31. Oktober 2005
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http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/dokumentation/?cnt=749044
LANGFASSUNG
Er hat die Sicherheit zum Grundrecht gekürt
Der
Big Brother Award 2005 in der Kategorie "Lifetime" geht an
Bundesinnenminister Otto Schily / Die Laudatio von Rolf Gössner
Für sein "Lebenswerk" - den Ausbau des
deutschen und europäischen Überwachungssystems auf Kosten der Bürger - erhielt
der noch amtierende Bundesinnenminister Otto Schily am vergangenen Freitag den
Big Brother Award.
Otto
Schily erhielt in diesem Jahr mit Abstand die meisten Nominierungen - wie
übrigens schon im Jahr 2001, als er für seine "Otto-Kataloge" den
"BigBrotherAward" in der Kategorie "Politik" verliehen
bekam. In der Jury bestand große Einigkeit, dass Schily in diesem Jahr, zum
mutmaßlichen Ende seiner politischen Karriere, der "Lifetime-Award"
für langjährige "Verdienste" gebührt - wohlwissend, dass wir mit
unserer Würdigung im Rahmen der Verleihung eines Negativpreises einer so
schillernden Persönlichkeit wie Otto Schily und seiner gesamten Lebensleistung
bei Weitem nicht gerecht werden können. Leider können wir hier und heute nur
eine Auswahl aus der Fülle seiner beeindruckendsten Projekte und Initiativen
würdigen.
Otto
Schily erhält den BigBrother-Lifetime-Award 2005
-
ganz aktuell für die übereilte Einführung des
biometrischen ePasses mit unausgereifter Technologie und ohne parlamentarische
Legitimation,
-
darüber hinaus für seine "Verdienste" um den
Ausbau des deutschen und europäischen Überwachungssystems auf Kosten der
Bürger- und Freiheitsrechte,
-
für seine hartnäckigen Bemühungen um die Aushöhlung des
Datenschutzes und der Informationellen Selbstbestimmung unter dem Deckmantel
von Sicherheit und Terrorbekämpfung - Stichwort: "Antiterror"-Gesetze
(auch "Otto-Kataloge" genannt),
-
für seine maßgebliche Mitwirkung am Großen Lauschangriff
sowie
für seine
Angriffe auf die Unabhängigkeit des Bundesdatenschutzbeauftragten und gegen die
Pressefreiheit.
Biometrische Obsession: der neue ePass
Zu den großen Obsessionen unseres Preisträgers gehört die digitale
Erfassung von biometrischen Merkmalen in Ausweispapieren. Schon ab 1. November
2005, also in wenigen Tagen, wird in der Bundesrepublik als erstem EU-Land der
Reisepass mit solchen Merkmalen ausgerüstet. Auf einem kontaktlos per Funk
auslesbaren RFID-Mikrochip wird neben den Personalien zunächst ein
digitalisiertes Gesichtsbild gespeichert, ab März 2007 kommen zwei digitale
Fingerabdrücke hinzu. Die Speicherung weiterer Merkmale, etwa Irisscan oder
genetischer Fingerabdruck, ist möglich. Der nächste Schritt wird die Einführung
des biometrischen Personalausweises sein.
Unter souveräner Missachtung von Parlamenten und Datenschützern und
ohne gesellschaftliche Debatte boxte Schily sein Lieblingsprojekt auf EU-Ebene
durch - am Bundestag vorbei, ohne demokratische Legitimation. Statt das
Parlament über die Folgen für Datenschutz und Bürgerrechte entscheiden zu
lassen, forcierte er eine EU-Verordnung, die unmittelbare Rechtswirkung in
allen EU-Ländern hat. So brachte es Schily fertig, das Pass-Gesetz (§ 4) zu
umgehen, das zur Festlegung der biometrischen Daten ein neues, vom Bundestag zu
beschließendes Gesetz fordert.
