DEUTSCHE
WELLE DW-World 11.05.2005 ©
http://www.dw-world.de/dw/article/0,1564,1580526,00.html
Menschenrechtsliga:
Umsetzung des Gerichtshof-Urteils zu Öcalan
Gradmesser für die Glaubwürdigkeit der Türkei
Rolf
Gössner, Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte,
im
Interview von DEUTSCHE WELLE: DW-WORLD.DE
"Der
Umgang mit diesem Fall Öcalan ist ein Gradmesser für die Glaubwürdigkeit der
Menschenrechtsentwicklung in der Türkei. Ich gehe davon aus, dass die Türkei
verurteilt wird, weil es kein faires Verfahren war, das 1999 in der Türkei
stattgefunden hat." Das sagte der Präsident der Internationalen Liga für
Menschenrechte (Berlin), Rolf Gössner, in einem Interview von DW-WORLD.DE.
Einen Tag vor dem erwarteten Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg im Berufungsverfahren "Öcalan gegen die Türkei" erklärte Gössner, im Fall einer Verurteilung der Türkei werde es "harte Auseinandersetzungen um eine Neuverhandlung in der Türkei geben, insbesondere mit den nationalistischen Kräften". Er gehe davon aus, dass der Gerichtshof das Verfahren aufgrund schwerer Verstöße gegen das Völkerrecht und die europäische Menschenrechtskonvention für rechtswidrig erklären und für eine Neuansetzung plädieren werde. Entscheidend dafür, ob das Straßburger Urteil umgesetzt werde oder nicht, "wird letztlich das Verhalten der EU im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen sein. Es muss deutlich gemacht werden", so Gössner weiter, "dass ein solcher Spruch des höchsten europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in der Türkei umzusetzen ist".
Seine
Organisation fordere die sofortige Aufhebung der Isolationshaft sowie die
Unterlassung aller Willkürhandlungen, die den Kontakt mit Familienangehörigen
und Anwälten schwer beeinträchtige. Öcalan sei auf der türkischen
Gefängnisinsel Imrali nach wie vor der einzige Häftling. Nach Beobachtungen
seiner Organisation, so Gössner, habe sich die Menschenrechtslage in der Türkei
bislang nicht wesentlich verbessert. Den Kurden würden weiterhin Grundrechte
vorenthalten.
11.
Mai 2005, 122/05
Das
gesamte Interview im Wortlaut:
http://www.dw-world.de/dw/article/0,1564,1580230,00.html
© 11.05.2005
"Der Fall Öcalan ist ein Gradmesser
für die türkische Menschenrechtspolitik"
Der Prozess gegen PKK-Chef Öcalan war unfair, sagt der
Präsident der Liga für Menschenrechte Rolf Gössner im DW-WORLD-Interview. Er
hofft, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dies nun genauso
sieht
DW-WORLD: Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte in Straßburg will am Donnerstag sein definitives Urteil über
die Klage des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan gegen die Türkei bekannt
geben. Die Richter haben darüber zu entscheiden, ob Öcalan 1999 in der Türkei
ein fairer Prozess gemacht worden war. Mit welchem Richterspruch rechnen Sie?
Rolf
Gössner: Ich gehe
davon aus, dass die Türkei verurteilt wird, weil es kein faires Verfahren war,
das 1999 in der Türkei stattgefunden hat. Das hat der Europäische Gerichtshof
bereits im vorherigen Verfahrensabschnitt 2003 festgestellt. Ich hoffe, dass er
sich in seinem Urteil auch zu zwei wesentlichen Punkten äußert, die er 2003
offen gelassen hatte. Zum einen zu den dubiosen Umständen der Entführung
Öcalans im Februar 1999 aus Kenia und zum anderen zu den Vorwürfen der
Isolationshaft, der Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali ausgesetzt ist, wo er
als einziger Gefangener einsitzt. Bei beiden Punkten handelt es sich um mutmaßlich
schwere Verstöße gegen das Völkerrecht und die europäische
Menschenrechtskonvention.
Inwiefern
war das Verfahren in der Türkei 1999 unfair?
Dieser
Hochverratsprozess, der als "Jahrhundertprozess" bezeichnet wurde,
ist in erstaunlicher Schnelligkeit über die Bühne gegangen - nicht gerade ein
Indiz für Gründlichkeit. Geführt wurde der Prozess zudem von einem Gericht, das
nicht als unabhängig bezeichnet werden kann, da ein Militärrichter daran
beteiligt war. Durch die massive Einschränkung seiner Verteidigung und durch
die Verhängung der Todesstrafe wurde Öcalan inhuman behandelt. Inzwischen ist
die Todesstrafe ja in lebenslange Haft umgewandelt worden, aber die anderen
Rechtstaatswidrigkeiten sind geblieben.
Sie
waren als Beobachter des Öcalan-Revisionsverfahrens in Straßburg. Warum?
Das
Revisionsverfahren im Juni 2004 (Das Urteil der kleinen Kammer des
Gerichtshofes 2003, das Verfahren gegen Öcalan sei unfair, wurde von Öcalans
Rechtsanwälte positiv gewertet, wenn auch als ungenügend. Deshalb legten sie
2004 Revision ein. Anmerkung d. Red.) ist von einer ganzen Reihe von
Persönlichkeiten und Menschenrechtsorganisationen aus Europa und Südafrika
beobachtet worden. Ich war für die "Internationale Liga für
Menschenrechte" dabei. Es ging darum, auf internationaler Bühne deutlich
zu machen, dass der Fall Öcalan nicht etwa Geschichte ist, sondern weit in die
Gegenwart und Zukunft der Türkei und Europas hineinragt. Der Umgang mit diesem
Fall ist ein Gradmesser für die Glaubwürdigkeit der türkischen Menschenrechtsentwicklung.
