taz bremen 2.03.2010

Einen Riegel vorschieben

DATENSCHUTZ Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über die Vorratsdatenspeicherung

Heute urteilt das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerden gegen die Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten. Sie haben auch Beschwerde eingelegt. Warum?

Rolf Gössner: Weil mit Hilfe dieses Vorratsdatenreservoirs praktisch über die gesamte Bevölkerung Bewegungsprofile erstellt, geschäftliche Kontakte rekonstruiert und Freundschaftsbeziehungen identifiziert werden können. Auch Rückschlüsse auf Kommunikationsinhalte, auf persönliche Interessen und Lebenslagen werden möglich.

Warum sollte uns die Speicherung unserer Verbindungsdaten nicht egal sein?

Wie schnell Vorratsdaten missbraucht werden können, zeigen etwa die Missbrauchsfälle bei der Telekom, die diese Daten als Hilfspolizei des Staates vorrätig halten muss. Es handelt sich um eine Bedrohung von freier Kommunikation und Privatheit, aber auch von Berufsgeheimnissen und Pressefreiheit.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verwendung bereits eingeschränkt. Sie dürfen nur bei "dringender Gefahr" abgefragt werden. Warum reicht das nicht?

Ich halte es prinzipiell für unverhältnismäßig, Verkehrsdaten aller Bürger sechs Monate lang ohne Anlass zu speichern.

Was erwarten Sie heute?

Ich erwarte, dass das Gericht der Vorratsdatenspeicherung einen wirksamen Riegel vorschiebt und sie weitgehend für verfassungswidrig erklärt - so wie das Gericht in den vergangenen Jahren schon viele Sicherheitsgesetze für verfassungswidrig erklären musste. INTERVIEW: FEZ

Rolf Gössner

ist Rechtsanwalt, Vizepräsident der Intern. Liga für Menschenrechte und stellv. Sprecher der Innen-Deputation.

 

 1.03.2010

tagesthemen

Grundsatzurteil zu Datenspeicherung erwartet

Sollte die Speicherung selbst zugelassen werden, sieht der Bremer Rechtsanwalt Rolf Gössner die Politik in der Pflicht. Sie müsste die EU-Vorgabe kippen und die verdachtslose Datenspeicherung ersatzlos streichen, forderte der Vizepräsident der Liga für Menschenrechte, einer der Kläger. Inzwischen scheint es auch in Brüssel Zweifel zu geben: Nach einem «Spiegel»-Bericht hat die neue EU-Justizkommissarin Viviane Reding eine grundlegende Überprüfung der EU-Richtlinie angekündigt, auf deren Grundlage das deutsche Gesetz entstand.

Danach werden seit 2008 Verbindungsdaten aus der Telefon-, Mail- und Internetnutzung sowie Handy-Standortdaten für sechs Monate gespeichert. Abrufbar sind sie für Zwecke der Strafverfolgung sowie der Gefahrenabwehr. Die Kläger befürchten einen «Dammbruch» bei der Einschränkung von Grundrechten. Die Sicherheitsbehörden sehen in dem Gesetz vor allem ein effektives Ermittlungsinstrument und betonen die Notwendigkeit der Speicherung für die Aufklärung von Straftaten.

Fast 35 000 Bürger haben gegen das Vorgehen Beschwerde eingelegt, über gut 60 Verfahren wurde in Karlsruhe exemplarisch verhandelt. Dabei gibt es drei Klägergruppen. Eine von ihnen vertritt der FDP-Politiker Burkhard Hirsch, der Kläger und zugleich Anwalt der Gruppe ist. Der Berliner Rechtsanwalt Meinhard Starostik vertritt rund 34 900 Kläger. Der Grünen-Politiker Volker Beck hat mit mehr als 40 Abgeordneten seiner Partei Beschwerde eingelegt.

Auch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) gehört zu den Beschwerdeführern. Die amtierende Bundesjustizministerin war wegen ihres «Rollenkonflikts» aber nicht selbst zu der Anhörung gekommen. Auch bei der Urteilsverkündung wird sie fehlen. Datenschützer und Bürgerrechtler haben zahlreiche Aktionen am Gericht angekündigt. Dazu wird unter anderen Grünen-Chefin Claudia Roth erwartet. [Bundesverfassungsgericht]: Schlossbezirk 3, 76131 Karlsruhe

 

3.03.2010

 

"Grenzen für den Schnüffelstaat":
Urteil findet in Bremen große Zustimmung

Von Anne-Christin Klare

Bremen. Die meisten sind sich einig: Es war die richtige Entscheidung, das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung zu kippen. Davon sind alle Bremer Parteien bis auf die CDU überzeugt.