Nicht nur wir halten Schilys selbstherrlichen Akt für zutiefst
undemokratisch. Als der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar (Grüne) diese
übereilte Einführung des ePasses durch die europäische Hintertür kritisierte
und ein umfassendes sicherheitstechnisches Konzept zum Schutz der Daten forderte,
bezichtigte ihn Otto Schily des Amtsmissbrauchs. Es liege nicht in Schaars
Kompetenz, über Sinn und Zeitpunkt der Einführung biometrischer Merkmale zu befinden,
wies ihn Schily via Deutschlandfunk zurecht und empfahl ihm gebieterisch
"mehr Zurückhaltung".
Mit diesem selbstgerechten Angriff auf die Unabhängigkeit des
Datenschutzbeauftragten wollte Schily offenbar einen fachkundigen Kritiker in
seinem eigenen Verantwortungsbereich zum Schweigen bringen. Doch es gehört zu
den Pflichten eines Datenschutzbeauftragten, die betroffene Bevölkerung darauf
aufmerksam zu machen, dass bis heute keine transparente Risikoanalyse
existiert, um Missbrauch und Systemanfälligkeiten der Digital-Biometrie in
Ausweisen überhaupt einschätzen zu können. Nach einer Studie des Bundesamtes
für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) ist die neue Technologie weder
praxistauglich noch ausgereift. So ist die Gesichtserkennung stark
fehlerbehaftet, allein schon, weil sich Gesichter im Laufe der Jahre erheblich
verändern. Es steht zu befürchten, dass täglich Tausende Menschen an Flughäfen
zurückgewiesen und in ihrer Reisefreiheit beschränkt werden, weil ihre
digitalen Fotos oder Fingerabdrücke von der Software nicht akzeptiert werden
oder einem Vergleich mit dem leibhaftigen Original nicht Stand halten. Solche
Personen kommen in Rechtfertigungszwang, schlimmstenfalls geraten sie in einen
bösen Verdacht.
Elektronische Ausweise sind zudem missbrauchsanfällig: Die
biometrischen Daten können an allen Kontrollstellen im In- und Ausland
ausgelesen und in Datenbanken gespeichert werden - ohne dass die Betroffenen
wissen, wer auf die sensiblen Daten Zugriff hat und was anschließend mit ihnen
passiert. Selbst das kontaktlose und daher unbemerkte Auslesen der RFID-Chips
per Funk ist nicht wirklich auszuschließen, so dass nicht nur Grenzkontrollstellen,
sondern auch unbefugte Dritte Bewegungsprofile von arglosen Passinhabern
anfertigen könnten.
Zwar konnten die Grünen im Bundestag Schilys ursprünglichen Plan, alle
biometrischen Daten in einer Zentraldatei zu speichern, bislang noch
verhindern. Doch auch dezentrale Speicherungen würden Risiken bergen: Mit geringem
Mehraufwand könnten biometrische Passdaten aus dezentralen Dateien automatisch
mit Fahndungsdateien und Fingerabdrücken von Straftätern und Verdächtigen
abgeglichen werden, aber auch mit Fingerabdrücken, die an Tatorten gefunden
werden. Und die digitalisierten Gesichtsbilder könnten etwa mit Video-Aufnahmen
aus dem öffentlichen Raum abgeglichen werden, um eine verdächtige oder gesuchte
Person herauszufiltern. Ein weiterer Schritt zum Generalverdacht gegen alle
Bürgerinnen und Bürger dieses Landes - oder gleich ganz Europas, denn auf
EU-Ebene gibt es bereits Pläne für eine biometrische Zentraldatei.
Im Zusammenhang mit elektronischen Ausweispapieren wird eine
milliardenteure Überwachungsinfrastruktur mit hohem Missbrauchspotential
aufgebaut. Für die Bürger steigen die Kosten eines Reisepasses um mehr als das
Doppelte von 26 auf 59 Euro - wie hoch die Infrastrukturkosten liegen, wagen
wir nicht zu schätzen. Doch der riesige Kostenaufwand steht in keinem
vernünftigen Verhältnis zum angeblichen Sicherheitsgewinn. Denn auch der ePass
mit seinen biometrischen Merkmalen kann manipuliert werden. Im übrigen gelten
die bisherigen bundesdeutschen Ausweispapiere schon jetzt als die fälschungssichersten
der Welt.
