Eröffnungsrede

zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille 2004

von Dr. Rolf Gössner
Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte

 

Verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde!

Seit über 40 Jahren verleiht die Internationale Liga für Menschenrechte die Carl-von-Ossietzky-Medaille an Frauen, Männer und Gruppen, die sich um die Menschenrechte und den Frieden besonders verdient gemacht haben. In diesem Jahr hat das Kuratorium der Liga diese Ehrung Esther Bejarano, Peter Gingold, Martin Löwenberg und Percy MacLean zuerkannt. Percy MacLean wird für sein aufklärerisches Wirken und seine dem Antidiskriminierungsgebot verpflichtete justizielle Tätigkeit ge­würdigt. Oft gegen starke Widerstände aus Behörden und Politik hat er vor allem in Flüchtlingsfragen klare menschenrechtliche Akzente gesetzt. Als erster Direktor des „Deutschen Instituts für Menschenrechte“ hat er sich dafür stark gemacht, nicht allein Menschenrechtsverletzungen in fernen Ländern zu thematisieren, sondern auch die Menschenrechtslage in Deutschland zu beleuchten – etwa den Umgang mit Flüchtlingen. Diese notwendige Focussierung hat ihn letztlich seine Stellung gekostet. Schließlich gibt es in Deutschland, wie wir ja nun alle wissen, keine Menschenrechtsverletzungen, folglich hat dieses Thema auch nichts auf der Agenda zu suchen - so die Logik...

Esther Bejarano, Peter Gingold und Martin Löwenberg stehen stellvertretend für viele, die in der NS-Zeit aus politischen, häufig zugleich aus sog. rassischen Gründen verfolgt worden waren, aktiv gegen das Naziregime gekämpft hatten und dann in der Bundesrepublik wegen ihres antifaschistisch-sozialistischen Engagements kriminalisiert, teils sogar inhaftiert wurden; die sich aber trotz alledem weiter aktiv gegen Rassismus und Neonazismus engagiert haben und, bis ins hohe Alter, immer noch so engagieren – unter anderem in der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten“ (VVN-BdA), der alle drei angehören. Heute noch stellen sie sich Nazi-Aufmärschen in den Weg und sind als kritische Zeitzeugen gerade für junge Menschen wertvolle Gesprächspartner.

Indem wir den von allen vier Preisträgern auf unterschiedliche Weise geführten politischen und rechtlichen Kampf gegen Diskriminierung, Rassismus und Neonazismus in dieser Gesellschaft würdigen, wollen wir ein Zeichen setzen gegen den fatalen Rechtsruck hierzulande, gegen Antisemitismus, Islamophobie und rechte Gewalt.

Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges - West[1]

Lassen Sie mich die heutige Medaillenverleihung zum Anlass nehmen, an ein verdrängtes Kapitel bundesdeutscher Geschichte zu erinnern – ein Kapitel, von dem drei unserer Medaillenträger mehr oder weniger stark betroffen waren. Nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik konzentrierten sich bekanntlich alle Anstrengungen darauf, die Geschichte der DDR zu durchforschen, die Opfer der Stasi und der DDR-Justiz zu rehabilitieren und zu entschädigen. Diese Aufarbeitung war notwendig und vom Ansatz her respektabel. Doch streckenweise ist daraus eine westdominierte Abrechnung geworden – jedenfalls handelte es sich um ein äußerst einseitiges Unternehmen, dem ich den Anspruch entgegenhalten möchte, dass die Aufarbeitung der Geschichte in einem ehemals geteilten Land unteilbar sein muss.

Die Konzentration auf die Geschichte der DDR ließ in Vergessenheit geraten, dass es auch in der westdeutschen Geschichte überaus dunkle Kapitel gibt. Dazu gehören drei Grundbelastungen, die die Bundesrepublik von Anfang an prägten: die verschleppte, mangelhafte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die systematische Wiedereingliederung von Alt-Nazis in Staat und Gesellschaft sowie die massive politische Verfolgung in den ersten beiden Jahrzehnten.

