- den Tod gefunden -
Cemal
Kemal Altun
1960 - 1983
Paragraph auf Paragraph,
die Verantwortung
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Internationale Liga für
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Anlässlich des 20. Todestages von
Cemal Altun am 30. August 2003 fand am Mahnmal in der Berliner Hardenbergstraße
eine Gedenkveranstaltung der Internationalen Liga für Menschenrechte und des
Flüchtlingsrats Berlin statt. Im folgenden dokumentieren wir die leicht
überarbeitete Rede des Präsidenten der Internationalen Liga für
Menschenrechte, Dr. Rolf Gössner, der in Bremen als Rechtsanwalt und
Publizist arbeitet.
Fanal ohne Wirkung?
Die Verzweiflungstaten vieler Flüchtlinge
müssen endlich asylpolitische Konsequenzen haben
Der Name Cemal Altun hat sich ins kollektive Gedächtnis der kritischen Öffentlichkeit eingebrannt. Seine Verzweiflungstat hat die Bundesrepublik erschüttert. Er war der erste politische Flüchtling, der sich das Leben nahm, weil er die Auslieferung an einen Folterstaat befürchten musste. Am 30. August vor zwanzig Jahren sprang der damals 23jährige Asylbewerber aus einem Fenster im 6. Stock des Verwaltungsgerichts in Berlin, wo gerade über seine Anerkennung als Asylberechtigter verhandelt wurde. Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hatte Beschwerde gegen seine bereits erfolgte Anerkennung eingelegt.
Cemal Altun war Angehöriger der demokratischen Opposition in der Türkei – ein Land, das er 1981 hatte verlassen müssen, weil er von den Schergen der damaligen Militärjunta verfolgt worden war. Er floh in die Bundesrepublik Deutschland, um sich in Sicherheit zu bringen. Die damalige CDU/FDP-Bundesregierung verweigerte ihm den Schutz, wollte ihn rasch loswerden und kooperierte zu diesem Zweck mit seinen Häschern. Altun floh auf den Boden der “freiheitlich-demokratischen Grundordnung” und landete in einer vermeintlichen Freiheit, die ihn rasch hinter Gitter brachte. Seine letzte Flucht endete tödlich. Sein Sturz in die Tiefe war kein Freitod – denn er sah keinen anderen Ausweg aus seiner bedrückenden Situation, in der er sich während seiner 13monatigen Auslieferungshaft befand. Er stürzte sich in den Tod aus Verzweiflung, aus Angst vor Abschiebung und drohender Folter in der Türkei. Und diese Verzweiflung, diese Angst waren fleißig geschürt worden, geschürt von verantwortlichen Regierungspolitikern, wie dem damaligen CSU-Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann und dem FDP-Justizminister Hans A. Engelhard. Gnadenlos beharrten sie auf Altuns Auslieferung an die Türkei – obwohl dieser im Juni 1983 vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge als Asylberechtigter anerkannt worden war. Schon “im Interesse der Fortführung einer nach wie vor guten Zusammenarbeit mit der Türkei auf polizeilichem Gebiet” müsse Altun “unverzüglich” ausgeliefert werden, so schrieb Zimmermann am 21.7.1983 an den Justizminister, der sich ebenfalls für den sofortigen Vollzug ausgesprochen hatte. Das gebiete schon der “Gleichbehandlungsgrundsatz”, so der Minister, schließlich habe die Bundesregierung seit der Machtübernahme durch das türkische Militär bereits in 28 Fällen die Auslieferung an die Türkei vollzogen. Warum sollte es Altun also anders ergehen?
Die Internationale Liga für Menschenrechte hatte angesichts dieser
Gefahr schon frühzeitig auf das Schicksal Cemal Altuns aufmerksam gemacht.