Gleichwohl verkaufte Otto Schily sein biometrisches Projekt als großen
Fortschritt für die Sicherheit und als wichtigen Baustein im Kampf gegen
organisierte Kriminalität und internationalen Terrorismus. Mit dieser Behauptung
nährt Schily allenfalls eine riskante Sicherheitsillusion, denn der ePass führt
keineswegs automatisch zu mehr Sicherheit. Weder die Selbstmord-Anschläge in
New York noch diejenigen von Madrid oder London hätten mit der neuen
Technologie verhindert werden können. Schließlich gibt es kein biometrisches
Merkmal, das signalisiert: "Dieser Pass gehört einem potentiellen
Terroristen - bitte vor jedem Anschlagsversuch kontrollieren."
Otto Schily nötigte uns den ePass nicht nur als vermeintliches
Sicherheitsinstrument auf, sondern auch als Innovationsprojekt zur Sicherung
nationaler Standortvorteile: Die rasche Einführung der biometrischen Verfahren
vor allen anderen EU-Staaten liege im ureigenen deutschen Interesse. Damit
"bringen wir den Beweis", so Schily in einer Rede am 2. Juni 2005,
"wie rasch sich deutsche Firmen auf die neue Sicherheitstechnik und auf
den zukunftsorientierten Wachstumsmarkt der Biometrie eingestellt haben".
Deutschland nehme so in Sachen Sicherheit eine Führungsrolle in der EU ein. Wir
sehen darin allerdings eine verdeckte Wirtschaftsförderung, etwa zugunsten der
Bundesdruckerei GmbH und der Chiphersteller Philips und Infineon, aber auch
vorauseilenden Gehorsam gegenüber den USA, die in Sachen Biometrie auf die
europäischen Regierungen massiven Druck ausgeübt hatten.
Die biometrisch-digitale Erfassung der gesamten Bevölkerung ist nicht
nur ein unverhältnismäßiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung,
sondern auch eine Misstrauenserklärung an die Bevölkerung. Sie muss sich
behandeln lassen, wie bislang nur Tatverdächtige oder Kriminelle im Zuge einer
Erkennungsdienstlichen Behandlung. Mit Schilys biometrischer Obsession werden
Menschen im Namen vermeintlicher Sicherheit zu bloßen Objekten staatlicher Macht
degradiert - ohne dass dies auch nur durch "Gefahrennähe" des
Einzelnen gerechtfertigt wäre. Otto Schily kontert mit dem zynischen Argument,
dass "die Würde des Fingers" auch nicht größer sei als die des
Gesichts (lt. SZ 24.8.04). Im übrigen beruft er sich gerne auf spanische
Ausweise, die bereits nicht digitalisierte Fingerabdrücke enthalten. Allerdings
verschweigt er, dass es sich dabei um ein Relikt aus faschistischen
Franco-Zeiten handelt. Und er verschweigt, dass damit weder Anschläge der
baskischen ETA noch die Anschläge von Madrid verhindert werden konnten.
Demnächst wird hierzulande selbst den hartnäckigsten
Sicherheitsfanatikern das Lachen vergehen, denn ein solches wird auf den neuen
Digitalfotos verboten sein - offene Münder oder blitzende Zähne könnten nämlich
die Hightech-Lesegeräte irritieren. Lediglich ein leichtes Grinsen mit
geschlossenen Lippen und bei ansonsten neutralem Gesichtsausdruck wird noch
statthaft sein. Beim elektronischen Gesichtsabgleich werden wohl Vollbärte,
dicke Brillen, aufgespritzte Lippen oder operierte Nasen genauso zum Sicherheitsproblem,
wie das unvermeidliche Älterwerden und tiefere Falten im Gesicht.