Politische Verfolgung in Westdeutschland? So mögen sich manche Bundesbürger ungläubig fragen, das kann doch nicht wahr sein, schließlich war dafür doch die DDR zuständig. Doch stellen Sie sich vor, mehrere Frauen organisieren preiswerte Ferien für Kinder aus sozial benachteiligten Familien - und werden dafür mit je einem Jahr Gefängnis und fünf Jahren Ehrverlust bestraft, nur weil das Reiseziel die DDR war. Die Ferienvermittlung, so die Richter, sei ”staatsgefährdende nachrichten­dienstliche Tätigkeit” und politische ”Wühlarbeit” in einer ”kommunistischen Tarnorganisation”. Die Deutsche Bundesbahn hatte jahrelang Sonderzüge für diese Fahrten zur Verfügung gestellt.

Oder jemand trägt eine rote Nelke im Knopfloch und verteilt weitere Nelken an Passanten - auch das wird ihm zum strafrechtlichen Vorwurf gemacht, denn rote Nelken sind Symbole der Kommunistischen Partei. Eine andere Person mobilisiert gegen die Wiederbewaffnung des Landes - auch dies reicht aus, sie hinter Gitter zu bringen.

So unerhört es in manchen Ohren klingen mag: Auch in der Alt-Bundesrepublik gab es politische Verfolgung großen Ausmaßes - unter dem Tarnmantel des Rechts und auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Betroffen waren in erster Linie Kommunisten, ihre Unterstützer und »Sympathisanten«; aber auch Menschen, die weder Kommunisten waren noch ihnen politisch nahe standen. Das gesamte Ausmaß erscheint heute geradezu unglaublich: In der Zeit von 1951 bis 1968 – also innerhalb von 17 Jahren - gab es Ermittlungsverfahren gegen mehr als 200.000 Personen, nahezu ausschließlich wegen gewaltfreier linksoppositioneller Arbeit. Vielfach verfolgt wurden Gegner der Remi­litarisierung Westdeutschlands, andere wurden wegen sog. Geheimbündelei bestraft, weil sie für eine »Wiedervereinigung Deutschlands in freien Wahlen« oder für ein demokratisches, entmilitarisiertes und neutrales Gesamtdeutschland ein­getreten waren oder weil sie deutsch-deutsche Kontakte pflegten.

Solche Aktivitäten konnten zu mehrmonatigen, teilweise auch mehrjährigen Gefängnisstrafen führen. Die Betroffenen wurden ihrer staats­bürgerlichen Rechte, ihres Passes, ja auch ihres Führerscheins beraubt, unter langjährige Polizeiaufsicht gestellt und mit Berufsverboten belegt. Die Ermittlungs- und Strafverfahren waren geeignet, die betroffenen Personen psychisch zu zermürben und finanziell zu ruinieren.

Alte Täter – gleiche Opfer

Wie war es möglich, dass nach den schlimmen Erfahrungen mit politischer Verfolgung in der Nazi-Zeit eine so umfassende Kriminalisierung und Ausgrenzung in der jungen Bundesrepublik wieder Einzug halten konnte - gerichtet nicht etwa gegen Alt- und Neonazis, sondern gegen Kommunisten und andere Linke, die bereits unter dem Nazi-Regime politisch Verfolgte waren? Verfolgt nach einem Staatschutz-Strafrecht, das bis in die Formulierungen an das NS-Recht angelehnt war und nun als „Waffe im Kalten Krieg“ diente. Unverkennbar zeigte dieses Gesinnungsstrafrecht die Handschrift „entnazifizierter“ Nazis, die in die Verwaltungen und Sicherheitsbehörden zurückströmten. Sie wirkten bei der inneren Aufrüstung der Bundesrepublik als „Bollwerk“ gegen die kommunistische Gefahr aus dem Osten eifrig mit – auf Grundlage eines neu-alten Feindbildes, eines tiefverankerten antikommunistischen Grundkon­senses. Viele ehe­malige Gestapo-Beamte und SS-Angehörige erklommen hohe Posten bei Polizei und Geheimdiensten. Und selbst die furchtbarsten Juristen der NS-Sondergerichte kehrten in Amt und Würden zurück und besetzten Schlüsselpositionen in der Justiz.

So kam es, dass die neuen Verfolger nicht selten die Täter von gestern waren und viele der Bestraften bereits unter den Nazis verfolgt worden waren. So musste sich etwa eine kommunistische Angeklagte vor dem Landgericht Lüneburg vorhalten lassen, dass sie »trotz schwerer Bestrafung in den Jahren des Nationalsozialismus nichts daraus gelernt« habe.

