Gerade im Jahr der Europawahl (Mitte 2009), des Inkrafttretens des Lissabon-Vertrages (1.12.2009) und anlässlich der Verabschiedung des nächsten Fünf-Jahresplans für die EU-Sicherheitspolitik im Stockholm-Programm (Ende 2009) ist es überaus wichtig, sich genauer anzuschauen, was sich auf EU-Ebene im Namen der Sicherheit und des Antiterrorkampfes tatsächlich entwickelt hat und wo die Reise in einer neuen Ära sicherheitspolitischer Strukturentwicklung hingeht. Ich versuche dies im Folgenden aus bürgerrechtlicher und rechtspolitischer Sicht.[1]
Schon im Laufe der vergangenen zehn/zwölf Jahre ist aus der EU – oder, wie es in EU-Grundlagendokumenten so schön heißt, aus dem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ - eine Art europäischer Sicherheitsunion geworden, in der sich ein nur noch schwer überschaubares Überwachungs- und Kontroll-Geflecht entwickelt hat, das laufend ausgebaut wird – ein europäisches Daten- und Abhörnetz und eine internationale Sicherheitsbürokratie, die massiv in Persönlichkeitssphäre, Grund- und Freiheitsrechte der EU-Bürger und von Flüchtlingen einzugreifen vermag.
Mit
dem Schengener, dem Amsterdamer und Dubliner Abkommen, dem Schengener Informationssystem,
mit der europäischen Polizeiinstitution „Europol“, dem Abhörnetz „Enfopol“ und
der Grenzschutzagentur „Frontex“ hat sich die EU die tragenden Säulen und
unsichtbaren Mauern eines demokratisch kaum legitimierten und kontrollierbaren
Sicherheitssystems geschaffen. Kaum legitimiert, weil es sich zumeist um
Exekutiventscheidungen ohne parlamentarische Befassung und ohne
Gesetzesgrundlagen handelt. Kaum kontrollierbar, weil die polizeiliche und
justizielle Zusammenarbeit keinen wirksamen Daten- und Rechtsschutzbestimmungen
unterliegt, weshalb sich auf EU-Ebene mit der Zeit eine Zone minderen
Datenschutzniveaus entwickeln konnte.
Im
Zuge der Terrorismusbekämpfung seit Ende 2001 erlebt dieses gesamteuropäische
System noch einen enormen Schub. Für die neuere Entwicklung stehen u.a. das Haager
Programm (2004) und der Vertrag von Prüm (2005); seit Ende 2009 kommt noch das
in Stockholm ausgehandelte EU-Sicherheitskonzept für die nächsten fünf Jahre
verschärfend hinzu, das die Strategien der Politik der Inneren Sicherheit noch
ausweitet und umfassende Eingriffs- und Zusammenarbeitsformen in der EU-Innen-
und Justizpolitik festschreibt. (siehe Übersicht).
Das Grundrecht, das durch europäische Regelungen und
Institutionen am stärksten beschnitten wird, ist das Persönlichkeitsrecht und
das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des
Persönlichkeitsrechts, wie es in der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 2
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Grundgesetz (GG) und nach der einschlägigen
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geschützt wird.
I. Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten,
EU-Datenbanken und automatischer
Datenaustausch
Die Beschneidung dieses Grundrechts zeigt sich deutlich
an den diversen Bemühungen, Internet, Computer und grenzüberschreitende
Telekommunikation unter Kontrolle zu bekommen und an den zahlreichen
europäischen Datenspeicherungsprojekten, Datenbanken und
-übermittlungsbefugnissen.
1. Beispiel: verdachtslose Vorratsspeicherung von
Telekommunikations- und Standortdaten,
also von Telefon-, Handy-, Email- und Internetdaten, die gemäß einer zwingenden
EU-Vorgabe in Deutschland bereits Anfang 2008 umgesetzt worden ist.[2]
Da
müssen die Provider Millionen Verkehrs- und Kontaktdaten praktisch über die gesamte
telekommunizierende Bevölkerung ein halbes Jahr lang auf eigene Kosten vorrätig
halten, nur um sie bei Bedarf im Einzelfall zweckentfremdet zur Strafverfolgung
oder Gefahrenabwehr verwenden zu können. Mit Hilfe dieses riesigen
Datenreservoirs können Bewegungs- und Kontaktprofile erstellt, geschäftliche
und persönliche Kontakte rekonstruiert, Freundschaftsbeziehungen identifiziert
werden. Auch Rückschlüsse auf den Inhalt der Kommunikation, auf persönliche Interessen
und die Lebenssituation der Nutzer sind möglich - ein massiver Eingriff in
Persönlichkeitsrechte, Fernmeldegeheimnis und freie Kommunikation, aber auch in
Vertauensverhältnisse zu Berufsgeheimnisträgern wie Ärzten, Rechtsanwälten oder
Journalisten. Aus diesen Gründen legten in der Bundesrepublik fast 35.000
Menschen gegen diese Vorratsdatenspeicherung Sammelbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht
ein - die größte Massenbeschwerde in der deutschen Rechtsgeschichte.
2. Zentrale EU-Datenbanken und grenzüberschreitender
Datenaustausch: Der sicherheitspolitische
Entwicklungsprozess der EU ist gekennzeichnet von einer grenzüberschreitenden,
auch operativen Zusammenarbeit aller Sicherheitsbehörden, also von nationalen
Polizeien, Geheimdiensten und Justiz, unter weitgehender Verzahnung von
Polizei, Militär und Geheimdiensten.[3] Er ist gekennzeichnet durch einen automatischen
Austausch polizeilicher und geheimdienstlicher Daten zwischen den nationalen
Sicherheitsbehörden, dem Schengener Informationssystem SIS und Europol zum Zwecke
der Verfolgung oder Verhinderung von Straftaten, aber auch zum Zweck einer verstärkten
Überwachung des Internets und vor allem, um Flüchtlinge europaweit überwachen
und bestimmten Personen die Einreise nach Europa verweigern zu können. Die
Entwicklung ist darüber hinaus gekennzeichnet durch die teils erfolgte oder
geplante Einrichtung von zentralen Datenbanken, u.a. für biometrische Daten –
also für DNA-Profile, digitale Gesichtsbilder und Fingerabdrücke – etwa im
europäischen Passregister, in EURODAC mit Fingerabdrücken von etwa 700.000
Asylantragstellern oder im neuen gemeinsamen Visa-Informationssystem.[4]]
II. Grenzüberschreitender und transatlantischer
Datenverkehr:
Gläserne Flugpassagiere und Bankkunden als Antiterroropfer
Zur Veranschaulichung dieser Entwicklung sollen im
Folgenden einige Beispiele dargelegt werden, an denen sich der skandalöse
Umgang der EU mit Persönlichkeitsrecht, informationeller Selbstbestimmung und
Datenschutz anschaulich demonstrieren lässt:
1.