Vom linksliberalen Strafverteidiger zum autoritären Staats-Anwalt
Mit dem "BigBrother-Lifetime-Award" würdigen wir die
Wandlung des anthroposophisch geprägten Preisträgers Otto Schily vom
linksliberalen Anwalt über den realo-grünen Oppositionspolitiker zum
staatsautoritären SPD-Polizeiminister - eine Metamorphose, die viele Menschen
nur schwer nachvollziehen können. Vor vielen, vielen Jahren stand Schily als
herausragender Strafverteidiger der außerparlamentarischen Linken und besonders
im Stammheimer RAF-Prozess für den Kampf gegen Deformationen des Rechtsstaates,
die dieser damals im Zuge der Terrorismusbekämpfung erleiden musste. Es war
jene Zeit, in der Schily noch die mahnenden Worte einer Erklärung der
"Humanistischen Union" unterschrieben hatte: "Man bekämpft die
Feinde des demokratischen Rechtsstaats nicht mit dessen Abbau, und man verteidigt
die Freiheit nicht mit deren Einschränkung" (1978).
So ändern sich die Zeiten - dennoch will Schily von biografischen
Brüchen nichts wissen: Vom "Terroristenprozess" in Stammheim bis zu
seinen "Antiterror"-Gesetzen - kontinuierlich wähnte er sich im
Einsatz für den Rechtsstaat, wenn auch in unterschiedlichen Rollen. Doch Schily
hat nicht nur die Rollen, sondern die Seiten gewechselt - und zwar kompromisslos:
Aus dem eloquenten Strafverteidiger, der im Interesse seiner Mandanten
rechtsstaatliche Prinzipien gegen staatsautoritäre Übergriffe verteidigte,
wurde spätestens in seiner Funktion als Bundesinnenminister ein autoritärer
Staats-Anwalt, der die Macht des Staates zu Lasten der individuellen Freiheitsrechte
ausgebaut hat. Schily machte den Staat zu seinem Mandanten, für dessen
Autorität und Stärke er sich auf geradezu fundamentalistische Weise eingesetzt
hat. Schon länger hält er die Angst vor dem Leviathan, also vor einer
entfesselten Staatsmacht, für ein Problem von vorgestern. Der Einzelne müsse
heute nicht mehr vor dem Staat geschützt werden, nur noch vor Kriminalität und
Terror. Jedes Misstrauen gegen staatliche Maßnahmen ist im Schily-Staat demnach
unangebracht, ja verwerflich, zumindest verdächtig.
Mitwirkung am Großen Lauschangriff: ein Fall für den
"Verfassungsschutz"?
Schon als Oppositionspolitiker hatte der von den Grünen zur SPD
konvertierte Schily die spätere rot-grüne Koalition mit schweren Hypotheken
belastet - so mit dem Großen Lauschangriff. Schily, der in Stammheim selbst Opfer
von Lauschangriffen geworden war, hatte an der dafür nötigen
Verfassungsänderung, die ohne die SPD nicht zustande gekommen wäre, maßgeblich
mitgewirkt - und damit an der Aushöhlung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit
der Wohnung. Jahre später hat das Bundesverfassungsgericht dieses Machwerk für
weitgehend verfassungswidrig erklärt. Verfassungswidrige Betätigung -
strenggenommen ein Fall für den "Verfassungsschutz", im Fall Schily
offenbar eine höchst paradoxe Empfehlung für den Posten des Innenministers, der
schließlich auch als Verfassungs(schutz)minister fungiert.