Zusammen mit anderen politischen Kräften im In- und Ausland, zusammen auch mit
Altuns Anwalt Wolfgang Wieland hat sie mit Beschwerden, mit Eingaben an die
verantwortlichen Regierungen sowie mit Demonstrationen vor dem Abschiebeknast
Cemal Altuns Freilassung gefordert und gegen die drohende Auslieferung
protestiert. Zwar konnte die Auslieferung noch verhindert werden; doch für
Cemal Altun änderte sich nichts an der menschenrechtswidrigen Lage in
Auslieferungshaft, nichts an der manifesten Auslieferungsdrohung, nichts an
seiner Angst und Verzweiflung. Sein Todessturz markierte nicht nur das grausame
Ende eines mehr als einjährigen Dramas, sondern gleichzeitig auch den
Schlussstrich unter alle Solidaritätsbemühungen um seine Freiheit und sein
Leben. So stark diese Bemühungen auch waren, sie scheiterten letztlich an einer
bürokratischen, einer gnadenlosen Realpolitik. Folgerichtig machte die Liga die
Bundesregierung und die zuständigen Berliner Behörden mitverantwortlich für
Altuns Tod.
Konsequenterweise setzte sich die Liga dann dafür ein, dass Cemal Altun und sein Schicksal nicht vergessen werden. Besonders die frühere Liga-Präsidentin, Alisa Fuss, machte sich jahrelang für ein Mahnmal stark, das schließlich mit Unterstützung des Bezirksamts Charlottenburg, der SPD-Bezirksbürgermeisterin Monika Wissel und einer Vielzahl von Spendern realisiert werden konnte. Seit Juni 1996 erinnert dieses Denkmal aus Granitstein an die Tragödie. Gestaltet hat es der Künstler Akbar Behkalam. Seine Skulptur zeigt einen kopfüber herabstürzenden Menschen mit ausgestreckten Armen – ein Symbol für alle Asylsuchenden, die hierzulande Schaden an Leib und Leben befürchten oder erleiden müssen.
Cemal
Altuns Tod hat zweifelsohne ein Fanal gesetzt – doch hat dieses Fanal auch zu
einem Umdenken in der Asylpolitik geführt oder gar eine Humanisierung bewirkt?
Nein – so lautet die klare und bedrückende Antwort. Auch die Schicksale vieler
anderer Migranten blieben folgenlos. Allein seit 1993 haben sich weit über
hundert Menschen aus Angst vor drohender Abschiebung getötet oder sind bei dem
Versuch gestorben, sich der Abschiebung zu entziehen. Jahr für Jahr verlieren
Menschen an den Grenzen, in Abschiebehaft oder bei der gewaltsamen Abschiebung
ihr Leben.
Die
“Maschen im Grenzzaun” um Europa und die Bundesrepublik sind mittlerweile enger
geflochten worden. Die Abschiebegründe wurden erweitert. Die Situation im
Abschiebegewahrsam hat sich nicht verbessert. Migranten gehören schon lange zu
der am intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe. Seit 2002 werden sie mit
den neuen “Anti-Terror”-Gesetzen unter Generalverdacht gestellt und einem noch
rigideren Überwachungs- und Abschiebesystem unterworfen. Migranten sind die
eigentlichen Verlierer des staatlichen “Anti-Terror-Kampfes”. Die neuen Sicherheitsregelungen
schaffen allerdings kaum mehr Sicherheit, sondern sind dazu geeignet, Migranten
zu stigmatisieren, ihren Aufenthalt in Deutschland noch weiter zu erschweren
und fremdenfeindliche Ressentiments zu schüren. Ohne den geringsten Nachweis,
dass von ihnen etwa mehr Terror ausgehe als von Deutschen, werden sie zu einem
gesteigerten Sicherheitsrisiko erklärt und einer entwürdigenden Sonderbehandlung
unterzogen, die für viele existentielle Folgen haben kann – bis hin zu
politischer Verfolgung, Folter und Mord durch die Herkunftsländer, aus denen
sie zuvor geflohen waren.