Seit August 2007 gilt ein Abkommen zwischen der EU und den USA, mit dem die Übermittlung
von Flugpassagierdaten aus allen EU-Ländern an US-Sicherheitsbehörden zur
Pflicht gemacht wird. Danach werden 19 zum Teil hochsensible personenbezogene
Daten von europäischen Flugreisenden - wie Reiseverlauf, Hotelbuchungen,
Kreditkarten- und Telefonnummern, Wohn- und Mailadressen oder besondere Essgewohnheiten
– an US-Sicherheitsbehörden drei Tage vor Flugbeginn übermittelt, die dort
sieben Jahre lang genutzt werden und weitere acht Jahre lang aufbewahrt
bleiben. Mit diesen Flugdaten und bereits vorhandenen personenbezogenen Daten
können Rasterfahndungen betrieben und langfristige Bewegungsbilder
beziehungsweise Reiseprofile erstellt werden. Dabei ist die Datenübermittlung
an Geheimdienste und Polizeien, auch anderer Staaten, keineswegs
ausgeschlossen. Und es gibt keine ausreichende Datenkontrolle und keinen wirksamen
Rechtsschutz gegen diese Datenübermittlungen. Gleichwohl stimmten Bundestag und
Bundesrat diesem Abkommen Ende 2007 zu.
Fluggäste
aus EU-Staaten werden damit praktisch zu gläsernen Passagieren. Das gilt für
jährlich etwa 10 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger, die in die USA fliegen
oder über die USA weiterreisen. Mit zum Teil gravierenden Folgen: Fluggäste
müssen damit rechnen, dass sie bei Ankunft in den USA zu Opfern rigider
Antiterrormaßnahmen werden. Die Datenübermittlung kann zu peinlichen Verhören
und erkennungsdienstlicher Behandlung, zu willkürlichen Festnahmen,
Inhaftierungen und Ausweisungen führen – ohne Begründung, ohne Möglichkeit, einen
Anwalt oder die deutsche Botschaft einzuschalten. Beispiele für Willkürakte und
Übergriffe dieser Art gibt es leider genug.[5]
2.
Derzeit wird an der Schaffung eines europäischen Systems zur Erhebung und
Verarbeitung von Fluggastdaten mit fast 20 Merkmalen gearbeitet; danach
sollen die Flugdaten in Polizeidateien bis zu 13 Jahre lang gespeichert und für
Risikoanalysen von Fluggästen und für Rasterfahndungen nach Terroristen
Verwendung finden. Damit entstünde in Europa eine verdachtsunabhängige
Flugdaten-Vorratsspeicherung und die Sicherheitsbehörden könnten über die
Reisefreiheit der Fluggäste entscheiden. Schon heute können in den USA
politische Aktivitäten wie etwa gegen den Irakkrieg dazu führen, dass Menschen
auf „no-flight-Listen“ landen und von Flugreisen ausgeschlossen werden. Anfang
2010 ist über das EU-Projekt noch nicht entschieden worden.
3.
Mittlerweile wurde ein transatlantisches Datenschutzabkommen zwischen
der EU und den USA ausgehandelt, das den Austausch persönlicher Daten
zur Verhinderung und Bekämpfung schwerwiegender Kriminalität grundsätzlich
legitimiert – dabei kann es sich, außer um Fingerabdrücke und DNA, auch um
intime Daten über sexuelle Vorlieben, Gesundheit, ethnische Herkunft, religiöse
und politische Überzeugungen oder Gewerkschaftsmitgliedschaften handeln.[6] Der Bundestag hat das Abkommen am 1.09.2009
ratifiziert. Noch müssen alle Bundesländer zustimmen. Als einziges Bundesland
hat das schwarz-grün regierte Hamburg seine Zustimmung verweigert und Nachverhandlungen
gefordert (Stand: Ende 2009).[7]
4.
