Die Regierungen der Bundesländer
Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen haben am gestrigen
Freitagabend den BigBrotherAward verliehen bekommen, weil sie unter dem Vorwand
der Terrorismusbekämpfung stark gegen die Rechte ihrer Bürger verstoßen. Der
Autor warnt vor dem Absturz in den Überwachungsstaat.
Der BigBrotherAward in der
Kategorie Politik wird verliehen an die Regierungen und Innenminister der
Bundesländer Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen, weil sie im
Windschatten der Terrorismusbekämpfung die Verschärfung ihrer
Landespolizeigesetze betreiben und damit drastische Einschnitte in die
Grundrechte einer Vielzahl unverdächtiger Personen einkalkulieren. Bedroht sind
insbesondere das Brief- und Fernmeldegeheimnis, das Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung und damit auch der Schutz der Privat- und
Intimsphäre sowie das Recht auf freie Kommunikation ohne Angst vor
Repressalien. Hier nur einige der gravierenden Einschnitte:
1.
In allen genannten Bundesländern soll die präventive
Telekommunikationsüberwachung durch die Polizei legalisiert werden - also das
vorsorgliche Abhören von Telefonen und Handys sowie das vorsorgliche Mitlesen
von Faxen, SMS und Emails, ohne dass eine Straftat oder ein Anfangsverdacht
vorliegen muss. Beim Abhören könnte sich ja der Verdacht auf eine Straftat ergeben,
die dann verhindert werden könnte, so die Logik der Gesetzesmacher. Dabei
sollen schon vage Anhaltspunkte ausreichen, um potenzielle Störer "zur
Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person
oder bedeutende Sach- und Vermögenswerte" belauschen zu können; oder aber
um Personen zu überwachen, "bei denen tatsächliche Anhaltspunkte die
Annahme rechtfertigen, dass sie zukünftig schwerwiegende Straftaten
begehen" (Formulierungen der Entwürfe variieren).
Mit einer solchen Befugnis, wie
sie bislang nur in Thüringen legalisiert ist, kann die Polizei die
Telekommunikation von "vorverdächtigten" Personen im Vorfeld eines
Anfangsverdachts vorsorglich überwachen - selbst wenn rein zufällige und unverdächtige
Kommunikationspartner wie Verwandte, Nachbarn, Arbeitskollegen und sonstige
Bekannten von den Lauschaktionen betroffen werden. Zum Teil soll sogar die
Kommunikation mit unverdächtigen Kontakt- und Vertrauenspersonen wie Rechtsanwälten,
Abgeordneten, Ärzten, Journalisten, Psychotherapeuten oder Seelsorgern
überwacht werden können - und zwar ungeachtet der besonderen Schweigepflichten,
denen solche Personen unterliegen. Auf diese Weise wird das gesetzlich
verankerte Zeugnisverweigerungsrecht von Berufsgeheimnisträgern ausgehebelt,
ebenso wie wesentliche Elemente der Pressefreiheit: nämlich der Schutz von
Informanten und das Redaktionsgeheimnis. Unabhängige Recherchen wären so nicht
mehr zu gewährleisten.
Dass die Maßnahme von einem
Amtsrichter angeordnet werden muss, ist kein ausreichender Schutz, wie die
ausufernde Praxis der Telefonüberwachung zur Strafverfolgung zeigt. Denn es
gibt bis heute keine Ermittlungskompetenz des Richters und keine gerichtliche
Verlaufs- und Erfolgskontrolle solcher Überwachungsmaßnahmen. Schon gehört die
Bundesrepublik allein im Bereich der Strafverfolgung mit jährlich über 15 000
abgehörten Telefonanschlüssen und Millionen von Betroffenen zu den weltweiten
Spitzenreitern im Abhören - ein trauriger Rekord, der den ehemaligen
Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling dazu brachte, das Brief- und Fernmeldegeheimnis
als "Totalverlust" abzuschreiben (Grundrechte-Report 2003, S. 15).
Das Recht auf freie Kommunikation ohne Angst vor Überwachung und Repressalien
ist nicht mehr garantiert.
2.
Die präventive Überwachung der Telekommunikation schließt neben der
Inhaltskontrolle auch die näheren Umstände der Telekommunikation ein (Erfassung
und Speicherung von Verbindungsdaten). Wer geschäftsmäßig Telekommunikationsdienstleistungen
erbringt oder auch nur daran mitwirkt, wird gesetzlich verpflichtet, der
Polizei die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zu ermöglichen:
Zu diesem Zweck müssen sie die notwendigen technischen Voraussetzungen
schaffen, um damit Unmengen von Überwachungsdaten auf Verdacht und Vorrat
erfassen und speichern zu können. Die Diensteanbieter müssen der Polizei
jederzeit Auskünfte über die näheren Umstände und Verbindungen früherer,
aktueller und künftiger Telekommunikationsprozesse erteilen: Wer hat mit wem,
wann und wie lange von wo nach wo fernmündlich oder schriftlich kommuniziert,
welche SMS- oder Internetverbindungen genutzt.