Dieses
Mahnmal ist auch den Opfern dieser Politik gewidmet. Es wurde errichtet nahe
dem ehemaligen Verwaltungsgericht an der Hardenbergstraße, das über das
Schicksal von Asylbewerbern zu entscheiden hatte und das Cemal Altun posthum
als Asylberechtigten anerkannte. Solche Mahnmale müssten längst an ganz anderen
Orten angebracht werden, dort nämlich, wo die Leitlinien der Ausländer- und
Asylpolitik entschieden wurden und werden: so etwa in Bonn am ehemaligen
Bundestag, wo 1993, also vor zehn Jahren, von einer großen Koalition aus
CDU-FDP und SPD die Demontage des Asylgrundrechts beschlossen wurde; an
Innenministerien, Ausländerämtern und Abschiebeknästen, wo die restriktive
Ausländer- und Asylpolitik umgesetzt, wo nicht eben selten die Menschenwürde
der Betroffenen eklatant verletzt wird.
Lassen Sie uns zusammen mit der Internationalen Liga
für Menschenrechte, zusammen mit “Pro Asyl” und dem Flüchtlingsrat Berlin an
die Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungsträger appellieren: Wir
müssen den staatlichen Umgang mit traumatisierten und gefährdeten Menschen
gründlich überdenken und verändern. Abschiebungen in Folterstaaten und Kriegsgebiete
darf es nicht länger geben. Übermäßig lange Abschiebehaft, unzumutbare Haftbedingungen,
die Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen
und die gewaltsame Trennung von Familien sind ein Skandal; die praktizierte
Abschiebehaft ist prinzipiell ein Verstoß gegen Menschenrechte und gehört
abgeschafft. Das Asylrecht ist ein Menschenrecht – wir müssen es immer wieder
von neuem erkämpfen.
Dr. Rolf Gössner ist
Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater. Seit März 2003 Präsident
der “Internationalen Liga für Menschenrechte”; außerdem Mitherausgeber der Zweiwochenschrift
“Ossietzky” sowie Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises
“BigBrotherAward” an Institutionen, die in besonderem Maße gegen den
Datenschutz verstoßen. Autor zahlreicher Sachbücher zum Themenspektrum
Bürgerrechte, “Innere Sicherheit” und Demokratie (Auswahl):
Im
Oktober 2003 erschien im Knaur-Taschenbuchverlag, München, seine neueste
Publikation:
“Geheime Informanten: V-Leute des Verfassungsschutzes – Kriminelle im
Dienst des Staates”
Nichtmörder
Zimmermann
Ich möchte daher in
Kenntnis des geltenden deutschen Rechts vorschlagen, Herrn Zimmermann, was
immer man von ihm denkt, jetzt und in der Zukunft als ausgesprochenen Nichtmörder
zu bezeichnen. Seine Tätigkeit und seine Absichten wären demnach ausgesprochen
nichtmörderisch zu nennen. Übrigens habe ich in England auch die Äußerung gehört,
dass eine Bezeichnung Zimmermanns als Mörder nicht nur einen Rechtsbruch ihm
gegenüber darstellen würde, sondern auch ein schweres Unrecht gegen manche
Mörder, deren Gesamttätigkeit trotz ihrer Straftat weit weniger negative Folgen
haben, als die seine.
Gleichzeitig möchte ich
mich all denen anschließen, die den Rücktritt des Nichtmörders Zimmermann von
seinem Amt und ein Ende der Auslieferung an die Türkei und ähnliche Staaten
fordern.
Erich Fried, London
(Tageszeitung vom 02.09. 1983)
Am 31. August 2003 fand
in der Kirche zum Heiligen Kreuz eine Gedenkveranstaltung “Zuflucht gesucht –
den Tod gefunden – Fragen an die deutsche Flüchtlingspolitik zum 20. Todestag
von Cemal K. Altun” statt. Im folgenden dokumentieren wir die uns vorliegenden
Redebeiträge von Pfarrer Jügen Quandt (Asyl in der Kirche), Traudl Vorbrodt
(Flüchtlingsrat Berlin), von Rechtsanwältin Veronika Arendt-Rojahn sowie von
Heiko Kauffmann (PRO ASYL) .