SWIFT-Datenabkommen: Ab Februar 2010 gilt für neun Monate ein Abkommen
mit den USA, wonach US-Sicherheitsbehörden auch in Zukunft breiten Zugriff auf
hochsensible personenbezogene Daten über Kontoinhaber und Banküberweisungen
bekommen – und zwar via SWIFT, das „Nervenzentrum der globalen
Bankenwirtschaft“, das täglich rund 15 Millionen Transaktionen weltweit
abwickelt. Mithilfe dieses massiven Grundrechtseingriffs wollen die USA der
Terrorfinanzierung in aller Welt auf die Spur kommen – ohne allerdings einen
konkreten Terrorverdacht geltend machen zu müssen, um auf die Daten zugreifen
zu können. Die US-Behörden können die so verdachtlos erworbenen Daten bis zu
fünf Jahre speichern und auswerten – ohne Kontrolle durch unabhängige
Datenschutzbeauftragte. Es handelt sich um eine Vorratsdatenspeicherung über
weltweite Zahlungsgeschäfte - auch solche europäischer Privatkunden und Unternehmen,
die so ins Visier von US-Fahndern geraten und leicht zu Opfern von Wirtschafts-
und Industriespionage werden können. Die Betroffenen werden nicht benachrichtigt
und es gibt, wie leider üblich, keinen ausreichenden Daten- und Rechtsschutz.[8]
Dieser
Datendeal ist ein datenschutzwidriger und demokratiefeindlicher Skandal sondergleichen
und ein glatter Bruch der schwarz-gelben Koalitionsvereinbarung, die die
Regierungspartner CDU/CSU und FDP im Herbst 2009 geschlossen haben. Denn der in
Sachen Datendeal mit den USA federführende EU-Ministerrat hat das Europäische
Parlament bewusst umgangen: Denn die Entscheidung für das SWIFT-Abkommen erfolgte
nur wenige Stunden vor Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages, der die Regelung
enthält, dass in Fragen der Innen- und Rechtspolitik künftig das Europäische
Parlament mitentscheiden muss – ein schwerwiegender Affront gegen das
Parlament. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat diesen Skandal nicht etwa
durch ein Veto verhindert – was ihr möglich gewesen wäre und wofür zumindest
die FDP-Bundesjustizministerium Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vergeblich
votierte -,[9] sondern sie hat ihn mutwillig durch eine Enthaltung
erst ermöglicht.[10] Grund: Bundesregierung und Bundesinnenminister Thomas
de Maizière befürchteten eine „Sicherheitslücke“, wenn sich das Abkommen länger
verzögere – obwohl es genügend andere Möglichkeiten gäbe, in dringenden Fällen
über bilaterale Abkommen Informationen auszutauschen. Nun wird das
Europaparlament erst Ende 2010 an der Formulierung eines Nachfolgevertrages
beteiligt, es sei denn, es stimmt dem fertigen Vertragswerk insgesamt nicht zu
und bringt es auf diese Weise zu Fall.[11]
III. EU-Terrorliste: Existenzvernichtung per
Willkürakt
Ich komme zu einem besonders eklatanten Antiterror-Instrument, für das Ende Oktober 2008 der EU-Ministerrat den (deutschen) Negativpreis BigBrotherAward erhielt: die EU-Terrorliste. Ich hatte damals die Ehre, die Laudatio auf die seinerzeit politisch verantwortlichen Herren Kouchner und Solana zu halten.[12] In dieser Terrorliste werden zahlreiche Organisationen und Einzelpersonen als „terroristisch“ eingestuft und geächtet sowie gravierenden Sanktionen unterworfen – Sanktionen, die zu schweren Menschenrechtsverletzungen führen. Auch diese Datensammlung ist weder demokratisch legitimiert noch unterliegt sie einer demokratischen Kontrolle. Lange Zeit ist den Betroffenen nicht einmal rechtliches Gehör gewährt, geschweige denn Rechtsschutz gegen die amtliche Stigmatisierung zugestanden worden.
Als
Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA erließ die EU eine
Verordnung, nach der allen Mitgliedsstaaten, ihren öffentlichen und privaten
Institutionen sowie allen Bewohnern untersagt wird, Terrorverdächtigen Gelder
und sonstige Finanzmittel zur Verfügung zu stellen oder mit ihnen
Geschäftskontakte zu knüpfen beziehungsweise zu unterhalten. Seitdem werden
durch Beschlüsse des EU-Ministerrats solche Verdächtigen oder mutmaßliche
Unterstützer in eine „Schwarze Liste“ aufgenommen, die laufend aktualisiert
wird. In ihr sind im Laufe der Jahre zwischen 35 und 46 Einzelpersonen, wie
etwa der philippinische Professor und Kommunist José Maria Sison, aufgelistet
worden sowie zwischen 30 und knapp 50 Organisationen, wie etwa die kurdische
PKK oder die iranische Widerstandsgruppe der Volksmodjaheddin.[13]
Zu den
betroffenen Organisationen gehören die baskische Untergrundorganisation ETA und
ihr zugerechnete Einzelpersonen, die islamistische Hamas, die arabischen
Al-Aksa-Brigaden, die iranischen Volksmudschaheddin, die linksgerichtete türkische
DHKP-C oder die kurdische Arbeiterpartei PKK – aber auch deren
Nachfolgeorganisationen Kadek und Kongra-gel, ungeachtet der Tatsache, dass
diese in Europa längst friedenspolitische Aktivitäten entfaltet haben.
Bei
Organisationen ist die Einschätzung oft schwierig, ob es sich um eine
Terrorgruppe oder um berechtigten Widerstand gegen Diktaturen oder um eine
legitime Befreiungsbewegung handelt – nicht selten hängt die Einschätzung von
politischen, ökonomischen und militärischen Interessen derjenigen ab, die die
Eingruppierung vornehmen. So galt etwa der Befreiungskampf des militanten ANC
gegen das südafrikanische Apartheidsystem im Westen lange Zeit als
terroristisch – und Nelson Mandela landete als „Terrorist“ auf der Terrorliste
der USA, von der er erst 2008, kurz vor seinem 90. Geburtstag, wieder
gestrichen wurde.
Die EU-Terrorliste wird von
einem geheim tagenden Gremium des Ministerrates erstellt. Die Entscheidungen
erfolgen im Konsens, wobei die Verdachtsmomente und Indizien zumeist auf
dubiosen Geheimdienstinformationen einzelner Mitgliedsstaaten beruhen. Eine
unabhängige Beurteilung auf Grundlage von gesicherten Beweisen findet nicht
statt – weshalb der vom Europarat beauftragte Sonderermittler Dick Marty mit
Entsetzen feststellte: Er habe selten „etwas so Ungerechtes erlebt, wie die
Aufstellung dieser Listen“, deren Verfahren er als „pervers“ bezeichnet.
Hinsichtlich der verhängten
Sanktionen spricht Marty von „ziviler Todesstrafe“ und schildert in
einem Bericht von 2007 sehr anschaulich, was eine Aufnahme in die EU- (oder
auch UN-)Terrorliste für Betroffene bislang bedeutete: Sie wurden nicht verständigt,
sondern erfuhren davon, als sie etwa eine Grenze überschreiten oder über ihr
Bankkonto verfügen wollten. Wer einmal auf der Liste steht, hat kaum mehr eine
Chance auf ein normales Leben. Er ist quasi vogelfrei, wird politisch geächtet,
wirtschaftlich ruiniert und sozial isoliert. Das gesamte Vermögen wird
eingefroren, alle Konten und Kreditkarten werden gesperrt, Barmittel
beschlagnahmt, Arbeits- und Geschäftsverträge faktisch aufhoben; weder
Arbeitsentgelt noch staatliche Sozialleistungen dürfen noch ausbezahlt werden;
hinzu kommen staatliche Überwachungs- und Fahndungsmaßnahmen (Abhörmaßnahmen,
Wohnungsdurchsuchungen, Festnahmen...). Zu den Fernwirkungen zählen die
Verweigerung von Einbürgerungen und Asyl sowie der Widerruf des Asylstatus’ von
Mitgliedern oder Anhängern gelisteter Gruppen.
