25.10.2008

Trophäen für gefräßige Datenkraken

BigBrotherAward "belohnt" Eingriff in Privatsphäre /
Telekom souverän: Vertreter akzeptiert Preis

Von Rainer Kabbert

BREMEN·BIELEFELD. So richtig froh macht das zehnjährige Jubiläum des BigBrotherAwards nicht. 1998 wurde der Negativpreis in England zum ersten Mal an Personen und Organisationen vergeben, die sich illegal in die Privatsphäre der Bürger eingemischt oder persönliche Daten an Dritte weitergegeben haben. In Deutschland wurden "Datenkraken" gestern zum neunten Mal ausgezeichnet. Ihre "Verdienste" liefern genug Gründe, die Datenschutzlage im Lande als gefährdet einzustufen.

Über 500 Vorschläge hat der Bremer Anwalt und Buchautor Rolf Gössner gezählt. Als Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte sitzt er in der siebenköpfigen Jury. "Die Zahl der Nominierungen nimmt dramatisch zu", beobachtet Gössner. In der Kategorie Europa/EU etwa wird der EU-Ministerrat für seine Terrorliste "geehrt". Darin werden Organisationen und Einzelpersonen als terroristisch eingestuft, ohne dass ihnen rechtliches Gehör oder Rechtsschutz gewährt wird.

"Wer einmal auf der Liste steht, hat kaum mehr eine Chance auf ein normales Leben", kritisiert Gössner. "Er ist quasi vogelfrei, wird politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert und sozial isoliert - und ist ohne Aussicht auf Entschädigung, selbst wenn sich Listung und Sanktionen als ungerechtfertigt herausstellen." Nicht immer ist der Eingriff in die Privatsphäre so konkret spürbar wie eine Kontosperre, wenn der eigene Name auf der Terrorliste auftaucht - und sei es nur aufgrund einer Namensverwechselung. In den sechs anderen Kategorien sind aber mit ein wenig Phantasie ebenfalls persönliche Nachteile denkbar. Etwa wenn die Deutsche Angestellten Krankenkasse Patientendaten von 200000 chronisch Kranken ohne deren Zustimmung an eine Privatfirma weitergibt (Kategorie Gesundheit und Soziales).

Auch die Telekom sorgt für Unbehagen, mit der illegalen Nutzung von Telefonverbindungsdaten zur Bespitzelung von Telekom-Aufsichtsräten und Journalisten. "Dies wiegt", meint Gössner, "umso schwerer, als die Telekom durch die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten zum Hilfspolizisten gemacht worden ist." Immerhin war der Datenschutzbeauftragte des Konzerns so souverän, die Auszeichnung persönlich in Empfang zu nehmen. Er nehme die Kritik ernst, sagte Claus Ulmer gestern Abend in Bielefeld und kassierte den Applaus des Publikums. Datenschutz werde im Konzern künftig stärker betont.

Der Bundestag bekam während der Preisverleihung auch sein Fett weg, weil er die Gesetzesgrundlage für die Erhebung, Speicherung und Weitergabe der Daten Reisender gelegt hat.

Aber auch die "Tadelnden Erwähnungen" der Jury, in der unter anderem auch die Humanistische Union, der Chaos Computer Club und die Deutsche Vereinigung für Datenschutz vertreten sind, provozieren Unbehagen. Das Bundeskriminalamt zum Beispiel informiert auf seiner Internetseite über die linksextremistische "militante gruppe" - und speichert die PC-Adressen der Webseitenbesucher. Hunderte gerieten so ins Raster polizeilicher Ermittlungen.

In 14 europäischen Ländern wird der Negativ-Preis verliehen. Vielleicht hilft er, Sensibilität beim Bürger für seine Daten zu schaffen. "Es geht nicht nur um den Hunger von ,Datenkraken'", meint Gössner, "sondern auch um den leichtfertigen Umgang der Bürger mit ihren Daten."

