahr 2001,
lediglich acht.
In den jährlich
erscheinenden amtlichen Schusswaffenstatistiken der Innenministerkonferenz sind
diese Zahlen seit etlichen Jahren nachzulesen. Besonderes Verdienst bei der
Sammlung und kritischen Auswertung von Todesschuss-Fällen kommt der Zeitschrift
„Bürgerrechte & Polizei“ in Berlin (http://www.cilip.de/) zu, die sich seit Ende der
70er Jahre um Aufklärung auf diesem Gebiet bemüht – also bereits zu einer Zeit,
in der noch keine offiziellen Angaben gemacht wurden. Seit es amtliche Zahlen
gibt, kommt es nicht selten zu Differenzen zwischen diesen und den Angaben der
Zeitschrift. Das liegt unter anderem daran, dass in der amtlichen Statistik seit
1983 die sogenannte „unbeabsichtigte Schussabgabe“ auch dann nicht mehr
mitgezählt wird, wenn sie zu tödlichen Folgen führte.
So tragisch solche
Vorfälle sind – es kommt noch ein gravierendes Problem hinzu: das der
mangelhaften Aufarbeitung von Todesschüssen, aber auch von Polizeiübergriffen
und unverhältnismäßigen Polizeieinsätzen. Die Aufklärungspraxis verläuft in
aller Regel schleppend, was letztlich zu einer relativen Sanktionsimmunität von
mutmaßlichen Polizeitätern und ihren Dienstvorgesetzten führt. Woran liegt das?
Einige der möglichen strukturellen Probleme und Hindernisse bei der Aufklärung
sollen im folgenden kurz benannt werden:
1. Spezielle Dienstbetreuung: Die meisten
Polizeilichen Todesschützen, so die Erfahrung, erleiden nach ihrer Tat einen
Schock und sind mitunter wochenlang vernehmungsunfähig. Für sie gelten –
gestützt auf die „Fürsorgepflicht“ ihres Dienstherrn – gewisse Sonderrechte: Sie
werden von der Außenwelt abgeschottet und erhalten regelmäßig eine spezielle
dienstliche und polizeipsychologische „Betreuung“, bevor sie verantwortlich
vernommen werden – wohingegen „normale“ Bürger, die in eine tödliche Schießerei
verwickelt waren, auf der Stelle verhört werden, oft stundenlang, und in
Untersuchungshaft wandern. Selbstverständlich kämpft jeder Polizist, der ein
Menschenleben auf dem Gewissen hat, mit schweren Schuldgefühlen, unabhängig
davon, ob er formal im Recht war oder nicht. Der tödliche Schuss ist „wie ein
Urknall, da entsteht eine neue Welt, die Außenstehende oft nicht begreifen“,
weiß Polizeipfarrer Martin Krolzig, der schon viele Todesschützen betreut hat.
Fast immer werde der Schuss zum Knick in der Laufbahn.
Doch unabhängig davon, dass solche
persönlichen Probleme angemessen aufgearbeitet werden müssen, birgt die
dienstliche „Betreuung“ oder „persönliche Nachbereitung“ durch Führungsbeamte
etliche Gefahren, die bis zur Manipulation der Ermittlungen führen können, ja
bis zur dienstlichen Beeinflussung von Polizeizeugen.
2. Mangelnde Unabhängigkeit: Eine falsch
verstandene „Fürsorgepflicht“ der Polizeiführungen gegenüber ihren
Polizeibeamten schlägt nicht selten durch bis zur Staatsanwaltschaft. Die
Ankläger haben sich insoweit nur selten als Korrektiv erwiesen. Da die Polizei
im Auftrag der Staatsanwaltschaft – als deren „Hilfsbeamte“ sie dann tätig wird
– auch die Ermittlungen in eigener Sache führt, wird sie also Ermittlungsinstanz
gegen sich selbst – eine in einem demokratischen Rechtsstaat unerträgliche
Situation. Die funktionell dem „Staatswohl“ dienenden Staatsanwälte tun sich
traditionell schwer damit, gegen in Verdacht geratene „Staatsdiener“ im
Polizeidienst mit der gleichen Intensität zu ermitteln, wie sie das gegen
Privatpersonen zu tun pflegen. Schließlich ist die Staatsanwaltschaft im Rahmen
der Strafverfolgung auf ihre polizeilichen „Hilfsbeamten“ und deren Loyalität
angewiesen – eine objektive Nähe, die die Ermittlungen als Kontrolle im eigenen
Lager und damit als nicht wirklich unabhängig erscheinen lässt. In diesem
Verfahrensabschnitt bleiben denn auch viele der Ermittlungsverfahren
hängen.