Alle EU-Staaten, alle
Banken, Geschäftspartner und Arbeitgeber, letztlich alle EU-Bürger sind
rechtlich verpflichtet, die drastischen Sanktionen gegen die Betroffenen
durchzusetzen, ansonsten machen sie sich strafbar.[14] Um dies zu vermeiden, setzen zahlreiche Behörden und
Unternehmen teure Spezialsoftware ein, um die personenbezogenen Daten ihrer
Kunden, Lieferanten und ihres Personals mit der Terrorliste in der jeweils
aktuellen Fassung abzugleichen.
EU-Sonderermittler Dick
Marty hält das Listungsverfahren für höchst fehleranfällig: Schon einfache
Verdächtigungen reichten aus oder es komme zu Namensverwechslungen, so dass
auch völlig Unbeteiligte auf die Liste geraten können; in solchen Fällen müssen
die Betroffenen unter widrigsten Umständen ihre Unschuld nachweisen.
Die EU greift mit ihrer
Terrorliste im Kampf gegen den Terror gewissermaßen selbst zu einem Terror- und
Willkür-Instrument aus dem Arsenal des sogenannten Feindstrafrechts – eines
menschenrechtswidrigen Sonderrechts gegen angebliche „Staatsfeinde“, die
praktisch rechtlos gestellt und gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Man könnte
es auch „Guantànamoisierung“ des europäischen Rechts nennen, denn ihre
drakonische Bestrafung erfolgt vorsorglich und wird im rechtsfreien Raum
exekutiert – ohne Gesetz, ohne Prozess, ohne Beweise, ohne Urteil und ohne
Rechtsschutz, und das mitten in Europa. Ein Serienkiller habe mehr Rechte, so
Dick Marty, als ein Mensch, der auf einer Terrorliste steht.
Trotz der systematischen
Entrechtung der Gelisteten sind beim Europäischen Gerichtshof einige Klagen von
Betroffenen eingegangen. Und auch Urteile gibt es inzwischen, mit denen die
Aufnahme bestimmter Personen und Gruppen auf die Terrorliste und das Einfrieren
ihrer Gelder für rechtswidrig und nichtig erklärt werden. Ihr Anspruch auf
rechtliches Gehör und effektive Verteidigung, so die Richter, sei grob
missachtet worden.
Zwar
sind die Betroffenen inzwischen pro forma benachrichtigt, auch angehört worden,
doch konkrete Abhilfe geschaffen wurde bislang nur im Fall der iranischen
Volksmodjaheddin – aber erst nach jahrelangem Rechtsstreit und internationalen
Protesten. Die anderen blieben trotz der Urteile auf der Liste (Stand: Ende
2009). Die Geheimgremien des EU-Ministerrats sind also in ihrem
undemokratischen Listungsverfahren stur bei ihren ursprünglichen Beurteilungen
geblieben: Die Verfemten blieben verfemt – mit allen freiheitsberaubenden
Konsequenzen, unter Verstoß gegen die Unschuldsvermutung und die Europäische
Menschenrechtskonvention. Und für die Betroffenen gibt es bis heute noch keine
Aussicht auf Entschädigung, selbst wenn sich Listung und Sanktionen im
Nachhinein als ungerechtfertigt herausstellen.[15]
IV. Weitgefasste EU-Terrorismusdefinition
Nicht allein in diesem Zusammenhang ist interessant, dass sich die EU längst eine eigene, ja eigenwillige Terrorismusdefinition zugelegt hat, die den Begriff „Terrorismus“ äußerst weit fasst, anstatt ihn eng zu begrenzen.[16] Die Definition erfordert zwar, dass bestimmte Straftaten mit der Absicht begangen werden müssen, die „politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Strukturen“ eines Landes „zu bedrohen und stark zu beeinträchtigen oder zu zerstören“. Doch neben Mord, Entführung oder Erpressung soll schon die widerrechtliche Inbesitznahme oder Beschädigung öffentlicher Einrichtungen, Transportmittel, Infrastrukturen oder öffentlichen Eigentums ausreichen; oder die Beeinträchtigung oder Verhinderung bzw. Unterbrechung der Versorgung mit Wasser, Elektrizität oder anderen wichtigen Ressourcen, oder „Angriffe durch Verwendung eines Informationssystems“ - oder auch nur die Drohung mit einer dieser Straftaten. Auch „urban violence“, also „Akte städtischer Gewalt“ können darunter fallen.
Dieser untaugliche Versuch einer Terrorismusdefinition ist so weit gefasst ist, dass darunter selbst militante Straßenproteste wie die in Genua 2001 oder Betriebsbesetzungen wie 2009 in Frankreich fallen könnten oder Formen zivilen Ungehorsams, wie Sitzblockaden vor Atomkraftwerken und Militärbasen, die Besetzung von Ölplattformen oder politische Streiks in Versorgungsbetrieben – denn damit würde ja die Versorgung mit wichtigen Ressourcen wie Elektrizität, Öl oder Wasser beeinträchtigt oder unterbrochen.