© Copyright Bremer Tageszeitungen                                   Datum: 25.10.2008

 

 

vom 25.10.2008

Datenschutz

Europäische Union erhält den Big-Brother-Award

VON EDGAR AUTH

Die EU als Terror-Organisation - mit diesem Vorwurf sehen sich stellvertretend für den Ministerrat Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner und Generalsekretär Javier Solana konfrontiert. Sie erhalten für die EU-Terrorliste den "Big-Brother-Award" 2008, verliehen von sieben deutschen Menschenrechtsorganisationen.

"Die EU greift mit ihrer Terrorliste im ,Kampf gegen den Terror' gewissermaßen selbst zu einem Terrorinstrument aus dem Arsenal des sogenannten Feindstrafrechts - eines menschenrechtswidrigen Sonderrechts gegen angebliche ,Staatsfeinde', die praktisch rechtlos gestellt und gesellschaftlich ausgegrenzt werden", sagte "Laudator" Rolf Gössner von der "Internationalen Liga für Menschenrechte". Bei der Verleihung am Freitagabend in Bielefeld zitierte Gössner den vom Europarat beauftragten Sonderermittler Dick Marty: auf der Liste zu stehen bedeute die "zivile Todesstrafe".

Als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 hatte die EU eine Verordnung erlassen, die es untersagt, Terrorismusverdächtigen Geld zu geben oder mit ihnen Geschäfte zu machen. Die "Schwarze Liste" der Verdächtigen wird häufig aktualisiert. "Diese Datensammlung ist weder demokratisch legitimiert, noch unterliegt sie einer demokratischen Kontrolle", prangerte Gössner an. Betroffene werden laut Marty nicht verständigt, sondern erfahren davon, wenn sie etwa eine Grenze passieren oder über ihr Bankkonto verfügen wollen.

Es gebe keine Anklage, kein rechtliches Gehör, keine zeitliche Begrenzung. Das gesamte Vermögen werde eingefroren, alle Konten und Kreditkarten gesperrt, Barmittel beschlagnahmt, Arbeits- und Geschäftsverträge würden faktisch aufgehoben. Weder Arbeitsentgelt noch staatliche Sozialleistungen dürften noch ausbezahlt werden; hinzu kämen Passentzug und Ausreisesperre sowie dauernde Überwachung. Und für ungerechtfertigt Inkriminierte gebe es keine Entschädigung. Das sei rechtswidrig, hat der Europäische Gerichtshof mehrfach festgestellt.                                                                                               © FR-online.de 2008.

 

 

 

 

 

25.10.2008

Schnüffler im Rampenlicht

In Bielefeld wurden gestern die Big Brother Awards vergeben

Von Ines Wallrodt

 

Viele haben den Preis verdient, aber keiner will ihn haben: Freitagabend wurden in Bielefeld die diesjährigen Big Brother Awards vergeben. Unter den Preisträgern sind Bundestag, Telekom und DAK.

Über alle Reisenden müssen seit Neuestem detaillierte Daten gespeichert und gegebenenfalls weitergegeben werden. Zum Dank bekam der Bundestag dafür am Freitagabend in Bielefeld einen Big Brother Award. Denn er habe die Gesetze einfach „durchgewinkt“. Auch der EU-Ministerrat hat sich den Augen der siebenköpfigen Jury aus Datenschützern und Bürgerrechtlern für einen Preis qualifiziert. Wer als Organisation oder Einzelperson auf seiner geheim erstellten „Terrorliste“ auftaucht, wird drakonisch bestraft, ohne Gesetz und Urteil. Das gesamte Vermögen wird eingefroren, Arbeits- und Geschäftsverträge aufgehoben, die

 

Betroffenen erhalten weder Löhne noch Sozialleistungen, sie werden ständig überwacht. Der Europäische Gerichtshof hat das alles zwar als rechtswidrig verworfen, doch der Ministerrat bleibe „stur bei seinem undemokratischen Listungsverfahren“, begründete Rechtsanwalt Rolf Gössner die fragwürdige Auszeichnung. Insgesamt wurde der „Oscar für Datenkraken“ in sieben Kategorien verliehen.