Als Geburtshelfer des Großen Lauschangriffs hatte Schily ursprünglich
sogar für eine noch weit schärfere Fassung gefochten: Wäre es nach ihm
gegangen, wären elektronische Wanzen auch gegen Berufsgeheimnisträger wie
Journalisten oder Ärzte einsetzbar gewesen. Seit jener Zeit sind zumindest
erhebliche Zweifel an seiner Verfassungstreue angebracht, zumal er zuvor schon
die faktische Abschaffung des Asylgrundrechts betrieben hatte. Man muss sich
seitdem fragen: Ist Schily bereit, jederzeit für die freiheitlich-demokratische
Grundordnung einzutreten, wie es von jedem Beamten gefordert wird, oder neigt
er dazu, diese vermehrt zugunsten der Staatsräson und zu Lasten der Bürgerrechte
einzuschränken?
"Antiterror"Gesetze aus "Otto-Katalogen": Angriff
auf die Freiheitsrechte
Unser
Preisträger hat mit seiner Law-and-order-Politik einen gehörigen Beitrag dazu geleistet,
dass bürgerrechtliche Grundwerte in der herrschenden Sicherheitspolitik mehr
und mehr verdrängt worden sind - ganz besonders nach den Terroranschlägen vom
11.9.2001 in den USA. Damals verkündete Schily als Bundesinnenminister, die
rot-grüne Koalition werde "alle polizeilichen und militärischen Mittel
aufbieten, über die die freiheitlich-demokratische Staatsordnung, die wehrhafte
Demokratie verfügt". Mit dieser martialischen Androhung trat Schily einen
fatalen Gesetzesaktionismus los, bediente das ohnehin schier grenzenlose
Sicherheitsverlangen der Bürger und nutzte es zur Legitimierung langgehegter
Nachrüstungspläne, ließ sie aus den Schubladen der Macht kramen, zu voluminösen
"Otto-Katalogen" schnüren und mit Antiterror-Etiketten bekleben.
Anstatt der Bevölkerung die Wahrheit über Unsicherheitsfaktoren in einer
Risikogesellschaft zuzumuten und deutlich zu machen, dass absolute Sicherheit
leider nicht und nirgendwo zu erreichen ist, machen Schily und andere
Regierungspolitiker mit symbolischer Politik bis heute unhaltbare
Sicherheitsversprechen.
Mit
den sog. Antiterror-Gesetzen, für die Otto Schily wie kein anderer steht, haben
Polizei und Geheimdienste erweiterte Aufgaben und Befugnisse erhalten. Damit
wurde die ohnehin hohe Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft noch weiter
erhöht. Vermehrt können Beschäftigte in sog. lebens- oder
verteidigungswichtigen Einrichtungen geheimdienstlichen
Sicherheitsüberprüfungen unterzogen werden - mitunter auch ihre Lebenspartner
und ihr soziales Umfeld. Betroffen sind Einrichtungen und
sicherheitsempfindliche Stellen, so heißt es im Gesetz wörtlich, "die für
das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind und deren
Beeinträchtigung erhebliche Unruhe in großen Teilen der Bevölkerung entstehen
lassen würde". Gemeint sind Einrichtungen, die der Versorgung der Bevölkerung
dienen, wie Energie-Unternehmen, Krankenhäuser, Chemie-Anlagen, Bahn, Post,
Banken, Telekommunikationsbetriebe, aber auch Rundfunk- und Fernsehanstalten können
betroffen sein.
Migrantinnen
und Migranten, unter ihnen besonders Muslime, werden praktisch per Gesetz unter
Generalverdacht gestellt, zu gesteigerten Sicherheitsrisiken erklärt und einem
rigiden Überwachungssystem unterworfen - denken wir nur an die biometrische
Erfassung von Fingerabdrücken und Stimmprofilen, an geheimdienstliche Regelanfragen,
an erleichterte Auslieferungen und Abschiebungen. Ohne wirklichen Nachweis,
dass von ihnen mehr Terror ausgehe als von Deutschen, werden Migranten oft -
unter Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes - einer entwürdigenden Sonderbehandlung
unterzogen, die für viele existentielle Folgen haben kann.