Höhepunkt dieser Verfolgung war im Jahre 1956 das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands. In der Folgezeit wurden zahlreiche weitere Vereinigungen verboten, Menschen wegen des Verstoßes gegen das Verbot und wegen Beteiligung an sog. Tarn- oder Ersatzorganisationen bestraft. Kriminalisiert wurden damit Menschen, die in der Bundesrepublik »keine politischen Morde, keine Aufstandsversuche, keinerlei Gewalttaten« begingen, wie der in solchen Prozessen verteidigende Anwalt und spätere nordrhein-westfälische Justizminister, Diether Posser (SPD), in seinem Buch „Anwalt im Kalten Krieg“ zurecht festgestellt hat. Diese 17jährige Ära einer exzessiven Kommunistenverfolgung fand erst 1968 mit der Liberalisierung des politischen Strafrechts ein Ende. Einige der schlimmsten Gesinnungsparagrafen sind damals gestrichen worden - ohne damit allerdings das politische Strafrecht und die Politische Justiz in ihrer Substanz zu treffen.

Die veränderte außenpolitische Großwetterlage, die dann auch offizielle Verhandlungen mit der DDR und eine neue Ostpolitik bzw. Entspannungspolitik zuließ, setzte straffreie Ostkontakte geradezu voraus; die Kommunistenverfolgung wurde zum offensichtlichen Anachronismus. Der Antikommunismus hatte seine Integrationsfunktion eingebüßt, ohne allerdings auf dem Müllhaufen der Geschichte zu landen.

Schon ab 1972 erfuhr die Kommunistenverfolgung – als Reaktion auf die Studentenbewegung und ihr Motto: »Marsch durch die Institutionen« - eine Fortsetzung mit anderen Mitteln. Hunderttausendfache Überprüfungen durch den »Verfassungsschutz« und tausendfache Berufsverbotsverfahren auf der Grundlage des sogenannten Radikalenerlasses bedrängten Intellektuelle, Liberale und die gesamte Linke und vergifteten das politische Klima der sozialliberalen 70er Jahre. Nur in einem Fall ist ein Gerichtsverfahren bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getrieben worden; erst hier ist das Berufsverbot mit 15jähriger Verspätung für verfassungs- und menschenrechtswidrig erklärt worden.

Rechtsstaatliches Unrecht – keine Rehabilitierung

Gewiss dürfen bei alledem die Konfrontation und Dynamik des Kalten Krieges nicht übersehen werden. Tatsächlich waren die Funktionäre der KPD stark an der – anfänglich noch stalinistischen – KP der Sowjetunion und an der SED der DDR orientiert, bekämpften nicht nur die Restauration alter Verhältnisse, sondern das westliche System. Das darf uns aber nicht daran hindern, das Unrecht, das hierzulande begangen wurde, auch Unrecht zu nennen – ein politisch motiviertes Unrecht, das die politische Kultur in der jungen Bundesrepublik nachhaltig vergiftete. Jahrzehnte nach dem KPD-Verbot bemängelte die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, dieses Urteil sei wahrlich „kein Ausdruck besonderer demokratischer Souveränität“.

Trotz vielfacher parlamentarischer Bemühungen sind die Betroffenen bis heute nicht rehabilitiert worden. Schließlich, so die offizielle Begründung, sei seinerzeit doch alles ganz rechtsstaatlich gelaufen. Doch schon an der formellen Rechtsstaatlichkeit vieler Ermittlungs- und Strafverfahren sind Zweifel angebracht, weil die sonderjustitiellen Bedingungen ein faires Verfahren praktisch unmöglich machten. Ein anderes Gerechtigkeitsproblem kommt hinzu: Vielen NS-Opfern und Widerstandskämpfern sind wegen ihrer linksoppositionellen Tätigkeit in Westdeutschland sämtliche Wiedergutmachungsansprüche wegen „Unwürdigkeit“ verweigert oder wieder entzogen worden - selbst jene Ansprüche, die ihnen wegen Freiheitsentziehung in Konzentrationslagern oder wegen der in diesen Lagern erlittenen Gesundheitsschäden eigentlich zustanden.

Diese systematischen Ungerechtigkeiten sind mit den Maßstäben einer freiheitlich demokratischen Grundordnung unvereinbar. Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges müssen deshalb, so unsere Forderung, schnellstens rehabilitiert und entschädigt werden.