Big Brother Awards gibt es in verschiedenen Ländern für Firmen, Organisationen und Personen, die in besonderer Weise die Privatsphäre von Menschen beeinträchtigen oder persönliche Daten missbrauchen. Seit acht Jahren organisiert der Datenschutzverein FoeBuD die Gala in Deutschland.

Den Preis erhielt dieses Jahr auch das Bundeswirtschaftsministerium für die Einführung des ELENA-Verfahrens. Dieses Verfahren setzt eine zentrale Sammlung der Einkommensdaten aller Arbeitnehmer voraus und ist verbunden mit der elektronischen Signatur. Gratuliert wurde zudem der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) für die Weitergabe der Daten von 200.000 chronisch kranken Versicherten an eine Privatfirma. Und natürlich durfte die Telekom mit ihrer Bespitzelung von Aufsichtsräten und Journalisten nicht fehlen.

Mit der Preisverleihung werden aber jedes Mal auch weniger bekannte Verstöße gegen den Datenschutz ins Scheinwerferlicht gerückt. So bekam das Unternehmen Yellow Strom den Negativ-Preis als Vorreiter bei der Einführung einer Technik, die sekundengenau die Nutzung von Geräten im Haushalt erfasst. Und der Verband Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute hat sich verdient gemacht mit der Empfehlung an seine Mitglieder, Telefoninterviews auch ohne Kenntnis der Gesprächspartner heimlich mitzuhören.

Einzelpersonen gingen dieses Jahr leer aus. Das zeigt ganz treffend, dass Datenmissbrauch und Überwachungswahn eben nicht die Fehlleistung Einzelner sind, sondern ein allgemeiner Trend.

 

 die tageszeitung 25.10.2008 

Big Brother Award: Telekom ist im Spitzeln spitze

Die Datenschützer von Foebud verleihen der Telekom den diesjährigen "Big Brother Award". Aber auch Yellow-Strom und die DAK müssen eine Auszeichnung verdauen.

VON ANDREAS WYPUTTA

BIELEFELD taz Die Telekom bespitzelt nicht nur ihre Aufsichtsräte und Journalisten, in der Call-Center-Branche werden zudem Daten von Millionen ihrer Kunden herumgereicht. Der Atomstromanbieter Yello will Stromzähler einführen, die jeden Verbrauch sekundengenau erfassen. Sie können dokumentieren, wann in der Wohnung welches Elektrogerät einschaltet wird.

Und die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) gibt Patientendaten von über 200.000 chronisch Kranken an eine Privatfirma weiter - ohne Zustimmung ihrer Versicherten. Besonders drastische Beispiele für die Verletzung der Privatsphäre, finden Datenschützer: Und dafür kassierten die drei Unternehmen am Freitagabend den Big Brother Award.

Weitere drei der sieben jährlich vom Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (Foebud) in Bielefeld verliehenen Negativpreise gingen an die Politik: Stellvertretend für das Parlament bekommt Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) einen Award.

 

Der Bundestag habe beschlossen, Namen, Anschriften, Kreditkartennummern und sogar Essenswünsche von Flugpassagieren an das US-Heimatschutzministerium weiterzuleiten. Nach dem "Seeaufgabengesetz" werden auch Schiffspassagiere überwacht. "Ihr Ausflug auf die ostfriesischen Inseln wird künftig registriert", kritisierte Alvar Freude vom Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft.