Eine kritiklose Umsetzung dieser Kriminalisierung per Definition in nationales Recht der EU-Staaten würde auch vor sozialem Protest nicht halt machen, weder vor der Friedensbewegung und dem Anti-Atom-Widerstand noch vor gewerkschaftlichen Streiks oder dem Globalisierungsprotest. 2006 sind in Dänemark Aktivisten von Greenpeace für eine Aktion des zivilen Ungehorsams - sie waren auf ein Bürohaus geklettert, um ein Anti-Genmais-Plakat auszurollen - nach einer Strafnorm verurteilt worden, die auf besagter EU-Terrordefinition basiert.[17] 2008 stufte Europol eine sogenannte Feldbefreiung von rund 150 Gentechnikgegnern in Portugal als „terroristische Tat“ aus dem Formenkreis des „Umweltterrorismus“ ein.[18]
V. Verstärkte Sicherung der EU-Außengrenzen als
Todesfalle
Die
restriktive EU-Asyl- und Migrationspolitik bildet seit dem Schengener Abkommen
von 1990 den Kern der EU-Innenpolitik. Bei der verstärkten Sicherung der
EU-Außengrenzen spielen die Grenzschutzagentur Frontex (www.frontex.europa.eu),
ihre schnellen Eingrifftrupps und Patrouillen im Mittelmeer und Atlantik sowie
ihre Koordination von gemeinschaftlichen Abschiebeaktionen eine besondere
Rolle; aber auch das stark ausgebaute Schengener Informationssystem mit seinen
mehr als 11 Millionen – auch biometrischen – Daten-Einträgen, das als präventiv-informationstechnologisches
Instrument einer repressiven europäischen Migrations- und Asylpolitik dient.[19]
Unter anderem mit einem biometrischen Kontrollsystem an den EU-Außengrenzen
sowie technischen Grenzüberwachungs- und –sicherungsmaßnahmen (Eurosur) soll
die „Festung Europa“ gegen Flüchtlinge, insbesondere aus Kriegs- und Krisengebieten
und wirtschaftlichem Elend, besser abgeschottet werden. Diese hochgerüstete und
militarisierte, immer weiter in außereuropäische Sphären vorverlagerte
Flüchtlingsabwehr, kostet Jahr für Jahr Tausende von Menschen das Leben, die in
Europa Schutz suchen wollten. Entlang der europäischen Außengrenzen sind
praktisch menschenrechtsfreie Räume entstanden. 2008 sind mindestens 1.500
Flüchtlinge an den Grenzen der EU gestorben – seit 1988 waren es nach
Schätzungen über 13.000 Menschen, die bei Einreiseversuchen ums Leben kamen, darunter
über 5.000 Bootsflüchtlinge im Mittelmeer; hinzu kommen ungezählte
Verschollene. Europa trägt Mitverantwortung für das Massensterben, so die
Flüchtlingsorganisation Pro Asyl. Doch Europa schaut weg. Die EU setzt weiter
auf Abweisung, Abschreckung und Abschiebung unerwünschter Migranten.
In diesem Zusammenhang sei kurz erwähnt, dass die
Internationale Liga für Menschenrechte am 13. Dezember 2009 in Berlin die
Carl-von-Ossietzky-Medaille u.a. an den Kapitän der Cap Anamur, Stefan Schmidt,
verliehen hat.[20] 2004 hatte Stefan Schmidt 37 Menschen gerettet, die
auf der Flucht nach Europa vor der italienischen Küste in Seenot geraten waren.
Mit dieser humanitären Tat widersetzte er sich der menschenrechtswidrigen und
todbringenden Flüchtlingspolitik der EU, wurde dafür wegen “Beihilfe zur illegalen
Einreise” angeklagt und mit einer hohen Strafe bedroht. Ein italienisches
Gericht sprach ihn und seine Mitangeklagten nach dreijähriger Verfahrensdauer
im Oktober 2009 jedoch frei.
Inzwischen sind zwei tunesische Kapitäne zu
zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden, weil sie ebenfalls (44) Flüchtlinge
aus dem Mittelmeer gerettet und nach Italien gebracht hatten. Sie sind nicht
wegen Beihilfe zur illegalen Einreise schuldig gesprochen, sondern wegen Widerstands
gegen die Staatsgewalt in Form von Kriegsschiffen der italienischen Marine, die
die Fischer daran hindern wollten, die Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen.
Boote der Fischer sind daraufhin als Tatwerkzeuge beschlagnahmt und eines davon
zerstört worden – so haben die beiden Fischer und ihre Familien praktisch ihre
gesamte Existenzgrundlage verloren.
Die
Abschottungspolitik der EU fordert Opfer unter Menschen aus zahlreichen
Regionen der Welt, die vor politischer Unterdrückung, vor Krieg und Armut
fliehen. Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei, dass Europa gegenüber
Flüchtlingen und Migranten aus Afrika nicht nur eine aus den Kolonialvergehen
und –verbrechen resultierende Bringschuld hat, sondern auch Verantwortung trägt
für die verheerenden Folgen der Agrar- und Wirtschaftspolitik der EU auf dem
afrikanischen Kontinent. Millionen Menschen werden damit ihrer Lebensgrundlage
in ihren Heimatländern beraubt. “Zu fordern ist ein grundlegendes Umdenken
der EU. Die Wirtschaftspolitik muss davon abkommen, den hemmungslosen Raubbau
an Ressourcen - weltweit und speziell in Afrika - zu stützen. Die Sozialpolitik
muss Zufluchts- und Migrationswege nach Europa schaffen und schützen”, so
die Internationale Liga für Menschenrechte in einer Erklärung vom 7. Oktober
2009.
VI. Moderne EU-Militärdoktrin:
Intervention als Verteidigung
Der Kampf gegen den Terror hat rechtsstaatliche Grenzen verwischt – so auch die zwischen Innen- und Außenpolitik, zwischen Militär und Polizei, zwischen Verteidigung und Intervention. Sämtliche Prinzipien militärischer Beschränkung sind aufgeweicht, die Unterordnung unter das Verfassungs- und Völkerrecht ist aufgekündigt. Das bedeutet das Ende des Konzepts vom Verteidigungskrieg, wie es nach dem 2. Weltkrieg bis Ende des Kalten Krieges für Europa, die Nato und für Deutschland zumindest dem Grundsatz nach gegolten hat.[21]
Seit Ende des Kalten Kriegs hat sich die Nato zum weltweiten Interventionsbündnis entwickelt, weil „neue Risiken“ an jedem Ort der Welt die eigene Sicherheit gefährden könnten, so eine der Begründungen. Neben Terrorismus werden auch „regionale Krisen an der Peripherie des Bündnisses“ als Interventionsgründe genannt sowie die „Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“ in anderen Ländern.
