Rolf Gössner  Im Geiste von Carl von Ossietzky

Aus den zahlreichen Preisen, die jährlich in der Bundesrepublik vergeben werden, ragt eine Auszeichnung besonders heraus: die Carl-von-Ossietzky-Medaille. Sie wird von der „Internationalen Liga für Menschenrechte“ in Berlin seit über 40 Jahren zum Tag der Menschenrechte verliehen. Es ist eine Auszeichnung für widerständiges politisches Engagement, für Zivilcourage und kritische Aufklärung – eine Auszeichnung, wie sie Mitte Dezember 2003 wieder im „Haus der Kulturen der Welt“ an Personen und Gruppen verliehen worden ist, die sich um Verteidigung, Durchsetzung und Fortentwicklung der Menschenrechte und des Friedens besonders verdient gemacht haben. In den vergangenen Jahren gehörten zu den Ausgezeichneten Hannes Heer und das Team der Ausstellung „Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht“, die Richter und Staatsanwälte für den Frieden, die Samstags-Frauen von Istanbul, Asyl in der Kirche und les Collectifs des Sans Papiers. Im Kriegsjahr 2003 hat sich die Liga gleich für zwei Preisträgerinnen entschieden: für die Historikerin und Publizistin Gerit von Leitner aus Berlin sowie die Bürgerinitiative „Freie Heide“ aus Brandenburg. Das Kriegsjahr 2003 war auch ein Jahr der Massenproteste gegen diesen Krieg. Und gerade vor diesem Hintergrund wollte die Liga mit ihrer Auswahl der Preisträger ein friedenspolitisches Zeichen setzen.

Gerit von Leitner wurde mit der Ossietzky-Medaille geehrt, weil sie in ihren Publikationen die individuelle Verantwortung von Wissenschaftlern einklagt, die Mittel zur Kriegsführung entwickeln und bereitstellen. Sie appelliert an ihre spezielle Verantwortung für den Frieden. Und sie erinnert an Schicksale von mutigen Frauen im Wissenschaftsbetrieb, die sich dieser Verantwortung stellten, für eine humane Wissenschaft kämpften und sich dem Militarismus in der Gesellschaft energisch widersetzten.

So werden wir in ihrem Buch „Der Fall Clara Immerwahr“ mit dem Schicksal einer jüdischen Wissenschaftlerin Anfang des vorigen Jahrhunderts konfrontiert. Clara Immerwahr war die Frau des Nobelpreisträgers und Kriegsverbrechers Fritz Haber, dessen Forschungen über die Ammoniaksynthese einerseits dem Wohle der Landwirtschaft diente, aber auch der Kriegswirtschaft. Seine Frau, die in ihrer Arbeit als Chemikerin hinter ihrem Mann zurückzustehen hatte, musste miterleben, wie ihr Mann ein mörderisches Giftgas entwickelte, eine chemische Waffe, die im Ersten Weltkrieg an den Kriegsfronten mit verheerenden Folgen eingesetzt wurde. Haber hatte den völkerrechtswidrigen Einsatz von Giftgas selbst angeregt. Seine Frau protestierte in aller Öffentlichkeit gegen diesen Missbrauch der Wissenschaft – aber sie konnte ihn letztlich nicht verhindern. Sie wurde von Haber deshalb als Vaterlandsverräterin gebrandmarkt und in den Selbstmord getrieben.

Gerit von Leitner hat das Schicksal Clara Immerwahrs aus der Vergessenheit zurückgeholt. Sie zeichnet das Bild einer emanzipierten Frau nach, die an die Verantwortung der Naturwissenschaftler für den Frieden appelliert und gegen die Bedrohung der menschlichen Lebensgrundlagen gekämpft hatte. So vermittelt sie, wie es Eberhard Radczuweit in seiner Laudatio formuliert, „Erkenntnisse über die Perversion menschlichen Erfindergeistes im Zusammenspiel mit wirtschaftlichen und politischen Interessen“.

Erst 1925 wird mit dem Genfer Giftgasprotokoll der Einsatz biologischer und chemischer Waffen geächtet – gleichwohl wurden solche Waffen weiterhin eingesetzt, erinnert sei nur an den US-Einsatz von Napalm und Agent-Orange in Vietnam oder an das Giftgas-Massaker des Saddam-Re­gimes gegen Kurden in Halabja. Obwohl schon Entwicklung, Produktion und Lagerung solcher Waffen  nach der Chemiewaffenkonvention von 1997 verboten sind, werden sie immer noch produziert – nicht nur von Schurkenstaaten. Erst zu Beginn diesen Jahres hat sich die US-Armee eine neuartige Granate patentieren lassen, mit der unter anderem biologische und chemische Kampfstoffe versprüht werden können. Und die US-Armee wurde kürzlich wegen ihres Kampfes gegen den Terror von lästigen Umweltschutzauflagen befreit, so dass sie Reste ihrer Chemiewaffen nicht zu entsorgen braucht, die Luft stärker verschmutzen und die Meere mit Sonar-Frequenzen verseuchen darf, die Navigation und Kommunikation von Walen und Delphinen stören.