"Ich begrüße das Urteil ausdrücklich", sagt Rainer Hamann, Abgeordneter der SPD-Bürgerschaftsfraktion. "Die Speicherung sämtlicher Details von Telefonaten, E-Mails oder SMS-Nachrichten verträgt sich für mich überhaupt nicht mit dem Grundsatz der informationellen Selbstbestimmung des Einzelnen." Die CDU reagiert nicht so freudig auf die Nachricht aus Karlsruhe: "Wir müssen das Urteil so akzeptieren", sagt der Fraktionssprecher für Inneres, Wilhelm Hinners (CDU). "Dennoch halte ich die Vorratsdatenspeicherung im Bereich der Terrorismusabwehr und im Bereich der Bekämpfung von organisierter Kriminalität für wichtig. Deswegen werde ich mich auch für ein neues Gesetz einsetzen." Jetzt müsse die Politik untersuchen, was genau kritisiert wurde. Das Urteil müsse ausgewertet werden, um dann ein neues, modifiziertes Gesetz auf den Weg bringen zu können.

Bundestagsabgeordneter Torsten Staffeldt (FDP) bewertet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hingegen wie die SPD als positiv: "Es weist den Schnüffelstaat in seine Grenzen. Die Richter verhindern damit einen Dammbruch und schieben dem Drang des Staates nach einer immer umfassenderen Überwachung seiner Bürger einen Riegel vor."

Helga Trüpel (Die Grünen), Mitglied des Europaparlaments, versteht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als klare Absage an die grundrechtsfeindlichen Sicherheitsmaßnahmen der vergangenen Jahre. "Die Beschwerdeführer müssen nun noch ein paar Kilometer weiter nach Straßburg zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gehen, um Klarheit über die Vereinbarkeit der Richtlinie mit den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonventionen zu bekommen. Es muss endlich wieder eine Rückkehr zum individuellen Verdacht geben." Auch das sei eine Lehre des gestrigen Urteils aus Karlsruhe, so Trüpel.

"Es ist ein weiteres klares Signal dafür, dass der ausufernde Kontrollwahnsinn des Gesetzgebers beendet werden muss", kommentiert auch Bürgerschafts-Fraktionsvorsitzende Monique Troedel (Die Linke) den gestrigen Urteilsspruch. "Karlsruhe tat gut daran, der Klage von 35000 Menschen stattzugeben, die sich einem völlig unverhältnismäßigen Generalverdacht ausgesetzt sahen." Und auch die Piratenpartei begrüßt das Urteil ausdrücklich. "Wir hoffen, dass mit dieser Schelte die etablierten Parteien sowie die Bundesregierung endlich lernen, dass Bürgerrechte ein unveräußerliches Gut sind", äußert sich die Partei nach der Urteilsverkündung.

Der Rechtsanwalt und Erstbeschwerdeführer Rolf Gössner beurteilt den Richterspruch als großen Erfolg. Es sei positiv, dass die Vorratsdatenspeicherung von Karlsruhe als unverhältnismäßig und verfassungswidrig bewertet wurde. Ein Wermutstropfen sei aber, dass das Gericht eine generelle Speicherung der Daten nicht ausschließt. Die Missbrauchsgefahr sei noch nicht gebannt. "Es bleibt die Frage, inwiefern Sicherheit bei der Datenspeicherung zu gewährleisten ist." Ähnlich sieht es auch die Landesbeauftragte für den Datenschutz, Imke Sommer: "Das wichtigste Ergebnis der gestrigen Entscheidung ist es, dass alle seit Erlass des Gesetzes erhobenen Daten unverzüglich zu löschen sind." Sie lobt die sehr hohen Hürden, die das Bundesverfassungsgericht für das nächste Gesetz formuliert hat. "Noch schöner wäre es gewesen, wenn das Gericht noch weiter gegangen wäre und eine anlasslose Massenspeicherung von Verkehrsdaten grundsätzlich nicht mit dem deutschen Verfassungsrecht für vereinbar erklärt hätte."

Das regionale Telekommunikationsunternehmen EweTel rechnet jetzt damit, dass neben den Kosten für die bisherige Speicherung von Daten und dem gestern verfügten Löschen zu einem späteren Zeitpunkt noch weitere Kosten für eine Neufassung der Regelung hinzukommen. EweTel betont, dass es kein eigenes Interesse an der Speicherung von Daten hat und damit nicht die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts teilt, dass die anstehenden Kosten von den Telekommunikationsunternehmen zu tragen sind.

© Copyright Bremer Tageszeitungen AG Ausgabe: Verdener Nachrichten Seite: 3 Datum: 03.03.2010

 

Tageszeitung junge Welt  03.03.2010 / Schwerpunkt / Seite 3


Schallende Ohrfeige

Karlsruhe erklärt Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig – allerdings nicht prinzipiell. Dem Konflikt mit der EU wurde ausgewichen

Ulla Jelpke

Das Bundesverfassungsgericht hat mit einem Grundsatzurteil den Datenschutz erheblich gestärkt und die sogenannte Vorratsdatenspeicherung in der bisherigen Form für nichtig erklärt. Damit hat die Verfassungsbeschwerde mit den meisten Unterzeichnern in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Erfolg.