Redebeitrag von Pfarrer
Jürgen Quandt:
Sehr geehrte Damen und
Herren!
Liebe Freundinnen und
Freunde!
Im Namen der Veranstalter des
heutigen Abends, als Vertreter von Asyl in der Kirche und als Pfarrer der
hiesigen Gemeinde begrüße ich Sie herzlich.
Wir haben zu der heutigen
Veranstaltung eingeladen, um an den 20. Todestag von Cemal Altun zu erinnern.
Altun ist am 30. August 1983
durch einen Sprung aus einem Fenster im 6. Stock des Berliner
Verwaltungsgerichts ums Leben gekommen. Er war ein politischer Flüchtling aus
der Türkei und wurde das Opfer der Zusammenarbeit zweier Geheimdienste, der
Unfähigkeit damaliger Politiker und eines Rechtssystems, das bis heute die
Auslieferung von politischen Flüchtlingen an ihren Verfolgerstaat zulässt.
Unter der Überschrift
“Zuflucht gesucht – den Tod gefunden” wollen wir heute allerdings nicht nur an
Altuns Schicksal in Deutschland vor 20 Jahren erinnern, sondern auch Fragen an
20 Jahre deutsche Asylpolitik stellen und damit daran erinnern, dass seither
eine Vielzahl von Flüchtlingen, die in Deutschland Schutz vor Verfolgung
gesucht haben, hier oder bei der Abschiebung bzw. durch die Abschiebung ihr
Leben verloren haben.
Ihre Namen sind kaum mehr
öffentlich wahrgenommen worden. Ihr Schicksal ist in Vergessenheit geraten.
Für viele Menschen in dieser
Stadt ist jedoch der Tod von Altun zum Wendepunkt in der Wahrnehmung von Flüchtlingsproblemen
in unserem Land geworden.
Dies gilt jedenfalls für die
kirchliche Flüchtlingsarbeit in Berlin. In dieser Gemeinde fand im Frühjahr
1983 ein Hungerstreik für die Freilassung Altuns aus der Auslieferungshaft
statt. Nach seinem tragischen Tod wurde er auf dem Friedhof der Gemeinde in
Mariendorf beigesetzt. Ein Trauerzug von mehreren tausend Menschen bewegte sich
damals von Kreuzberg bis dorthin.
Wenige Wochen nach dem Tod
Altuns kam es infolge dieses Geschehens zum ersten Kirchenasyl in Berlin und
bundesweit hier in Heilig-Kreuz. Dies war der Anfang für die Entstehung des
kirchlichen Flüchtlingshilfenetzwerks Asyl in der Kirche und damit der
Kirchenasylbewegung in Deutschland.
Ich gestatte mir als Christ
und Pfarrer hier und heute diese Ereignisse damals auch theologisch zu deuten.
Als Christen glauben wir an die Auferstehung der Toten. Das bedeutet für uns
den Glauben daran, dass das Leben immer wieder stärker als der Tod ist und dass
der Tod dadurch überwunden werden kann, dass aus ihm, aus dem Leid, dem
Schmerz, den er bereitet, eine neue Qualität des Lebens hervorgehen kann. Dies
ist damals wohl geschehen. Altuns Tod hat Menschen in Bewegung gebracht, die
sich zum Teil bis heute für den Schutz von Flüchtlingen einsetzen und denen es
immer wieder auch gelungen ist, Menschen vor Schaden und womöglich vor dem Tod
zu bewahren.
Auch wenn die Bilanz von 20
Jahren deutscher Asylpolitik wohl eher negativ ausfällt, so soll auch das nicht
in Vergessenheit geraten, dass es in diesen 20 Jahren viele Beispiele von mit
menschlicher Anteilnahme und Hilfe in Notsituationen gegeben hat, die nicht
selten gegen die öffentliche Meinung, gegen politische Verunglimpfung und auch
Kriminalisierungsversuche durchgehalten werden mussten.