Die
EU entwickelt sich innerhalb der Nato, aber auch parallel dazu und in
Abgrenzung zu den USA zu einem eigenen Militärbündnis – mit dem Trend zu
weltweiten Kriseninterventions- und Out-of-area-Einsätzen, auch zur
militärischen Sicherung europäischer (Wirtschafts-)Interessen. Militärische
Antiterroreinsätze sollen im Übrigen auch im Hoheitsgebiet von Mitgliedsstaaten
möglich sein, was zu einer weiteren Militarisierung der EU-Innenpolitik
beitragen wird. In der sogenannten Solidaritätsklausel (Art. 222) des
Lissabon-Vertrages versprechen sich die Mitgliedstaaten den gegenseitigen
Einsatz militärischer Mittel im Innern der EU zur Abwehr und zum Schutz vor
terroristischen Bedrohungen - also auch rein präventiv.[22]
Mit dem europäischen Grundlagenvertrag von Lissabon, den der Bundestag nach den Worten des liberalen Bürgerrechtlers Burkhard Hirsch „nahezu im Blindflug verabschiedete“ und der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat, werden die Mitgliedstaaten zur Aufrüstung ihrer Armeen verpflichtet – ein einzigartiger Vorgang in der europäischen Verfassungsgeschichte. Über die stetige Steigerung („schrittweise Verbesserung“) ihrer Militärkräfte („militärischen Fähigkeiten“) wacht die EU-„Verteidigungsagentur“, die auch Rüstungsforschung unterstützt und Rüstungsbeschaffung betreibt - also im Kern als Rüstungsagentur tätig ist.
Obwohl die nationalen Parlamente
der EU-Mitgliedstaaten mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages teils mehr
Einfluss bekommen, bleiben sie in der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und
Verteidigungspolitik jedoch, wegen der alleinigen Zuständigkeit der EU,
praktisch außen vor. Unter diesen Politikbereich fallen auch zivile und
militärische Missionen (Art. 28, 5), die ohne Zustimmung des Europaparlaments
angeordnet werden können, sowie “Rettungseinsätze” oder “Frieden schaffende
... Maßnahmen” bis hin zu “Kampfeinsätze(n) ... zur Bekämpfung des
Terrorismus” auf dem Hoheitsgebiet von Drittländern, also außerhalb der EU
(Art. 28, 1). Dafür wird ein eigener Militärhaushalt geschaffen (Anschubfonds
gemäß Art. 26 Lissabon-Vertrag).
Fazit
Insgesamt, so muss man feststellen, hat sich der sogenannte Krieg gegen den Terror, geführt im Namen der Sicherheit und Freiheit, europa- und weltweit als ein enormes Umgestaltungs-, ja Umerziehungsprogramm herausgestellt: Wir sind, auch auf EU-Ebene, Zeugen einer Demontage hergebrachter Grundsätze des Völkerrechts, der Menschen- und Bürgerrechte und einer Entfesselung staatlicher Gewalten: völkerrechtswidrige Angriffskriege und EU- bzw. bundesdeutsche Beihilfe dazu; tödliche Abschottungsmaßnahmen an den Außengrenzen der „Festung Europa“ (seit Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren); systematische Folterungen in Abu Ghraib und die Rechtlosstellung auf Guantànamo – aber auch staatliche Entführungen, extralegale Haft und Folter in Geheimgefängnissen auf EU-Boden; darüber hinaus die Nutzung der verbotenen giftigen Früchte der Folter durch bundesdeutsche Sicherheitsorgane, die damit das absolute Folterverbot relativieren; des Weiteren die Relativierung der Menschenwürde und der Unschuldsvermutung oder auch die Renaissance eines Feindstrafrechts, also eines menschenrechtswidrigen Sonderrechts gegen angebliche Staatsfeinde, deren Grundrechte suspendiert werden - wie es nicht nur in Juristenkreisen wieder debattiert, sondern etwa mit der EU-Terrorliste konkret praktiziert wird. Jedenfalls werden rechtsstaatliche Errungenschaften und zivilisatorische Grundwerte in ihrer Substanz in Frage gestellt – Grundwerte, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte mühsam und unter schweren Opfern erkämpft worden sind.
Wir befinden uns auf direktem Weg in eine europäische Kontroll- und Überwachungsunion. Mit dem Ausbau der EU-Sicherheitsarchitektur und der genannten Überwachungsmaßnahmen werden die Freiheitsrechte der Bürger entwertet, insbesondere das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, aber auch politische und soziale Rechte eines nicht unerheblichen Teils der europäischen Bevölkerung. Diese Entwicklung trifft zwar alle, aber im besonderen Maße Menschen und Personengruppen, die in diesem Wirtschaftseuropa nicht mithalten können, als hilfesuchende Flüchtlinge aus Armut und Verfolgung politisch unerwünscht sind, als Sicherheitsrisiken gelten oder aber als ökonomisch nicht “nützlich”. Ihre Grundrechte stehen unter dem Vorbehalt sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Verträglichkeit; wir haben es damit in existentiell-humanitären Fragen mit der Ökonomisierung von Menschenrechten zu tun – angelegt bereits in den Römischen Verträgen von 1957, nach denen die Europäische Wirtschaftsunion vorrangig die ökonomische Freiheit des Waren-, Kapital-, Arbeitskräfte- und Dienstleistungsverkehrs garantiert – und inzwischen auch die nahezu unkontrollierte Freizügigkeit des innereuropäischen Verkehrs personenbezogener Daten.
Zwar wird mit dem Lissabon-Vertrag auch die 2007 proklamierte „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ rechtswirksam,[23] die vor Machtmissbrauch der EU-Gremien und –organe schützen soll und ein einklagbares Grundrecht auf Schutz persönlicher Daten enthält. Doch wir haben es in der EU schon seit längerem und akut mit Strukturentwicklungen zu tun, die die Bürgerrechts- und Freiheitspositionen sowie Rechtsstaatsprinzipien praktisch in ihrer Substanz unterhöhlen und leer laufen lassen.