Mehr als 30000 Bürgerinnen und Bürger hatten in Karlsruhe dagegen geklagt, daß die Telefon- und Internetverbindungsdaten von Millionen Unverdächtigen sechs Monate lang gespeichert werden, um sie für Zwecke der Strafverfolgung sowie für die Geheimdienste vorzuhalten. Dieser Praxis hat das höchste deutsche Gericht wegen Verstoßes gegen Artikel10 Grundgesetz (Fernmeldegeheimnis) jetzt ein Ende bereitet. Allerdings entschloß sich das Gericht nicht zu einer Weitergabe der Streitsache an den Europäischen Gerichtshof, so daß die zugrunde liegende EU-Richtlinie vorerst unangetastet bleibt.

Das vom scheidenden Verfassungsgerichtspräsidenten Hans-Jürgen Papier (CSU) verkündete Urteil ist eine schallende Ohrfeige für die frühere CDU/CSU-SPD-Bundesregierung. Unter Federführung von Exbundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) hatte die große Koalition 2008 eine EU-Richtlinie in einer Weise umgesetzt, die nach Auffassung der Karlsruher Richter als zu tiefer Eingriff in die Privatsphäre verfassungswidrig war. Damit setzte das Gericht zum wiederholten Male – wie auch schon früher bei seinen Entscheidungen zur heimlichen Onlinedurchsuchung oder zu den ausufernden Rasterfahndungen – dem Marsch in den Überwachungsstaat Hindernisse entgegen.

In die Freude der Kläger mischt sich allerdings ein Wermutstropfen, denn das Gericht sah die Vorratssicherung der Daten nicht als prinzipiell unzulässig an. Ihre Verwendung zur Abwehr oder Verfolgung schwerer, konkret benannter Straftaten etwa für Leib und Leben sei legal, die konkrete Umsetzung im angegriffenen Gesetz jedoch nicht. Denn diesem fehle es an der notwendigen Begrenzung der Verwendungszwecke. Weiter monierten die Richter die mangelnde Verhältnismäßigkeit und die zu geringen Rechtsschutzanforderungen. Datenübermittlungen müßten von einem Richter angeordnet werden, die Betroffenen seien darüber zu informieren, unter Umständen auch nachträglich, und eine richterliche Kontrolle müsse jederzeit möglich sein, forderte das Gericht.

Die bestehende Regelung genüge diesen Anforderungen nicht und sei »insgesamt verfassungswidrig und nichtig«, heißt es wörtlich in der Entscheidung. Die bisher gespeicherten Dateien seien »unverzüglich zu löschen«. Zudem stellte das Gericht klar, daß seine Entscheidung nicht als Einstieg für »eine möglichst flächendeckende vorsorgliche Speicherung« aller möglichen Daten verstanden werden dürfe. Solche verdachtslosen Erhebungen müßten Ausnahmen bleiben, bei weiteren Datensammlungen sei der Gesetzgeber »zu größerer Zurückhaltung« verpflichtet.

Damit haben die Kläger, darunter prominente frühere Minister wie Gerhart Baum und Burkhard Hirsch (beide FDP) sowie Bürgerrechtler wie Rolf Gössner und viele Vertreter des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung, die Hauptziele ihrer Verfassungsklage erreicht. Schon bahnt sich ein Koalitionsstreit an: Während Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) die Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) aufforderte, schnellstmöglich ein neues Gesetz zu entwerfen, begrüßte diese das Urteil und warnte vor »Schnellschüssen«. Die heutige Ministerin gehörte selbst zu den Klägern.

Der Linken-Rechtspolitiker Wolfgang Neskovic zeigte sich unzufrieden damit, daß das Gericht es nicht gewagt habe, den Konflikt mit der EU-Richtlinie aufzunehmen. Allerdings kommt diese dennoch ins Wackeln: Die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Viviane Reding, stellte zur Debatte, auf die Vorratsdatenspeicherung ganz zu verzichten, wenn sie in den Mitgliedsstaaten nur eingeschränkt angewendet werden könne.

Genau dies verlangte bereits der Bremer Rechtsanwalt und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Rolf Gössner. Er betonte, die Politik sei gefordert, die EU-Vorgabe zu kippen und die verdachtslose Vorratsdatenspeicherung ersatzlos zu streichen. Für die Linksfraktion im Bundestag erklärte Jan Korte: »Das heutige Urteil ist eine wichtige Entscheidung zur Wahrung der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit. Für den Gesetzgeber muß jedoch eines klar sein: Nicht alles, was vom Grundgesetz gerade noch gedeckt ist, muß auch gemacht werden. Es ist höchste Zeit für ein Umdenken und eine Trendwende zur Stärkung der Bürgerrechte.«