Es gibt heute nichts zu
feiern. Der Blick geht eher mit Beschämung und auch einer gewissen Portion Zorn
zurück auf politische Realitäten, die unter wechselnden
Regierungskonstellationen stets nur zu einer Verschlechterung der
Lebensbedingungen und der rechtlichen Absicherung von Flüchtlingen in
Deutschland geführt haben. Es ist kein Ruhmesblatt deutscher Befindlichkeit,
wenn sich Politiker/Politikerinnen aller politischen Parteien dabei der Zustimmung
der Mehrheit der Deutschen jeweils sicher sein konnten.
Auch wenn wir heute nur noch
ein kleiner Rest einer ehemals breiten Protestbewegung sind, so werden wir
nicht verstummen, wenn es darum geht, menschenwürdige soziale und rechtliche
Standards in der Asylpolitik einzufordern.
Ich danke denen, die in der
heutigen Veranstaltung mitwirken: Wolfgang Wieland, ehemals Rechtsanwalt von C.
Altun, Veronika Arendt-Rojahn, die zur Rechtsproblematik von Auslieferungs- und
Asylrecht sprechen wird, Klaus Uwe Benneter, Mitglied des deutschen Bundestages,
der ebenfalls zu diesem Thema Stellung nehmen wird. Heiko Kauffmann, der für
PRO ASYL Forderungen an die deutsche Asylpolitik formulieren wird. Für die
musikalische Begleitung sorgen Hasan Kuzu, Sac und Reinhard Hoffmann, Klavier.
Für den Flüchtlingsrat Berlin
begrüßt Sie nun Traudl Vorbrodt.
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
Redebeitrag von Traudl
Vorbrodt (Flüchtlingsrat Berlin)
Für den Flüchtlingsrat
Berlin, der der älteste in Deutschland ist, danke ich Ihnen allen, dass Sie
heute zum Gedenken an Cemal Altun gekommen sind.
Zuflucht gesucht – den Tod
gefunden steht über dem heutigen Abend
Müsste es nicht (auch)
heißen: weil ihm der Schutz verweigert wurde, entschied er sich für den Tod?
Cemals Tod war kein Unfall
und auch keine Kurzschlusstat. Er wusste, was ihm nach der Abschiebung in den
Verfolgerstaat droht und deshalb entschied er sich für den Freitod.
Er wollte nicht mehr
ausgeliefert sein.
Er hatte das Vertrauen an
uns, die deutschen Gerichte und an die der Humanität und dem Gewissen
verpflichteten Politikern verloren.
Er fand den Tod nicht,
nachdem er ihn gesucht hatte. Er entschied sich für den Tod.
Und eben deshalb ist Cemal
jetzt der Stachel im Fleisch all derer, die sich raushalten oder der Meinung
sind, dass die Gesetze eben so sind und ein Einzelner oder auch Gruppen nichts
machen können.
Jeder und jede von uns
kann sich für den aktiven Widerspruch entscheiden.
Für die Mitglieder des
Flüchtlingsrats und natürlich auch für mich, die ich zu dessen Urgestein zähle,
war ist und wird sein.
Schutzgewährung und Humanität
lassen sich weder durch finanzielle Zwänge, noch durch ausländerrechtliche Vorgaben
oder durch parteipolitischen Opportunismus verbieten.
Nicht Unmenschlichkeit sondern
großherziger Schutz ist immer im Interesse der Bundesrepublik Deutschland.
Dafür beharrlich einzutreten
ist Würdigung der Entscheidung von Cemal Altun aber auch Mahnung und Herausforderung
an uns, nicht zu resignieren.
All denen unter Ihnen, die
glauben Asyl- und Menschenrechtsarbeit bringt ja doch nichts, sage ich zum
Schluss meiner Begrüßung:
Sooft man etwas ändert,
verliert man etwas. Man verliert Bequemlichkeit, bei denen man sich wohlfühlte,
man verliert Vertrautes.
Es ist aber ein großartiges
und unvergessliches Erlebnis wenn man sich in das Unvertraute begibt.