Da die Türkei nicht von sich aus die notwendigen Bedingungen schafft, war der
Weg nach Straßburg für die Verteidiger zwingend.
Sollte
der Gerichtshof die Türkei verurteilen - wie wird sich Ihrer Meinung nach die
türkische Regierung verhalten?
Prinzipiell
ist die Türkei verpflichtet, Urteile des Europäischen Gerichtshofs umzusetzen.
Allerdings gibt es für den Fall der Wiederaufnahme von Verfahren eine
Einschränkung: Strafverfahren, die vor Anfang 2003 in letzter Instanz in der
Türkei abgeschlossen worden sind - und Öcalan wurde ja bereits 1999 verurteilt
- , sind davon ausgenommen. Hier spricht man sogar von einer "Lex
Öcalan". Es wird harte Auseinandersetzungen um eine Neuverhandlung in der
Türkei geben, insbesondere mit den nationalistischen Kräften. Entscheidend
dafür, ob das Straßburger Urteil umgesetzt wird oder nicht, wird letztlich das
Verhalten der EU im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen sein. Es muss deutlich gemacht
werden, dass ein solcher Spruch des höchsten europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
in der Türkei umzusetzen ist. Es muss eine Neuverhandlung angesetzt werden
unter Bedingungen, die einem fairen Verfahren entsprechen.
Inwiefern
muss die EU auch weiterhin Druck ausüben?
Der
Fall Öcalan muss bei den EU-Beitrittsverhandlungen berücksichtigt werden, insbesondere
was die Haftbedingungen angeht. Nach gegenwärtigem Recht könnte Öcalan bis zu
neun Jahre unter erschwerten Bedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali in
Einzelhaft gehalten werden. Und die lebenslange Haft wird laut Gesetz bis zum
Tode vollstreckt. Streng genommen ist das ja eine Hinrichtung auf Raten. Und
Isolationshaft ist eine Methode, die dazu geeignet ist, Persönlichkeit und
Willen von Gefangenen zu brechen. Deshalb wird diese Methode auch als weiße
Folter bezeichnet.
Lesen
Sie im zweiten Teil, welche Eindrücke Rolf Gössner zur Menschenrechtslage kürzlich
bei einer Reise in die Türkei sammeln konnte.
Welche
Forderungen stellen Sie an die Türkei?
Ich
fordere im Namen der "Internationalen Liga für Menschenrechte" die
sofortige Aufhebung der Isolationshaft, zweitens die Unterlassung aller
Willkürhandlungen, die den Kontakt mit Familienangehörigen und Rechtsanwälten
nach wie vor schwer beeinträchtigen. Darüber hinaus die Entsendung einer
unabhängigen Ärztekommission, die sich um den schlechten Gesundheitszustand
Öcalans kümmern sollte. Es geht aber nicht nur um den Fall Öcalan. Bei den
Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zur EU muss die Lösung der
Kurdenfrage insgesamt einen ganz zentralen Platz einnehmen. Das ist nach wie
vor ein brennendes Problem.
Sie
haben kürzlich mit einer internationalen Delegation von Juristen die Türkei
besucht, auch um sich über die Situation Öcalans zu informieren. Welche
Eindrücke konnten Sie gewinnen?
Wir
wollten uns einen persönlichen Eindruck von den Haftbedingungen auf der
Gefängnisinsel Imrali verschaffen. Unser Besuchsantrag wurde aber vom
Justizminister aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Die Insel und die Zufahrtswege
sind militärisches Sperrgebiet. Da gibt es kein Durchkommen. Wir konnten aber
mit den Anwälten und Familienangehörigen Öcalans sprechen. Wir haben uns
außerdem bei offiziellen Stellen und Nichtregierungsorganisationen über die
Menschenrechtslage insgesamt informiert.
Und,
hat die Situation sich verbessert?
Es
gibt da viel Propaganda von Seiten der türkischen Regierung und auch eine
gewisse Leichtgläubigkeit auf Seiten mancher Europäer. Leider hat sich nach
unseren Erkenntnissen die Menschenrechtslage bislang noch nicht wesentlich
verbessert. Es gibt zwar Anstrengungen, aber auch eine erhebliche Diskrepanz
zwischen den Gesetzesreformen und der Umsetzung in der Praxis. Mentalität und
Denken der türkischen Regierung und Behörden haben sich unseres Erachtens nicht
grundlegend geändert. Die offizielle Politik ist weit davon entfernt, die Identität
der Kurden anzuerkennen und sie mit gleichen Rechten und Freiheiten
auszustatten. Nach wie vor werden Kurden unterdrückt, nach wie vor werden ihnen
Grundrechte vorenthalten. Hier will ich noch einmal die Rolle der EU betonen.
Die Menschenrechtsorganisationen in der Türkei sagen übereinstimmend, dass sie
die EU-Beitrittsverhandlungen als historische Chance werten, die
Menschenrechtslage zum Besseren zu wenden. Auch ich bin zu der Auffassung
gelangt, dass gerade der Einfluss der EU für eine Verbesserung der
Menschenrechtslage der wirksamste Faktor sein kann.
Dr.
Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, ist seit 2003 Präsident der
"Internationalen Liga für Menschenrechte", Mitherausgeber der Zweiwochenschrift für
"Ossietzky" und des jährlich
erscheinenden "Grundrechte-Reports: Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte
in Deutschland".
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Über den Bericht der Internationalen
Menschenrechtsdelegation:
http://www.dw-world.de/dw/article/0,1564,1483437,00.html
Der Bericht im Wortlaut in deutscher und englischer
Fassung:
www.rolf-goessner.de;
http://www.rolf-goessner.de/ProzessbeobZusstellg.htm