Schon jetzt beklagt die Deutsche
Telekom eine massive "Entwertung des Fernmeldegeheimnisses" durch die
Ermittlungsbehörden. Im Bereich der Strafverfolgung habe ihr Hunger nach Verbindungsdaten
stark zugenommen und längst verfassungswidrige Ausmaße angenommen (www.heise.de
vom 17. 10. 03). Um etwa die häufig verlangten Kontakte zu ausländischen Handy-Nutzern
an die Ermittlungsbehörden herausgeben zu können, müssten alle drei Monate alle
50 Millionen Kunden von T-Mobile komplett durchgerastert werden. Hinzu kämen
täglich tausende Abfragen von Verbindungsdaten, selbst wenn es nur um Straftaten
mittlerer Schwere gehe. Nicht selten werden der Telekom lediglich
"Formblatt-Anordnungen" oder Richterbeschlüsse ohne individuelle
Begründungen zugeschickt, um Überwachungsmaßnahmen und damit massive Grundrechtseingriffe
zu veranlassen. Weigere sich die Telekom deshalb im Einzelfall, die Maßnahmen
durchzuführen oder Daten herauszugeben, werde sie mit dem Vorwurf der
Strafvereitelung "rüde" unter Druck gesetzt.
3.
Auch die vorsorgliche Standortfeststellung von Telekommunikationsteilnehmern
mit Hilfe so genannter IMSI-Catcher ist geplant. Einerseits können mit diesen
schuhkartongroßen Geräten die individuellen Kennungen und Gerätenummern von Handys
ausgeforscht werden. Auf Grund dieser Identifikation kann die Polizei dann
Verbindungsdaten der Mobilfunkteilnehmer beim jeweiligen
Telekommunikationsunternehmen abfragen. Andererseits können zur genauen
Standortbestimmung Handys elektronisch geortet werden, auch wenn diese nur
Stand-by geschaltet sind. Dadurch wird der Polizei die Möglichkeit eröffnet, Bewegungsbilder
ihrer Besitzer und Nutzer zu erstellen - nicht etwa zur Verfolgung von
Straftätern, nein: zur Verfolgung von Personen, denen künftig Straftaten
zugetraut werden (also zur Verfolgung von prinzipiell Unverdächtigen).
Die Bürgerrechtsorganisation
"Humanistische Union" hat im Juli dieses Jahres vor dem Bundesverfassungsgericht
Verfassungsbeschwerde gegen den Einsatz des IMSI-Catchers zum Zwecke der
Strafverfolgung erhoben, der Anfang 2003 in der Strafprozessordnung legalisiert
worden ist. Der IMSI-Catcher-Einsatz führe zur unterschiedslosen Erfassung
gänzlich unverdächtiger Personen und verstoße deshalb gegen das
Fernmeldegeheimnis des Artikel 10 Grundgesetz, das auf diese Weise undifferenzierten
Ermittlungsmethoden geopfert werde.
4.
In Rheinland-Pfalz ist der Einsatz von elektronischen Wanzen und Video-Kameras
zum präventiven Großen Lausch- und Spähangriff in und aus Wohnungen geplant,
wie er bereits in Thüringen (und Baden-Württemberg) legalisiert worden ist. Zur
Installation der Lausch- und Spähwanzen soll die Polizei die auszuforschende
Wohnung unerkannt betreten können. Damit kann das Grundrecht auf
Unverletzlichkeit der Wohnung bereits im Vorfeld, ohne Vorliegen eines Straftatverdachts
gegen die Eigentümer, Mieter, Mitbewohner oder Besucher, ausgehebelt werden.
Der richterliche Beschluss zur
Anordnung dieser Maßnahme ist nach jeweils dreimonatiger Aktion zu erneuern,
ohne dass eine zeitliche Obergrenze vorgesehen ist. Bei Gefahr im Verzug soll -
trotz der Schwere des Eingriffs - eine Anordnung durch den Behördenleiter
ausreichen. Die besonderen Berufsgeheimnisse von
zeugnisverweigerungsberechtigten Personen sind keineswegs ausreichend
geschützt.
Nachdem inzwischen selbst die
eigenen vier Wände objektiv nicht mehr vor Lauschangriffen sicher seien, so der
frühere Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling, drohe "ein
Zivilisationsverlust, der unsere Demokratie verändern wird" (Grundrechte-Report
2003, S. 20).
5.
In Bayern ist zusätzlich die automatische Erfassung von Auto-Kennzeichen und
deren Abgleich mit Polizeidateien (Fahndungs- und sonstigem Datenbestand)
geplant. Ergibt sich bei diesem Datenabgleich ein Verdacht, so wird das
betreffende Fahrzeug verfolgt. Die bayerische Polizei testet bereits ohne
jegliche Rechtsgrundlage entsprechende Systeme. Ob mit diesem Massenscreening
nur Autokennzeichen oder auch andere, etwa biometrische Kennzeichen zum Zwecke
der Gesichtserkennung erfasst und abgeglichen werden sollen, ist ebenso
ungeklärt wie die Frage, was mit den erfassten Daten geschieht, ob sie etwa zur
Erstellung von Bewegungsbildern und Reiseprofilen bestimmter Personen genutzt
werden können.