Überwachung und Kriminalisierung antifaschistischen Engagements

Dass die Vergangenheit noch längst nicht abgeschlossen ist, kann man auch an der Tatsache ablesen, dass die VVN nach wie vor vom Verfassungsschutz beobachtetet wird – von einem demokratisch kaum zu kontrollierenden Geheimdienst, der schon im Kalten Krieg und im Zusammenhang mit den Berufsverboten viel Unheil gestiftet hat. Wie immer man zu der lange Zeit unkritischen Haltung der VVN zur DDR stehen mag – die aktuelle Beobachtung dieser überparteilichen, dieser generationenübergreifenden antifaschistischen Organisation ist ein Skandal. Und die Begründung des Verfassungsschutzes ebenfalls: Die VVN sei „linksextremistisch beeinflusst“ und huldige einem orthodox-kommu­ni­stischen Faschismusbegriff. Und der Gipfel der Erkenntnis: Die VVN werfe staatlichen Institutionen regelmäßig vor, Rechtsextremisten zu begünstigen und gleichzeitig repressiv gegen Antifaschisten vorzugehen.

Hiervon kann unser Preisträger Martin Löwenberg tatsächlich ein garstig Lied singen: Er, der bereits in den 50er und 60er Jahren wegen seiner politischen Arbeit zu insgesamt 20 Monaten Gefängnis verurteilt worden war, stand im Alter von 78 Jahren wiederum vor Gericht. Wegen „Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz“ verurteilte ihn das Amtsgericht München voriges Jahr zu einer Geldstrafe, weil er öffentlich dazu aufgerufen hatte, sich einem Neonazi-Aufmarsch gegen die Wehrmachtsausstellung in den Weg zu stellen. Er hielt es für legitim, sich – wie er formulierte - den „Totengräbern der Demokratie entgegenzustellen“ – für ihn eine lebensgeschichtliche Verpflichtung. Doch das Gericht sah in seinem Aufruf eine „öffentliche Aufforderung zu Straftaten“, nämlich die Absicht, einen nicht verbotenen Aufzug alter und neuer Nazis zu verhindern. Das Urteil ist seit September 2004 rechtskräftig. Die „Süddeutsche Zeitung“ titelte daraufhin: „Ex-KZ-Häftling wegen Nazi-Protest verurteilt“. Eine Polizeiangestellte wusste offenbar mit dem Kürzel KZ nichts anzufangen, weshalb sie in der polizeilichen Ermittlungsakte aus ihm einen ehemaligen „Kfz-Häftling“ machte.

Löwenberg ist nicht der einzige, der wegen seines antifaschistischen Engagements verurteilt wurde. Es mehren sich seit geraumer Zeit die Anklagen gegen Menschen, die zu Antinazi-Protesten aufriefen oder sich den Nazis in den Weg stellten. Dabei gerät eine früher seltener angewandte Strafnorm mehr und mehr zu einer juristischen Keule, nämlich § 21 Versammlungsgesetz. Diese weit gefasste Norm namens „Versammlungsstörung“ kann von Polizei und Staatsanwaltschaft dazu gebraucht oder auch missbraucht werden, jeglichen antifaschistischen Protest im Vorfeld zu kriminalisieren und zu ersticken.[2] Das beeinträchtigt die Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit – nach dem Motto: Nazis darf man sich nicht ungestraft in den Weg stellen. So wird die geforderte zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung, der gewaltfreie Protest gegen Neonazismus und Rassismus von Staats wegen behindert.

Lassen wir das nicht zu, liebe Freunde und Freundinnen. Am 8. Mai 2005, dem 60. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Naziterror, sollen wieder Nazis durch das Brandenburger Tor marschieren dürfen. Die Jungen Nationaldemokraten (JN) haben ihren Aufmarsch am 4.11.04 angemeldet; er soll von 10 bis 18 Uhr dauern und von Osten kommend am Platz des 18. März enden. Demgegenüber sollen antifaschistische Aktionen in örtlicher Nähe das Nachsehen haben, weil nach dem „Prinzip der ersten Anmeldung“ der Neonazi-Aufzug „vorrangig zu betrachten“ sei. So hat das Polizeipräsidium Berlin die Anmelder des Brecht-Projektes „Das Begräbnis oder Die Himmlischen Vier“ beschieden, obwohl deren Anmeldung bereits am 4.10.04, also einen Monat früher, erfolgt war – allerdings noch ohne genaue Streckenplanung. Auch wenn noch nichts wirklich entschieden ist: Wir müssen uns darauf vorbereiten. Ob wir uns nun wohl strafbar machen, wenn ich von hier aus dazu ausrufe: Lassen Sie uns den Alt- und Neonazis am 8. Mai 2005 gemeinsam entgegenstellen!?