Die
"Antiterror"-Gesetze bewirken eine verhängnisvolle Lockerung des
Datenschutzes, ganz im Sinne Otto Schilys, der den Datenschutz ohnehin für
"übertrieben" hielt - gerade so, als könnten selbstmörderische
Terroranschläge mit weniger Datenschutz und mehr Eingriffen in die Privatsphäre
der Bürger verhindert werden. Doch die meisten Gesetzesverschärfungen taugen
nur wenig zur Bekämpfung eines religiös-aufgeladenen, selbstmörderischen
Terrors; sie schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Freiheitsrechte
um so mehr. Etliche der Antiterror-Maßnahmen sind unverhältnismäßig, ja maßlos
- sie zeigen Merkmale eines nicht erklärten Ausnahmezustands und eines
autoritären Präventionsstaates, in dem letztlich Rechtssicherheit und Vertrauen
verloren gehen. Die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen
Errungenschaften, verliert in dieser Sicherheitskonzeption ihre
machtbegrenzende Funktion. Der Mensch wird zum potentiellen Sicherheitsrisiko,
der seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muss - während Otto Schily die
vermeintliche Sicherheit zum Supergrundrecht erklärt, das die wirklichen
Grundrechte der Bürger - als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates - in den
Schatten stellt.
Obrigkeitsstaatliche Interpretation des Rechtsstaats
In seinem missionarischen Eifer als Staatsschützer schreckte der
Preisträger selbst vor extremistischen Forderungen aus dem Arsenal von
Diktaturen nicht zurück: So würde er allzu gerne "gefährliche"
Personen ohne konkreten Verdacht in präventive Sicherungshaft nehmen lassen.
Otto Schilys zuweilen obrigkeitsstaatliche Interpretation des Rechtsstaats
zeigt sich auch in folgenden Staatschutzprojekten:
Er hat mit einem gemeinsamen Antiterror-Lagezentrum und mit dem Plan
einer zentralen "Islamistendatei" Grundsteine für einen Datenverbund
aller Geheimdienste und des Bundeskriminalamts gelegt. Eine noch engere Vernetzung
würde die Aufhebung des verfassungsmäßigen Gebots der Trennung von Polizei und
Geheimdiensten bedeuten - immerhin eine Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen
mit der Gestapo im Nationalsozialismus. Damit nimmt Schily eine
Machtkonzentration in Kauf, die kaum noch wirksam kontrollierbar sein wird.
Schily hat sich mit Vehemenz dafür eingesetzt, dass alle
Telekommunikationskontakte - ob per Telefon, SMS, Email oder Internet - zur
Terror- und Kriminalitätsbekämpfung deutschland- und europaweit für mindestens
zwölf Monate auf Vorrat gespeichert werden. Also: Wer hat mit wem, wann, wie
oft und wie lange von wo nach wo fernmündlich oder schriftlich kommuniziert,
welche SMS- oder Internet-Verbindungen genutzt, welche Suchmaschinen mit
welchen Begriffen benutzt, welche websites besucht und mit welchen
Email-Empfängern kommuniziert? Mit dieser beispiellosen Vorratsdatensammlung
ließe sich das Kommunikations- und Konsumverhalten einzelner Telekommunikationsnutzer
heimlich ablesen - Verhaltens- und Kontaktprofile inklusive.