Heftige Kritik üben die Datenschützer auch an der Europäischen Union. Deren Ministerrat erstellt eine sogenannte Terrorliste - ohne Anklage, ohne Benachrichtigung, ohne rechtliche Anhörung. Wer einmal auf der Liste steht, dem droht nicht nur Passentzug. Sämtliche Konten und Karten werden gesperrt, weder Lohn noch Sozialleistungen dürfen ausbezahlt werden. "Pervers" nennt der vom Europarat eingesetzte Sonderermittler Dick Marty diese Liste.

Ein weiterer Negativpreis geht an CSU-Bundeswirtschaftsminister Michael Glos für die Jobcard, mit der Einkommensdaten aller Arbeitnehmer gesammelt werden sollen. Ausgezeichnet wurde auch der Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute. Er empfahl, Interviews mit Verbrauchern heimlich mitzuhören.

Kritikfähig zeigte sich nur die Telekom: Deren Konzerndatenschutzbeauftragter Claus Ulmer will den Preis persönlich entgegennehmen - von den anderen Preisträgern wird in Bielefeld dem Vernehmen nach niemand anwesend sein.

 

 

 

 

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29. Oktober 2008


Zum Big Brother Award 2008

Den Datenkraken eins auf die Tentakeln

Von Hans-Detlev v. Kirchbach

Eine Alarmmeldung für Köln vorweg: Im hiesigen Bundesverwaltungsamt – einer de facto geheimdienstlichen „Datenkrake“, die auch für Migrantenüberwachung „zuständig“ ist – soll künftig eine „zentrale Abhöranlage für alle Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder“ eingerichtet werden. Diesen famosen Schäuble-Plan „ehrte“ die Jury des Big-Brother-Award schon einmal vorab mit einer „tadelnden Erwähnung“.

Der schließen wir uns schärfstens an – denn „dat Hätz vun der Welt“ soll Köln schon sein, nicht aber das große Ohr des Überwachungsstaates. Auch sonst förderte der Big Brother Award wieder viele „Aufreger“ zutage. Die Redaktion.

Rosa Riese – reuevoll

Zunächst aber gibt es (fast) etwas Positives zu vermelden: Erstmals in der Geschichte des Big Brother Award hat ein Abgewatschter den „Negativ-Oscar“ für Datenschutzverstöße entgegengenommen und dabei sogar durchaus überzeugend die Rolle des reuigen Sünders gegeben.

Wie ein kleiner Junge, der beim Schokoladenklauen erwischt worden ist, stand, mit niedergeschlagenen Augen und hängenden Schultern, Dr. Claus-Dieter Ulmer, der oberste Datenschützer der „Telekom“, auf dem Podium. Dabei ist er sicher derjenige Führungsrepräsentant des bekannten Mithör-Unternehmens, der persönlich am wenigsten mit den mafia- und juntamäßigen Lauschaktionen des Konzernvorstandes zu tun hat. Derentwegen ist momentan Schadensbegrenzung durch Renomee-Politur angesagt.

So leuchtet ein, daß ausgerechnet der integre Datenschutz-Experte statt einer der wirklich verantwortlichen „Paten“ diesen respektablen, aber auch deprimierenden Auftritt zu absolvieren hatte. Fast wie im Büßergewande wirkte er trotz seines Maßanzuges, mit gebrochener Stimme betonte er die Wichtigkeit des Datenschutzes. Alles schwieg ergriffen; nur als

 

der wackere Ausputzer die Entschlossenheit des Sympathieunternehmens mit dem halluzinogenen Rosarot gelobte, „noch mehr“ für den Datenschutz zu tun, mußte das Auditorium ausnahmsweise dezent lachen.

Allerdings: Noch gibt es keinen Grund, Kündigungen von Telekom-Verträgen rückgängig zu machen. Zunächst bleibt abzuwarten, ob das Unternehmen wirklich einen externen Datenschutzbeirat einrichten wird, wie es sein Datenschutz-Chef in dieser Stunde der Buße und Umkehr beteuerte. Immerhin zeigte dieser bemerkenswerte Höhepunkt der „Galaveranstaltung“ im großen Saal der „Ravensberger Spinnerei“ erneut: Der Big Brother Award hat Wirkung.