3. Exekutive Steuerung: Der Polizei als
einerseits durch Schusswaffengebrauch beteiligter Partei sowie als später
ermittelnder Behörde andererseits fällt in gewisser Weise die Definitionsmacht
über die jeweilige Situation vor Ort zu, etwa was die Frage Bedrohungssituation,
Notwehr oder Putativnotwehr betrifft. Vielfach wird der Polizei die Vernehmung
der eigenen beschuldigten Kollegen übertragen; gelegentlich unterbleiben
ansonsten übliche Ermittlungsmaßnahmen und Beweismittel werden unterdrückt.
Die Polizeiführungen haben Einfluss darauf, ob und was Polizeizeugen vor Gericht
aussagen dürfen, wann etwa beamtete Zeugen gesperrt oder mit eingeschränkten
Aussagegenehmigungen ausgestattet werden, falls es um polizeistrategische
oder –taktische Angelegenheiten geht, die aus Gründen des „Staatswohls“
geheimgehalten werden müssen. Diese exekutiven Steuerungsmöglichkeiten und
selektiven Ermittlungen haben entscheidenden Einfluss auf die späteren
Beweiserhebungen und Sachverhaltsfeststellungen der befassten Gerichte.
4. Exekutiver Amtsbonus: Kommt es trotz
dieser Negativ-Faktoren doch zu einer Anklage und zu einer Hauptverhandlung
gegen beschuldigte Polizeibeamte, dann haben sie häufig auch vor Gericht einen
relativ guten Stand. Denn manche Strafrichter haben die exekutive Position immer
noch so stark verinnerlicht, dass sie bereit sind, den Polizeiführungen und den
einzelnen beschuldigten Polizisten vieles nachzusehen und beamteten Zeugen mehr
zu glauben als Privatpersonen. So triumphiert die parteiliche Polizeiversion
über tödlich verlaufene Fahndungen, Verkehrs- und Identitätskontrollen oder
Festnahmen mitunter qua exekutivem Amtsbonus über die historische Wirklichkeit –
und wird so zur Basis eines Gerichtsurteils, das dem „Wohle“ des Staates dient,
der sich auf diese Weise der Bevölkerung gegenüber zu entlasten weiß. So mancher
Richter wird so zum Rechtfertigungsgehilfen im Sinne der „Staatsräson“, das
Strafurteil zur nachträglichen Legitimierung tödlich verlaufener
Polizeipraktiken und mitverantwortlicher apparativer Strukturen. Doch es gibt
immer wieder rühmliche Ausnahmen von diesem Grundmuster.
5. Rechtfertigungsmuster: Die meisten der
eingeleiteten Ermittlungsverfahren werden letztlich eingestellt, enden mit einem
Freispruch, mit einer Geld- oder geringen Bewährungsstrafe – entweder, weil der
beschuldigte Beamte nach Polizeirecht oder den Dienstvorschriften schießen
durfte oder weil der Todesschütze in Nothilfe oder Notwehr gehandelt habe, etwa
weil ihn das Todesopfer, das er nur kampfunfähig schießen wollte, zuvor bedroht
habe. Das sind sogenannte Rechtfertigungsgründe, die Polizeibeamten als Träger
hoheitlicher Gewalt ebenso wie ganz normalen Bürgern selbstverständlich, aber
zuweilen recht unhinterfragt zugestanden werden.
Auch wenn tatsächlich keine
Notwehrsituation erkennbar ist, dann mag der Polizeischütze zumindest Umstände
angekommen haben, die eine tödliche „Notwehrhandlung“ entschuldigen, obwohl
tatsächlich keine objektive Gefahr bestanden hatte. Das nennt sich dann
„vermeintliche“ oder Putativ-Notwehr: Zum Beispiel habe das Opfer eine
„verdächtige“ Bewegung gemacht, obwohl es tatsächlich unbewaffnet war – wie etwa
jener Mann, der wegen eines Verkehrsverstoßes vor der Polizei geflüchtet war.