Redebeitrag von
Rechtsanwältin Veronika-Arendt Rojahn:
Aus
den Worten meines Kollegen Wieland haben Sie entnehmen können – und vielen, die
die Tragödie damals miterlebt haben, ist sie noch heute so in Erinnerung, als
wäre es gestern gewesen – daß es nicht nur die deutsche, sondern auch die
internationale Öffentlichkeit außerordentlich beschäftigt hat, wie das alles möglich sein konnte in einer
Demokratie, in der Recht und Gesetz herrscht und in der das Recht auf
politisches Asyl sogar mit Verfassungsrang ausgestattet war.
Der
Fall Altun, seine außerordentlichen Begleitumstände und insbesondere das
Nebeneinander von Asyl- und Auslieferungsverfahren haben seinerzeit außer der
breiten Öffentlichkeit auch den Deutschen Bundestag und die in ihm vertretenen
Parteien bewegt, namentlich die Grünen und die SPD, die damaligen
Oppositionsparteien.
Wenn
dieser Tod einen Sinn gehabt haben sollte, dann den, so die allgemeine Meinung
einer sensibilisierten Öffentlichkeit, daß umgehend gesetzgeberische Maßnahmen
zum Schutz des Asylrechts im Auslieferungsverfahren getroffen werden müßten.
In
der Tat hatte sich ja herausgestellt, daß die im Auslieferungsrecht an sich
verankerten Schutzmechanismen, politisch Verfolgte vor der Auslieferung an den
Verfolgerstaat zu bewahren, versagt hatten.
Warum?
Zum
damaligen Zeitpunkt galt Art. 3 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens
von 1957 (EAÜ), seit dem 1. Juli 1983 ersetzt durch das Gesetz über die
internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG). Dieses enthält in § 6 Abs. 2
eine konkrete Asylklausel, die sicherstellen soll, daß ein politisch Verfolgter
nicht ausgeliefert werden darf.
Wörtlich heißt es:
“Die
Auslieferung ist nicht zulässig, wenn ernstliche Gründe für die Annahme
bestehen, daß der Verfolgte im Fall seiner Auslieferung wegen seiner Rasse,
seiner Religion, seiner Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Anschauung verfolgt oder
bestraft oder daß seine Lage aus einem dieser Gründe erschwert werden würde”
-
eine im wesentlichen wörtliche Wiedergabe der Asyldefinition aus Art. 1 A der Genfer
Flüchtlingskonvention –
Man
sollte meinen, daß damit dem Schutz des politisch Verfolgten hinreichend
Rechnung getragen war, zumal Art. 14 EAÜ bzw. § 11 des Gesetzes über die
internationale Rechtshilfe in Strafsachen einen sogn. Spezialitätsgrundsatz
festlegt, wonach der Ausgelieferte nur wegen der Tat verfolgt werden darf,
deretwegen die Auslieferung bewilligt wurde.
Indes:
Die Prüfung, ob tatsächlich eine
politische Verfolgung droht, obliegt nach der Systematik des Auslieferungsgesetzes
allein dem mit dem Auslieferungsverfahren befaßten Oberlandesgericht, also einem Strafgericht, welches schon von
seiner Aufgabenstellung her nicht unbedingt über Erfahrungen bei der
Beurteilung politischer Verfolgungstatbestände im Ausland verfügen, auch nicht
über die Verläßlichkeit der Zusagen des die Auslieferung begehrenden Staaten
bei der Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes.
Die
Behörde, die an sich dazu berufen ist, zu prüfen, ob eine politische Verfolgung
vorliegt und die über die entsprechenden
Kompetenzen und Informationen verfügt, diese schwierige Frage auch tatsächlich
beurteilen zu können, das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge, bleibt bei der Entscheidung im Auslieferungsverfahren außen vor.