In Baden-Württemberg versucht ein junger Mann seit Jahren, dem rechten Spuk entgegen zu wirken. Die Strafe: Berufsverbot. Dem Heidelberger Realschullehrer Michael Csaszkóczy hat kürzlich die baden-würt­tembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU) die Einstellung in den Staatsdienst verweigert. Begründung: Der Lehrer engagiere sich in einer Antifaschistischen Initiative gegen fremdenfeindliche und neonazistische Bestrebungen. Eigentlich ja ein anerkannt löbliches Tun, rufen doch auch Politiker zuweilen einen „Aufstand der Anständigen“ aus. Doch diese legale Antifa-Initiative zählt nicht zu den offiziell anerkannten "Anständigen". Denn sie sei linksextremistisch, so der definitionsmächtige Verfassungsschutz. Mit diesem neuen Berufsverbotsfall wird ein Antifaschist aus Gesinnungsgründen vom Schuldienst ferngehalten, dem persönlich kein Fehlverhalten vorzuwerfen und der für den Lehrerberuf bestens qualifiziert ist. Solche Lehrer braucht das Land! Die Liga hat sich dem Protest gegen diese Neuauflage der unsäglichen Berufsverbotepolitik angeschlossen.[3]

Institutionalisierter Rassismus

Am 16. November schob der Bundesgrenzschutz die hochschwangere Jenny S. aus Indonesien, ihren pakistanischen Lebenspartner Imran F. und ihren Sohn Aman nach Indonesien ab – ohne eine noch ausstehende Härtefallentscheidung des Petitionsausschusses des Bundestags abzuwarten. Nach einem 14stündigen Flug um die halbe Erde scheiterte die Abschiebung letztlich, weil der BGS notwendige Papiere vergessen hatte. Nach weiteren 14 Stunden Flug – auf dem die Hochschwangere trotz starker Schmerzen nicht ärztlich versorgt wurde – durften die Flüchtlinge dann aus „humanitären Gründen“ wieder ins Land. Nun wird der zweite Abschiebeversuch vorbereitet.

Dies ist die kurze Geschichte einer versuchten Abschiebung auf Teufel komm’ raus – eine, die öffentlich geworden ist. In der täglichen Abschiebepraxis werden ständig Menschenrechte verletzt, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt. Hier ist die Würde des Menschen längst zur rhetorischen Formel verkommen – und es sind viel zu wenige, die sich diesem Tabuthema stellen. Einer davon ist Percy MacLean. Er engagiert sich für eine menschenrechtsorientierte Flüchtlings- und Asylpolitik, von der wir meilenweit entfernt sind – ja, von der wir uns immer weiter entfernen.

So beobachtet die Liga mit Sorge die gegenwärtige Praxis des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, vermehrt Asylanerkennungen zu widerrufen. In vielen Fällen widerruft das Amt seine eigenen Beschlüsse, mit denen es politische Flüchtlinge wegen Verfolgungsgefahr als asylberechtigt anerkannt hatte. Die seit 2002 geltenden „Anti-Terror“-Ge­setze machen’s möglich: Sie erschweren die Anerkennung von Asylbewerbern und erleichtern ihre Ausweisung. Damit wird ihnen der Schutz vor Auslieferung an Verfolgerstaaten, der Schutz vor Folter und Mord entzogen.[4]

Nach wie vor weigert sich die Bundesregierung, langjährig in Deutschland geduldeten Flüchtlingen ein Bleiberecht einzuräumen, "Menschen ohne Papiere" eine Chance auf Legalisierung und damit auf Integration zu eröffnen; nach wie vor weigern sich einzelne Bundesländer, die UN-Kinder­rechtskon­vention in vollem Umfang zu ratifizieren, die unter 18jährigen mehr Schutz vor Abschiebung gewähren würde. Trotz der Zunahme rassistischer Übergriffe ist die Bundesregierung offenbar nicht in der Lage, effektive Maßnahmen gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung zu ergreifen. Ein Antidiskriminierungsgesetz ist nach sechs rot-grünen Regierungsjahren immer noch nicht unter Dach und Fach (erst im Januar 2005 wird ein Gesetzesentwurf der rot-grünen Regierungsfraktionen in erster Lesung in den Bundestag eingebracht). Mit diesen Versäumnissen und Verzögerungen hat die Bundesregierung ihre völkerrechtlichen Vertragsverpflichtungen eklatant verletzt. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, diesen Verpflichtungen endlich nachzukommen.