Zwar erhält mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages das Europaparlament in vielen Fragen (nicht in allen) der Innen- und Justizpolitik Mitentscheidungsrechte und ein Vetorecht. Bei allen Vorbehalten gegen dieses nicht demokratisch zustande gekommene Vertragswerk wird die EU wenigstens insoweit ein wenig demokratischer und transparenter, so dass auch Hoffnung auf einen verbesserten Daten- und Rechtsschutz aufkeimen könnte. Allerdings ist festzustellen, dass auch mit diesem Vertrag keine echte Gewaltenteilung zustande kommen und die Exekutive übergewichtig bleiben wird. Und wir haben es weiterhin mit einer starken Tendenz zum gläsernen Unions-Bürger zu tun - statt mit einer gläsernen EU-Verwaltung, die stattdessen immer undurchsichtiger und unkontrollierbarer wird; besonders auch angesichts der Tatsache, dass die traditionellen Grenzen zwischen den einzelnen Sicherheitsorganen, zwischen Polizei, Geheimdiensten und Militär (auch) auf europäischer Ebene immer mehr verschwimmen.
Welche
politischen Konsequenzen sind aus diesem problematischen Befund zu ziehen? Wir
müssen die europäische und die nationale Ebene der Innen-, Justiz- und auch Militärpolitik
verstärkt zusammen denken. Das gilt für Menschen- und Bürgerrechtsgruppen,
Gewerkschaften und politisch-soziale Bewegungen gleichermaßen. Wir müssen
dringend die herrschende Sicherheitsideologie angreifen und das verengte,
angst- und machtbesetzte Sicherheitsdenken aufbrechen, das sich im Namen der
Sicherheit, aber auf Kosten der Freiheit so eindimensional auf polizeiliche,
geheimdienstliche und militärische Kriminalitäts- und Terror(symptom)-bekämpfung
fixiert. Wir brauchen einen anderen, einen sozialen, umwelt- und friedenspolitischen
Sicherheitsbegriff – einen Begriff von Sicherheit, der auch an Ursachen und
Bedingungen von Terror, Gewalt und Kriminalität ansetzt, von denen kaum noch
die Rede ist. Also brauchen wir dringend stärkere nationale und europäische
Netzwerke sowie Protest- und Widerstandsbewegungen, die – auch über Europa
hinaus denkend – für eine andere, für eine gerechtere und friedliche Welt
kämpfen – also für eine Welt ohne Ausbeutung, Armut und Krieg. Denn nur eine
solche Welt kann sowohl dem internationalen Terror als auch dem staatlichen und
multinationalen Gegenterror den Nährboden entziehen.
Rolf
Gössner
EU-Sicherheits-
und Überwachungssystem im Überblick
Mit dem Schengener, dem Amsterdamer und Dubliner Abkommen,
dem Schengener Informationssystem, mit der Polizeibehörde „Europol“, dem
Abhörnetz „Enfopol“ und der Grenzschutzagentur „Frontex“ hat sich die EU
bereits die tragenden Säulen und unsichtbaren Mauern eines demokratisch kaum
legitimierten und kontrollierbaren Sicherheitssystems geschaffen - ein schwer
überschaubares Datennetz und eine internationale Sicherheitsinfrastruktur und
Polizeibürokratie, mit denen massiv in Persönlichkeitssphäre und Freiheitsrechte
der EU-Bürger und besonders von Migranten eingegriffen werden kann.
Im Zuge der Terrorismusbekämpfung seit Ende 2001 erlebt
dieses System einen enormen Schub. Für die neuere Entwicklung stehen u.a. das
Haager Programm (2004) und der Vertrag von Prüm (2005); im Dezember 2009 kam
das Stockholmer Programm verschärfend hinzu, das die Strategien der Politik der
Inneren Sicherheit in den nächsten fünf Jahren ausweitet und umfassende
Eingriffs- und Zusammenarbeitsformen in der EU-Innen- und Justizpolitik festschreibt.
Diese Gesamt-Entwicklung in
Stichworten skizziert:
1.
Ein
verstärkter Ausbau von Europol, des Schengener Informationssystems SIS
(II) sowie des EU-Grenzsicherungssystems „Frontex“,
2.
grenzüberschreitende,
auch operative Zusammenarbeit aller Sicherheitsbehörden, also von nationalen Polizeien,
Geheimdiensten und Justiz, unter weitgehender Verschmelzung von Polizei und
Geheimdiensten.
3.
ein
europaweit verstärkter automatischer Austausch polizeilicher und geheimdienstlicher
Daten durch nationale Sicherheitsbehörden, SIS und Europol zur Verfolgung
oder Verhinderung von Straftaten - inklusive verdachtsunabhängiger Vorratsspeicherung
von Telekommunikationsdaten,
4.
die
teils erfolgte oder noch geplante Einrichtung von zentralen Datenbanken,
u.a. für biometrische Daten – also für DNA-Profile, digitale Gesichtsbilder
oder Fingerabdrucke - etwa im Schengener Informationssystem SIS II, in
einem europäischen Passregister oder in EURODAC (mit etwa 700.000
gespeicherten Asylantragstellern und sogenannten Illegalen) oder ab 2009 ff. im
gemeinsamen Visa-Informationssystem VIS (Daten zu Eingeladenen und
Einladern, biometrische Daten, Angaben zur Übernahme der Aufenthaltskosten
etc.),
5.
während
das Haager Programm das “Prinzip der Verfügbarkeit” einführte, nach dem
den Strafverfolgern in ganz Europa die Daten ihrer Kollegen grundsätzlich
verfügbar gemacht werden sollen, geht man ab 2010 einen Schritt weiter zum “Prinzip
des Zugriffs”; damit soll der Zugriff in weiten Teilen automatisiert
geschehen und viele Datenbanken, die ursprünglich für ganz andere Zwecke
aufgebaut wurden (Asylanträge, Visa und Reisen, Zollkooperation und anderes),
sollen für Europol und die nationalen Polizeibehörden offen stehen,
6.