Vor diesem aktuellen Hintergrund leistet Gerit von Leitner mit ihren Publikationen eine Erinnerungsarbeit, die gerade in heutiger Zeit wieder von höchstem Interesse ist, insbesondere für Menschen, die sich dem Kriegs- und Rüstungswahnsinn individuell oder kollektiv entgegenstemmen. Und damit ist nicht zuletzt die andere Preisträgerin gemeint: Denn die Bürgerinitiative "Freie Heide" wehrt sich seit Jahren kollektiv gegen die weitere militärische Nutzung des sogenannten Bombodroms – eines über 140 Quadratkilometer großen Areals in der Kyritz-Ruppiner Heide bei Wittstock in Brandenburg. Dieses Areal, etwa hundert Kilometer von Berlin entfernt, hatte der sowjetischen Roten Armee vierzig Jahre als Schieß- und Bombenabwurfgelände gedient und soll nach dem Willen der Bundesregierung künftig für die deutsche Luftwaffe und die gesamte NATO die gleiche Funktion erfüllen. Es wäre der größte Luft-Boden-Schießplatz in der Bundesrepublik und europaweit.

Bislang scheiterten die Verteidigungsminister von Volker Rühe bis Peter Struck immer wieder am Widerstand der Anwohner und an den Feinheiten des Verwaltungsrechts. Obwohl mehrere Anliegergemeinden, Naturschutzverbände und Hoteliers gegen die Inbetriebnahme geklagt hatten, ordnete Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD), einst Befürworter einer zivilen Nutzung, im Sommer 2003 den sofortigen Vollzug der militärischen Nutzung an. Einstweilige Verfügungen haben die Inbetriebnahme bislang noch verhindern können.

Die 1992 gegründete Bürgerinitiative stellt sich, nunmehr schon elf Jahre lang, der militärischen Nutzung des Geländes entgegen. Sie betreibt nicht nur den Schutz von Natur und Umwelt, sondern leistet Widerstand gegen den modernen Bombenkrieg, gegen die systematische Ausbildung zum Töten durch Luftangriffe. Die Mitglieder der Bürgerinitiative kennen die Antwort auf die Frage, warum Soldaten der Bundeswehr und anderer NATO-Staaten in der Ruppiner Heide den Abwurf von Bomben erlernen und trainieren sollen. Um sich auf kommende Kriege vorzubereiten – und zwar auf Kriege, die nicht mehr Verteidigungskriege sein werden, wie es im Grundgesetz festgeschrieben ist, sondern entsprechend der neuen Militärstrategien völkerrechtswidrige Interventionskriege in aller Welt.

Im Windschatten des internationalen Terrorismus und im Zeichen des weltweiten Anti-Terror-Kampfes sind sämtliche Prinzipien militärischer Beschränkung aufgeweicht, ist die Unterordnung unter die Regeln des Völkerrechts aufgekündigt worden. Auch gegen diese fatale Entwicklung ist die Widerstandsarbeit der „Freien Heide“ gerichtet – frei nach dem Motto „global denken – regional handeln“. Die Bürgerinitiative versteht sich dabei als Teil der Friedensbewegung und findet Unterstützung quer durch die politischen Lager.

Mit der Ossietzky-Medaille sind also zwei Preisträgerinnen ausgezeichnet worden, die vergleichbare Ziele mit höchst unterschiedlichen Mitteln verfolgen – und das mit viel Kraft und großer Ausdauer. Die gemeinsame Klammer ist ihr Einsatz gegen Militarisierung, Krieg und Rüstungsinteressen – ein Engagement wie aus dem Vermächtnis Carl von Ossietzkys.

 

Rolf Gössner ist Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte. Er hat während der Medaillenverleihung am 14.12.2003 vor etwa 400 Teilnehmern im Haus der Kulturen der Welt in Berlin die Eröffnungsrede gehalten. Alle Reden sind nachzulesen unter www.ilmr.net.

Internet-Adresse des Autors: www.rolf-goessner.de.