Big Brother Award: Watching Big Brother

Unbehelligt können sie nämlich nicht mehr vor sich hin – und gegen uns – werkeln, die „Datenkraken“ aus Privatwirtschaft, Behörden und „Sicherheitsapparat“. Das kleine Team des Big Brother Award kann zwar nur jeweils ein paar Moleküle aus dem grenzenlosen Ozean kommerziellen Daten-Voyeurismus und amtlicher Spitzelei, der (Grund-)Rechtsverachtung, der Überwachungs-Paranoia zutage fördern.

Aber die preisgewürdigten Exempel haben es ausnahmslos in sich – sie zeigen, gerade in ihrer oft extremen Zuspitzung, welche Richtung und welches Ausmaß die Entwicklung der Datenschutz- und letztlich Verfassungsdemontage aktuell angenommen hat. Solche Einsicht ist nämlich eine zwar nicht ausreichende, aber erforderliche Voraussetzung für die Formierung gesellschaftlicher Gegenwehr.

Auch in diesem Jahr präsentierte die Big-Brother-Jury wieder eine Fülle von – längst zum Normalzustand geronnenen – Datenschutzskandalen und Bürgerrechtsverstößen, die eigentlich Mehrheiten in diesem Land schon im eigenen Interesse auf die Barrikaden treiben müßten.

(Alp-)Traumpaar 2008: Michael und ELENA

So etwa die Dreistigkeit der Bundesregierung, vertreten durch den Big-Brother-„ausgezeichneten“ CSU-Wirtschaftsminister Glos, eine Zentraldatei einzuführen, in der zwangsweise die Einkommensdaten aller ArbeitnehmerInnen gespeichert werden sollen. Allerlei Behörden, ob ARGE oder Verfassungs-„Schutz“, sollen diese monströse Sammlung privatester Lebensdaten grenzenlos ausschnüffeln können. „ELENA“ lautet der charmante Gesetzesname dieses höchst uncharmanten Ausschnüffelungs- und Totalerfassungs-Projektes.

Diese Arroganz eines Allwissenheitsrechte sich anmaßenden Machtstaates fügt sich in einen ganzen Reigen ähnlicher Übergriffe gegen den privaten Lebensbereich, ja die Menschenwürde, ein. Die Zwangszuteilung der berüchtigten (über-)lebenslangen Steuernummer durch SPD-Finanzminister Steinbrück beispielsweise kann man als „Elenas“ häßlichen Schwippschwager betrachten. Dieser Homunculus staatlicher Menschenerfassung wurde als schlecht getarnte, verfassungswidrige Durchnummerierung der Bevölkerung schon mit dem Big Brother Award 2007 „gewürdigt“.

Die EU-„Terrorliste“

Freilich könnte selbst ELENA als Alltagskleinkram erscheinen im Vergleich zu der rabiaten, an Diktaturmaßnahmen grenzenden Entrechtungswillkür im Zusammenhang mit der sogenannten „Terrorliste der EU“. Für diese erhielt der EU-Ministerrat verdientermaßen den Big Brother Award. In dieser wahrhaft „schwarzen Liste“ werden „zahlreiche Organisationen und Einzelpersonen als terroristisch eingestuft und gravierenden Sanktionen unterworfen, die zu schweren Menschenrechtsverletzungen führen“, so Jurymitglied Rolf Gössner.

Der Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte prangerte an: „Diese Datensammlung ist weder demokratisch legitimiert noch unterliegt sie einer demokratischen Kontrolle. Lange Zeit ist den Betroffenen noch nicht einmal rechtliches Gehör gewährt, geschweige denn Rechtsschutz gegen die amtliche Stigmatisierung zugestanden worden.“ Ein exzessives, aber kennzeichnendes Symptom für den mittlerweile schon galoppierenden Verfall auch nur elementarer „bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit“ stellt dieses Verfahren potentiell lebensgefährdender Brandmarkung dar – das an Polizeistaatsmethoden nicht nur erinnert, sondern diesen schlichtweg entnommen ist.