Auch die Pressefreiheit ist vor Otto Schily keineswegs sicher: So
rechtfertigt er undifferenziert und hartnäckig die höchst umstrittene
Durchsuchung der Redaktionsräume des Monatsmagazins "Cicero" und der
Privatwohnung eines Journalisten durch das Bundeskriminalamt (BKA), zu der
Schily die Ermächtigung erteilt hatte. Der Journalist hatte zulässigerweise aus
einem geheimen BKA-Dossier zitiert. Weil die undichte Stelle im BKA, also der
Lieferant des Geheimdossiers, nicht zu finden war, wurde gegen den Journalisten
wegen "Beihilfe zum Geheimnisverrat" ermittelt - stundenlange Razzien
und kistenweise Beschlagnahme von Recherchematerial inklusive. Das gesuchte
Dokument wurde nicht gefunden, dafür "Zufallsfunde" zuhauf, die mit
dem Durchsuchungsanlass nicht das Geringste zu tun haben, aber zu weiteren
Ermittlungsverfahren führten. Mit dieser Verdächtigung, als Journalist am
Verrat von Dienstgeheimnissen selbst beteiligt gewesen zu sein, lassen sich
Informantenschutz und Zeugnisverweigerungsrecht praktisch aushebeln - und damit
das hohe Gut der Pressefreiheit. Solche Praktiken können letztlich dazu führen,
kritische Journalisten einzuschüchtern und von investigativen Recherchen abzuhalten.
So sehen die fatalen Folgen aus, wenn man, wie der Preisträger, die
Sicherheit zum Grundrecht kürt, wenn man die Staatsräson zum
Verfassungsgrundsatz erhebt, die alles andere dominiert: Dann herrscht
partielle Willkür, dann werden Bürgerrechte zur Makulatur. Angesichts
überzogener Antiterrormaßnahmen und einer eskalierenden Sicherheitsdebatte
warnte der frühere Datenschutzbeauftragte und Vorsitzende des Nationalen Ethikrates,
Spiros Simitis, eindringlich: "Jetzt ist der Punkt erreicht, wo wir am
Grundbestand unserer verfassungsrechtlichen Vorgaben angelangt sind - der
Übergang in eine totalitäre Gesellschaft ist fließend". Und der Soziologe
Ulrich Beck sieht mit der "Risikogesellschaft", in der wir leben,
ohnehin eine "Tendenz zu einem ‚legitimen' Totalitarismus der
Gefahrenabwehr" verbunden: Ausgestattet mit "dem Recht, das
Schlimmste zu verhindern", schaffe sie in "nur allzu bekannter Manier
das andere Noch-Schlimmere". Anstatt dieser fatalen Tendenz wirksam
entgegenzutreten, betätigte sich Otto Schily als ihr missionarischer
Vollstrecker. Selbst sein Ministerkollege Wolfgang Clement fand deutliche Worte
für Otto Schilys freiheitsbegrenzendes Wirken, als er seine Zeit nach dem
Ausstieg aus der Bundesregierung so skizzierte: "Ich bin ein freier Mensch
und werde jetzt von meinen Freiheitsrechten Gebrauch machen - und zwar
ausgiebig -, natürlich nur in dem Rahmen, den Otto Schily mir noch zur
Verfügung stellt..." (WDR 10.10.2005).
Herzlichen
Glückwunsch zum "BigBrother-Lifetime-Award", Herr Schily.
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info ]
Copyright © Frankfurter Rundschau online 2005 Dokument erstellt am 30.10.2005 um 17:24:01 Uhr Erscheinungsdatum 31.10.2005
Laudator:
Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt und Publizist. Seit 2003 Präsident der „Internationalen
Liga für Menschenrechte“ (Berlin). Sachverständiger in
Gesetzgebungsverfahren, u.a. zu den „Antiterror“-Gesetzen im Bundestag.
Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises „BigBrotherAward“ an
Institutionen, die in besonderem Maße den Datenschutz missachten. Mitglied im
Kuratorium zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille an Personen,
die sich um Frieden und Menschenrechte verdient gemacht haben. Mitherausgeber
von „Ossietzky“ - Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/ Wirtschaft
(Berlin/Hannover) sowie des jährlich erscheinenden „Grundrechte-Report – Zur
Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ (Fischer-Verlag, Frankfurt/M.).
Autor zahlreicher Bücher zu „Innerer Sicherheit“ und Bürgerrechten, zuletzt: >Geheime
Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des
Staates.< (Knaur, München 2003). Internet: www.rolf-goessner.de.