Mit der ebenfalls noch ausstehenden Ratifizierung des Zusatzprotokolls der UN-Antifolter-Konvention (Einigung zwischen Bund und Ländern erfolgte erst nach dieser Rede) würde einem Sachverständigenausschuss das Recht eingeräumt, unangemeldet Gefängnisse, Abschiebeknäste oder Polizeistationen zu inspizieren. Damit sollen inhaftierte Menschen vor Folter und anderen grausamen Maß­nahmen geschützt werden. Die Menschenrechtsgruppen „Aktion Courage“ und „amnesty international“ haben Anfang des Jahres zahlreiche Fälle von Polizeiübergriffen auf Migranten dokumentiert, bei denen viele Betroffene zum Teil schwer verletzt worden sind, einige von ihnen starben.[5]

Angesichts dieser Übergriffe, angesichts des Machtmissbrauchs gegenüber Migranten ist daran zu erinnern, dass sich deren bürgerrechtliche Situation mit den neuen „Anti-Terror“-Gesetzen von 2002 ohnehin gravierend verschlechtert hat: Gehörten sie schon bislang zu der am intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe, so werden sie nun unter Generalverdacht gestellt und einem noch rigideren Überwachungssystem unterworfen, was für viele existentielle Folgen haben kann.

Diese Gesetzesverschärfungen, die kaum mehr Sicherheit schaffen, erklären Ausländer zu erhöhten Sicherheitsrisiken, grenzen sie aus und schüren fremdenfeindliche Ressentiments. Das ist das Gegenteil von Integration. Migranten, unter ihnen besonders Muslime, gehören zu den eigentlichen Verlierern des staatlichen „Anti-Terror-Kampfes“.[6] Nach dem Mord an Theo van Gogh hat die Islamismus-Debatte auch hierzulande geradezu hysterische Züge angenommen. Nach einer jüngst veröffentlichen Langzeituntersuchung nimmt die Islam- und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland ohnehin dramatisch zu. Lassen Sie mich hier ein besonders erschütterndes Beispiel behördlichen Rassismus’ schildern, das uns authentisch berichtet worden ist: Die Sachbearbeiterin eines schleswig-holsteini­schen Sozialamtes erteilte einer Sinti-Frau, die händeringend nach einer bezahlbaren Wohnung suchte, den Rat: „Versuchens Sie’s doch mal in Auschwitz“.

In diesem politischen Klima, das weit in die Mitte der Gesellschaft reicht, darf auch hierzulande wieder unbefangen über die Notwendigkeit der Folter debattiert werden. Wir erleben in diesen Antiterror-Kriegszeiten ein kräftiges Abrücken vom absoluten Folterverbot der internationalen Menschenrechtskonventionen. Man könnte 2004 zum „Jahr der Folter“ ausrufen – dafür stehen Abu Graib und Guantanomo. Und die Gefahr ist längst auf die Bundesrepublik übergesprungen:[7] Das zeigen die Debatte um den Fall Daschner und die erschreckenden Folterübungen bei der Bundeswehr, die als neue Einsatzarmee die Folterschule der Nation zu werden droht.

Darum braucht dieses Land noch viel mehr widerständige Menschen von der Art, wie es unsere diesjährigen Medaillenträger sind - Menschen, die gegen die Diskriminierung von Migranten, gegen erleichterte Auslieferungen, inhumane Abschiebehaft und neue Folterrechtfertigungsversuche opponieren. Dieses Land braucht Menschen, die sich gegen den bedrohlichen Rechtsruck dieser Gesellschaft und gegen den institutionalisierten Rassismus engagieren. Menschen, die hellwach reagieren auf aktuelle Debatten über deutsche Leitkultur und Patriotismus, auf den um sich greifenden Nationalismus, der nach altem Muster dazu dienen soll, Sozialabbau und Grundrechtseinschränkungen als Opfer fürs Vaterland zu verklären. Vielen Dank Ihnen, Esther Bejarano, Peter Gingold, Martin Löwenberg und Percy MacLean, für das Vorbild, das Sie geben.