 

Für diesen Befund spricht überdies der Umstand, daß die „Terrorliste“, wie Gössner kritisierte, „von einem geheim tagenden Gremium des Ministerrates erstellt wird.“ Dabei, so unterstrich der stellvertretende Richter am Bremischen Staatsgerichtshof die rechtspolitische „Qualität“ dieser Abschußliste, beruhten „die für eine Listung vorgebrachten Verdachtsmomente und Indizien zumeist auf dubiosen Geheimdienstinformationen einzelner Mitgliedsstaaten“.

Vogelfrei dank „Terrorliste“

Was wie das Szenario eines (schlechten) Agentenreißers wirkt, ist allerdings eine „Spitzenleistung“ der sogenannten gemeinsamen Sicherheitsstrategie innerhalb der EU – und kann, wenn politisch irgend opportun, letztlich jeden treffen, dessen Ansichten den einschlägigen Sicherheitskreisen und Polit-Paten vielleicht nicht in den Kram passen. Mit Auswirkungen, die Rolf Gössner so beschrieb:

„Wer einmal auf der Liste steht, ist quasi vogelfrei, wird politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert und sozial isoliert. Das gesamte Vermögen wird eingefroren, alle Konten und Kreditkarten werden gesperrt, Barmittel beschlagnahmt, Arbeits- und Geschäftsverträge faktisch aufhoben; weder Arbeitsentgelt noch staatliche Sozialleistungen dürfen noch ausbezahlt werden; hinzu kommen Passentzug und Ausreisesperre sowie staatliche Überwachungs- und Fahndungsmaßnahmen.“

Vogelfrei wie im Mittelalter und per Computer Elektronik sozial ausradiert – weit hat es der real existierende Big Brother gebracht; jedenfalls weit jenseits aller menschenrechtlicher Mindeststandards. Hier zeigt die „demokratische Wertegemeinschaft“, wozu sie letztendlich fähig und entschlossen ist – einstweilen „nur“ gegen mehr oder minder freihändig als „Terrorverdächtige“ stigmatisierte (Un-)Personen. Darin aber liegt schon eine Drohung, eine Vorwegnahme dessen, was womöglich bald, etwa im Zeichen permanenter Kriegsführung in aller Welt, jedem blühen könnte, der vom vorgeschriebenen Pfad der Untertanentugend abweicht.

Big Brother Award: Anstiftung zu rechtzeitigem Widerstand

Lohnt es sich angesichts solcher Exzesse, sich noch aufzuregen, wenn etwa die DAK intime Patientendaten 200.000 chronisch kranker Versicherter an eine US-Privatfirma namens Healthways Incorporated im schönen Nashville/Tennessee verscherbelt? (Big Brother Award in der Kategorie Gesundheit und Soziales). Oder sich von Yello-Strom, RWE und Co. demnächst nicht zu einem digitalen Stromzähler zwingen zu lassen, mit dem gerätegenau die Gewohnheiten des Stromverbrauchs protokollierbar sind und – so Laudatorin Rena Tangens – eine „detaillierte Überwachung aller Aktivitäten im häuslichen Bereich“ möglich wird? Oder es unverhältnismäßig zu finden, wenn die Polizei in Brandenburg mit Bildern aus der Videoüberwachung nach Kindern fahndet, die einem Mitschüler in der Bahn den Schulrucksack geklaut haben sollen?