Außer an den bayerischen Grenzen
soll der automatische Kennzeichenabgleich auch an so genannten gefährdeten
Orten wie Flughäfen, Bahnhöfen und militärischen Einrichtungen erfolgen,
darüber hinaus zur Überwachung von Straßen, Autobahnen, Einkaufszentren oder
Parkplätzen. Vor Demonstrationen sollen auf diese Weise "bekannte
Störer" ausgefiltert werden.
Fazit:
Solche präventiven Regelungen sind tendenziell uferlos, kaum kontrollierbar und
daher unverhältnismäßig. Das mit diesen vorsorglichen Maßnahmen sichtbar
werdende Präventionskonzept neigt zur Maßlosigkeit, weil damit immer mehr
unverdächtige Menschen polizeipflichtig gemacht und in ihren Grundrechten
verletzt werden. Da es sich in der Regel um verdeckte Maßnahmen handelt, merken
die zahlreichen Betroffenen in aller Regel nichts von den intensiven Eingriffen.
Es handelt sich um landesrechtliche Ergänzungen der umstrittenen
"Anti-Terror"-Gesetze, die voriges Jahr als Reaktion auf den 11. 9.
2001 (Anschlag auf das World Trade Center in New York, d. Red.) in Kraft
gesetzt wurden.
Wo die Prävention zur vorherrschenden
Polizeilogik erhoben wird, da verkehren sich allmählich die Beziehungen
zwischen Bürger und Staat , da verliert eine der wichtigsten rechtsstaatlichen
Errungenschaften, nämlich die Unschuldsvermutung, unter der Hand ihre Macht
begrenzende Funktion. Der Mensch mutiert zum (potenziellen) Sicherheitsrisiko -
ein generalisiertes Misstrauensvotum, wie es schon bei der
verdachtsunabhängigen Schleier- und Rasterfahndung sowie bei der ausufernden Video-Überwachung
im öffentlichen Raum zum Ausdruck kommt, in die alle Passanten einbezogen
werden, ohne zu wissen, was mit den Aufzeichnungen anschließend geschieht.
Die neuen Instrumente machen
einem präventiven Überwachungsstaat alle Ehre - einem Sicherheitsstaat, in dem
Rechtssicherheit und Vertrauen allmählich verloren gehen, Verunsicherung und
Verängstigung gedeihen. Angesichts einer solchen Entwicklung gibt die ehemalige
Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, zu bedenken:
"Eine demokratische politische Kultur lebt von der Meinungsfreude und dem
Engagement der Bürger. Diese dürften allmählich verloren gehen, wenn der Staat
seine Bürger biometrisch vermisst, datenmäßig durchrastert und seine
Lebensregungen elektronisch verfolgt" (Rede auf dem Anwaltstag 2002; Anwaltsblatt
8/9 - 2002, S. 457). Im CDU-regierten Thüringen ist der Frontalangriff auf
elementare Freiheitsrechte bereits im Juni 2002 umgesetzt worden. Insofern
erhält die Thüringer Landesregierung den BigBrotherAward für eine vollendete
Tat. Diesem Pilotprojekt wollen nun die Landesregierungen in Bayern (CSU),
Niedersachsen (CDU/FDP) und Rheinland-Pfalz (SPD/FDP) folgen. Deshalb erhalten
die dafür Verantwortlichen den Preis präventiv - sozusagen als Maßnahme der
Gefahrenabwehr.
DER AUTOR
Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist, parlamentarischer Berater und
Präsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte" (Berlin);
außerdem Mitherausgeber der Zweiwochenschrift "Ossietzky" sowie
Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises "BigBrother-Award"
an Institutionen, die in besonderem Maße gegen den Datenschutz verstoßen. Soeben
ist im Knaur-Verlag, München, seine neueste Publikation als "Sachbuch des
Monats"erschienen: "Geheime Informanten: V-Leute des
Verfassungsschutzes - Kriminelle im Dienst des Staates", 320 S., 12,90
Euro, ISBN 3-426-77684-7. Der Autor ist im Internet zu erreichen unter: www.rolf-goessner.de
DER PREIS
Der BigBrotherAward wurde hier zu Lande im Jahr 2000 ins Leben gerufen, um die
öffentliche Diskussion über Privatsphäre und Datenschutz zu fördern und den
missbräuchlichen Gebrauch von Technik und Information aufzuzeigen. Seit 1998
wird der Preis schon in verschiedenen Ländern an Privatpersonen, Firmen und
Institutionen verliehen, die besonders krass die Rechte der Bürger beeinträchtigen
und persönliche Daten Dritten zugänglich machen. In Deutschland organisiert der
"Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs"(FoeBuD)
die Preisverleihung. Weitere Informationen sind im Netz zu finden unter: www.bigbrotherawards.de
Frankfurter Rundschau, 25.
Oktober 2003