Als ihn einer der Polizisten mit gezogener Pistole stellte und „Hände hoch“
rief, nahm er die Hände aus der Hosentasche. Der Beamte fühlte sich bedroht,
schoss und traf den Verkehrssünder tödlich.
6. „Organisierte
Verantwortungslosigkeit“: Obwohl das Problem polizeilichen Schusswaffengebrauchs
mit Todesfolge nicht allein ein individuelles, allein in der Person des Schützen
liegendes Problem ist, bleiben die strukturellen und mentalen Ursachen und
Bedingungen bei der justiziellen Aufarbeitung allzu oft unberücksichtigt – zumal
sich das individualisierende Strafverfahren kaum eignet, die bürokratischen
Strukturen, antrainierten Handlungsmuster (etwa im Zusammenhang mit der
„Eigensicherung“) und ideologischen Konstrukte (etwa „Feindbilder“), um die es
eben auch geht, zu erfassen und mitverantwortlich zu machen für das polizeiliche
Verhalten. Die eigentlich verantwortlichen (Führungs-) Personen und
mitursächlichen Strukturen bleiben also ungeschoren. Auf diese Weise können sich
Polizei und Bedienstete gelegentlich „hinter einer organisierten
Verantwortungslosigkeit und dem Schutzschild der Amtsautorität zurückziehen“,
wie es der Polizeiforscher Falko Werkentin schon früher
formulierte.
So berücksichtigten Gerichte etwa
zugunsten des Angeklagten strafmildernd, dass er „im Rahmen der
Fortbildungslehrveranstaltungen eine zum Schusswaffengebrauch eher ermunternde
als Zurückhaltung empfehlende Ausbildung erhalten“ habe, für die er nicht
verantwortlich sei; oder in einem anderen Fall, dass es an der erforderlichen
Schießausbildung gefehlt habe. Im übrigen sollen durch die strafrechtliche
Ahndung „Einsatzfreude“ und „Risikobereitschaft“ der Polizeibeamten – und damit
die „Funktionstüchtigkeit“ der Polizei – nicht beeinträchtigt
werden.
Eine wirklich unabhängige Kontrolle in
diesem Bereich polizeilich-finalen Handelns, aber auch im Fall von
Polizeiübergriffen, findet eher selten statt. Um den genannten strukturellen
Kontrollhindernissen wenigstens ansatzweise entgegenwirken zu können, ist eine
kritische Öffentlichkeit unabdingbar – damit Ermittlungsverfahren gegen
beschuldigte Polizeibeamte nicht gleich im Vorfeld sang- und klanglos
eingestellt werden. Denn erst in einem öffentlichen Prozess kann die offizielle
Polizeiversion – insbesondere durch Nebenkläger und Medien – kritisch
hinterfragt, sollten auch die strukturellen Hintergründe der Tat thematisiert
werden. Das ist auch zur Aufklärung der Todesschüsse von Heldrungen und
Nordhausen mit Nachdruck zu fordern.
Polizeiliche Todesschützen, aber auch
andere mutmaßliche Polizeitäter dürfen sich nicht länger hinter dem Schutzschild
der Amtsautorität verschanzen, ihnen dürfen im Ermittlungsverfahren nicht länger
aus “Fürsorgepflicht” Sonderrechte eingeräumt werden, sie dürfen nicht
schonender behandelt werden, als andere mutmaßliche Straftäter. Und es ist nicht
hinnehmbar, dass die Exekutive prägenden Einfluss auf die Ermittlungen – in
denen die Polizei oft in eigener Sache tätig wird – und auf die anschließenden
Strafverfahren nimmt, wie sie es in Thüringen wiederholt versucht hat. Sonst
triumphiert wieder die Polizeiversion.
Dr.
Rolf Gössner
ist Rechtsanwalt und Publizist, seit kurzem Präsident der „Internationalen Liga
für Menschenrechte“ (Berlin). Mitherausgeber der Zweiwochenschrift
„Ossietzky“. Im Herbst erscheint im Münchner Knaur-Taschenbuchverlag sein
neues Buch: „Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes –
Kriminelle im Dienst des Staates“. Internet: http://www.rolf-goessner.de/