Genau dazu aber will der Big Brother Award geradezu anstiften: nicht erst aufzuschreien, wenn die blanke Diktatur vor der Tür steht. Die bereitet sich vielmehr in den vielen kleinen Übergriffen und Rechtsanmaßungen vor, mit denen Staatsinteressenten und Privatprofiteure unsere Privatsphäre verletzen, uns als Handelsobjekt vermarkten, uns zur Nummer degradieren, uns vorab als permanent Verdächtige de facto kriminalisieren. Wenn derlei als Normalität des Alltages sich bis zur Gewohnheit einschleift, könnte es zur Abwehr der autoritären Systemtransformation irgendwann zu spät sein.

Wer weiß, welche „undenkbaren“ Normalitäten der Big Brother Award in, sagen wir, fünf Jahren konstatieren muß – wenn er bis dahin nicht selbst auf irgendeiner „Terrorliste“ gelandet ist. Das aber hängt auch davon ab, ob Datenschutz und Bürgerrechte, mehr noch als bislang, von relevanten Teilen der Gesellschaft, optimal von Mehrheiten, als ihre ureigene Angelegenheit erkannt werden.

 

 

 

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Zitronen zu vergeben

Verein "Foebud" vergibt Big Brother Award für Feinde des Datenschutzes

Von Wolfgang Noelke

Es ist ein rühmliches und ein unrühmliches Jubiläum zugleich - seit zehn Jahren schon vergibt der Verein zur Förderung des bewegten und unbewegten Datenverkehrs Foebud e.V. in Bielefeld den Big Brother Award für Feinde des Datenschutzes aller Art. Vergangenen Freitag wurden die aktuellen Preisträger bekannt gegeben.

Ich werde den Award mit mir nehmen, da er mich an diesen Abend erinnert, der schwer genug war. Dass er uns daran erinnert, im Unternehmen, dass wir los gelaufen sind und nicht aufhören dürfen, zu laufen, solange, bis wir dieses Vertrauen dann auch rechtfertigen, das Sie eingefordert haben. Und das ist unser Ziel in Zukunft. Danke!

Dr. Claus Ulmer, der Datenschutzbeauftragte der Deutschen Telekom bewies Mut, den Preis, den keiner haben will, persönlich entgegenzunehmen. Bis auf eine Ausnahme hatte sich noch niemals ein Betroffener der Jury und dem Publikum während der Preisverleihung gestellt. Angesichts der Datenpannen, mit denen die deutsche Telekom in den letzten Monaten in die Schlagzeilen geriet, wollte Ulmer ein Zeichen setzen, die berechtigte Kritik ernst zu nehmen:

Der Gang hierher ist mir sehr schwer gefallen, muss ich sagen. Es gab eine Wahrscheinlichkeit, dass wir den Big Brother Award erhalten. Trotzdem, für einen Datenschützer ist es immer schwer, einen solchen Preis entgegenzunehmen. Das ist keine leichte Aufgabe. Der Big Brother Award ist ein sehr wichtiges Ereignis, um einfach zu sensibilisieren und viele täten gut daran, den ebenso anzunehmen und auch hier die Atmosphäre zu erleben und zu wissen, was hinter dieser Kritik steht.

Das ist nicht weniger als die Kritik an Unternehmen und Institutionen, die allzu leichtfertig mit den ihnen anvertrauten Daten umgegangen sind und es ist ein Appell der Veranstalter, künftig sensibler mit Daten umzugehen, allein um die Demokratie zu erhalten, die ohne das Vertrauen der Bürger nicht funktionieren würde, sagt Rena Tangens, Mitbegründerin des Vereins zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs, kurz FoeBuD eV. Dem Bielefelder Verein gelingt es mittlerweile, Bevölkerung und auch die Unternehmen für den Datenschutz zu sensibilisieren:

Der Preis wird ganz unbedingt ernst genommen. Wir sehen das auch an den Reaktionen der Presse. Wir müssen nicht mehr hinterher telefonieren oder erklären, warum Datenschutz eigentlich wichtig ist und wir werden von Firmen angesprochen, die schon mal vorsichtig sich erkundigen, ob sie etwa in diesem Jahr einen Big Brother Award bekommen.