einheitliche
Terrorismusdefinition der EU und Führung einer exekutiven EU-Terrorliste ohne
demokratische Legitimation und Kontrolle, aber mit gravierenden Folgen (Betroffen
werden politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert und sozial isoliert);
7.
der Europäische
Haftbefehl, dessen erste Umsetzung in Deutschland für verfassungswidrig erklärt
worden war, sowie die erleichterte Auslieferung von Verdächtigen innerhalb
der EU,
8.
der systematische
Flugdatentransfer aus der EU an US-Sicherheitsbehörden, die geplante
EU-eigene Erfassung und Verarbeitung von Flugpassagierdaten; das transnationale
Datenschutzabkommen u. das EU-Abkommen über SWIFT-Bankdaten mit den USA,
9.
ein
weiterer Ausbau der „Festung Europa“ durch verstärkte militarisierte
Sicherung der EU-Außengrenzen zur Abwehr von Flüchtlingen aus Kriegs- und
Krisengebieten, aus Diktaturen und wirtschaftlichem Elend – als Dreh- und
Angelpunkt der EU-Migrations- und Asylpolitik. Frontex, Eurosur
(Grenzüberwachungssystem), Ein- und Ausreisekontrollsystem, Internierungszentren
rund um die EU ...
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist in Bremen, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Berlin (www.ilmr.de), stellv. Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen sowie Mitglied/stellv. Sprecher der Deputation für Inneres der Bremer Bürgerschaft. Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundestags und von Landtagen. Mitherausgeber des jährlich erscheinenden „Grundrechte-Reports. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M.) und als solcher ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille 2008 (www.grundrechte-report.de). Mitglied in der Jury zur jährlichen Vergabe des Negativpreises „BigBrother-Award” (www.bigbrotherawards.de) und im Kuratorium zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille. Autor zahlreicher Sachbücher zu Bürger- und Menschenrechtsthemen, zuletzt: >Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der „Heimatfront“<, Hamburg 2007. Internet: www.rolf-goessner.de.
[1] Aktualisierte und erweiterte Version eines Vortrags, den der Autor während der Auftaktveranstaltung zum 16. Friedensratschlag in Kassel im Dezember 2009 gehalten hat.
[2] Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten vom 13. April 2006 (ABl. EU Nr. L 105 S. 54–60); Umsetzung in Deutschland durch Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG vom 21.12.2007 (BGBl. I S. 3198).
[3] u.a. in gemeinsamen Sicherheitszentren wie dem nachrichtendienstlichen EU-Lage- und Analysezentrum SitCen
[4] VIS, wo u.a. Daten der Eingeladenen und Einlader, biometrische Daten, Angaben über die Übernahme der Aufenthaltskosten gespeichert werden.
[5] Vgl. dazu eingehend: Gössner, Menschenrechte in Zeiten des Terrors, Hamburg 2007, S. 120 ff.
[6] „Abkommen über die Vertiefung der Zusammenarbeit bei der Verhinderung und Bekämpfung schwerwiegender Kriminalität“; BT-Drs. 16/13123; 16/13185; 16/13124.
[7] S. dazu: Pressemitteilungen des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg v. 10.07.2009 und vom 5.11.2009 („Die Sammelwut von Informationen über Gesundheit, Sexualleben oder Gewerkschaftszugehörigkeit verhindert keine terroristischen Straftaten“).
[8] Hier gab es im Abkommen nur kosmetische Verbesserungen; dazu ausführlich: Weichert, in: Grundrechte-Report 2010, Frankfurt/M. 2010.
[9] Dazu Schreiben der Bundesjustizministerin und Landesvorsitzenden der FDP in Bayern an die “lieben Parteifreundinnen und Parteifreunde” vom 4.12.2009, in dem diese Geschichte zu erklären versucht.
[10] Bonse, Westerwelle fällt um, in: Handelsblatt v. 30.11.2009
[11] Geyer, EU-Parlament will Swift-Abkommen kippen, in: Frankfurter Rundschau v. 29.01.2010.
[12] Gössner, Europäische Union erhält Big-Brother-Award 2008. Laudatio auf den EU-Ministerrat für seine EU-Terrorliste, in: Frankfurter Rundschau www.fr-online.de 25.10.2008 m.w.N. sowie unter: www.bigbrotherawards.de/2008/.eu
[13] Vgl. European Union–Factsheet: The EU List of persons, groups and
entities subject to specific measures to combat terrorism, 15 July 2008;
näheres dazu: Gössner, Menschenrechte in Zeiten des Terrors, Hamburg 2007, S.
186 ff.
[14] Nach § 34 Außenwirtschaftsgesetz
[15] Ausführlicher zur gesamten Problematik: Gössner, EU-Terrorliste: Feindstrafrecht auf Europäisch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2009, S. 13 ff. m.w.N.
[16] Rahmenentscheidung Art. 3, 09/01; Rahmenbeschluss des Europarates vom 13.06.2002
[17] taz 13.2.06, S. 7
[18] Telepolis 7.5.2008
[19] Zu nennen wären darüber hinaus die ”Frühwarnsysteme” für Asyl (CIREA) und für Einwanderung (CIREFI) sowie die Fingerabdruckdatei über Asylsuchende namens „Eurodac“.
[20] Informationen unter www.ilmr.de (www.ilmr.de/category/presseerklarungen/?year=2009)
[21] Zu dieser Entwicklung und Problematik: Gössner, Menschenrechte in Zeiten des Terrors, Hamburg 2007, S. 222 ff., 245 ff.
[22] Zur Problematik von Militäreinsätzen im Innern des Landes: Gössner, Militärischer Heimatschutz. Neue Sicherheitsarchitektur für den täglichen Ausnahmezustand? in: Luedtke/Strutynski (Hg.), Deutschland im Krieg. Transatlantischer Imperialismus NATO und EU, Kasseler Schriften zur Friedenspolitik, Verlag Winfried Jenior, Kassel 2009, S. 263 ff.
[23] Diese Grundrechte sind künftig sowohl vor nationalen Gerichten als auch in letzter Instanz vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg einklagbar. Das gilt auch für die Rechte von Kindern und Asylsuchenden.