Das war in diesem Jahr die Deutsche Angestelltenkrankenkasse, die Daten ihrer Kunden an private Unternehmen weitergab, was gesetzlich nicht erlaubt ist. Auch der Arbeitskreis Deutscher Markt und Sozialforschungsinstitute, der telefonische Befragungen durchführen lässt, wurde ausgezeichnet, weil die telefonisch Befragten nicht erfahren, dass sogar der Auftraggeber der jeweiligen Befragung, das Gespräch heimlich mithören darf. Falls also zufällig Angestellte dieses Auftraggebers befragt werden würden, erhielte deren Arbeitgeber intime Kenntnisse des Privatlebens seiner Angestellten. Für die Veranstalter bedenklich - und somit würdig für den diesjährigen Big Brother Award, ist die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie verantwortete "Zwangseinführung der elektronischen Signatur". Damit wäre es eines Tages möglich, sämtliche Dokumente die jemand mit seiner elektronischen Signatur jemals unterschrieben hat, aufzuspüren und nach Bedarf für eine spätere Datenrecherche zu nutzen.

"Datenschutz Mangelhaft" auch für die Yello Strom GmbH. Sie schafft mit ihrer so genannten Digitalstrom-Initiative die Grundlage einer bedenklichen Datensammlung: Die neuen Stromzähler registrieren nicht nur den Verbrauch, sondern auch die Zeit und Dauer, wann welches Gerät an welcher Steckdose ein oder ausgestellt wurde. Damit entstünde ein komplexes Abbild der privaten Lebensgewohnheiten der Betroffenen. Spätere Begehrlichkeiten irgendwelcher Behörden, auf solche Daten zu zugreifen, sind nicht ausgeschlossen, zumal der Deutsche Bundestag für das wörtliche "Durchwinken mehrerer Gesetze" ebenfalls den Big Brother Award erhielt, in diesem Jahr für ein Gesetz, das die Erhebung und Weitergabe von Daten aller Menschen an Bord von Passagier-, Fähr- und Küstenschiffen gestattet. Alles natürlich zur so genannten "Gefahrenabwehr ". Im so genannten Kampf gegen den Terror schießt aus Sicht der Veranstalter der Rat der Europäischen Union den Vogel ab: wer einmal - und sei es nur durch eine Namensverwechslung auf der von der EU-Terrorliste steht, hat, so Dr. Rolf Gössner von der Internationalen Liga für Menschenrechte, keine Chance mehr auf ein normales Leben:

Er ist quasi vogelfrei, wird politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert und sozial isoliert. Das gesamte Vermögen wird eingefroren, alle Konten und Kreditkarten werden gesperrt, Barmittel beschlagnahmt, Arbeit- und Geschäftsverträge faktisch aufgehoben. Weder Arbeitsentgeld noch staatliche Sozialleistungen dürften weiter ausbezahlt werden. Hinzu kommen, Passentzug und Ausreisesperre, sowie staatliche Überwachungs- und Fahndungsmaßnahmen.

Eine unabhängige Beurteilung, auf Grundlage von gesicherten Beweisen findet jedenfalls nicht statt, weshalb der, vom Europarat beauftragte Sonderermittler Dick Marty mit Entsetzen feststellt: er habe selten etwas so Ungerechtes erlebt wie die Aufstellung dieser Listen, deren Verfahren ehr als pervers bezeichnet. Wenigstens die Parlamentarische Versammlung des Europarats und der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof haben inzwischen erkannt, dass selbst ein Serienkiller mehr Rechte besäße als ein auf diese Weise vorsorglich Bestrafter, der auch keinen Anspruch auf Entschädigung habe, falls er irrtümlich auf die Antiterrorliste geriete. Für die Zuhörer gestern Abend ein erschreckendes Beispiel dafür, was für Folgen es haben kann, wenn Daten aus der Kontrolle geraten und von Behörden falsch interpretiert werden.

 

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