Ausdrücklich
formulierte sowohl das damalige, als auch das heutige Aslverfahrensrecht –
heute § 4 AsylVerfG – daß das Auslieferungsverfahren von der Bindungswirkung
der Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge ausgenommen ist. Im Klartext: Selbst eine bestandskräftige positive
Entscheidung bindet die Gerichte im Auslieferungsverfahren nicht.
Das
Kammergericht hat das geradezu wörtlich genommen, weder bei dem Bundesamt nachgefragt,
noch sich von der positiven Anerkennungsentscheidung beeinflussen lassen. Eine
eigne ausreichende Prüfung nach asylrechtlichen Maßstäben oder gar eine eigne
Sachverhaltsaufklärung läßt sich den Beschlüssen des Kammergerichts nicht
entnehmen. Ja es sah sich noch nicht einmal dazu veranlaßt, von dem Strafurteil
aus der Türkei betreffend einen vermeintlichen Mittäter eine Übersetzung
anfertigen zu lassen, um sich wenigstens anhand dessen ein eignes Bild von der
Strafverfolgungspraxis in der Türkei zu machen. Vielmehr genügte dem Kammergericht
allein die Tatsache, daß die türkischen Behörden die Einhaltung des
Spezialitätsggrundsatzes, d.h. die Verfolgung nur der Taten, für die die
Auslieferung bewilligt worden war, zugesichert hatten.
Diese
Entscheidung ist zu Recht auch von juristischer Seite heftig kritisiert worden,
zumal sie zu einer Zeit erging, als das
Bundesverfassungsgericht mit Auslieferungsfällen betreffend die Türkei bereis
wiederholt befaßt worden war und entschieden hatte, daß “nach den jüngsten Erfahrungen
die allgemeine Zusicherung der Spezialität allein nicht genüge, um derzeit im
Auslieferungsverkehr mit der Türkei die Gefahr politischer Verfolgung
hinreichend auszuschließen.”
Also
eine bedauerliche – tragische – Einzelfallentscheidung inkompetenter Richter,
die nicht geeignet ist, die grundsätzliche
Systematik in Frage zu stellen? Wohl kaum. Sicher, die Bundesregierung
hatte die letzte Entscheidung. In Anbetracht der von allen Seiten, auch aus dem
Ausland her vorgebrachten Bedenken hätte sie ohne weiteres die Auslieferung
verweigern können. Unter Berufung auf die Entscheidungen des Kammergerichts und
in Absprache mit der Türkei hatte sie sich gleichwohl zur Auslieferung
entschlossen. Die Gefahr, daß durch eine Nichtbewilligung der Auslieferung das
deutsch-türkische Verhältnis belastet werden könnte, wog schwerer als ein
Menschenleben.
Über
das Spannungsverhältnis zwischen Asyl- und Auslieferungsrecht ist deshalb
folgerichtig zum damaligen Zeitpunkt eine große Kontroverse entbrannt. Vom
Bundesjustizministerium wurde unmittelbar nach dem Tod von Altun eine interministerielle
Arbeitsgruppe “Auslieferung” eingesetzt. Diese brachte keine sachliche
Änderung. Die Gesetzentwürfe der SPD und der Grünen mit dem Ziel, die
Verbindlichkeit der Asylentscheidung auch für das Auslieferungsverfahren
herbeizuführen, verschwanden in den Schubladen der
Gesetzgebungsausschüsse.
Ich
zitiere der Einfachheit halber nur aus dem Gesetzentwurf der Grünen, der
vorschlägt, dem § 6 Abs. 2 IRG folgenden Absatz 3 anzufügen:
“Die
Auslieferung ist nicht zulässig, wenn der Verfolgte als Asylberechtigter
anerkannt ist. Bis zum rechtskräftigen Abschluß des Asylverfahren ist die
Entscheidung über die Auslieferung auszusetzen”.
Diese
Formulierung entsprach übrigens, worauf die Grünen in der Begründung auch
hinweisen, der Anregung des damaligen Vertreters des Hohen
Flüchtlingskommissars in Deutschland während der Beratungen des Asylverfahrensgesetzes,
welches 1982 in Kraft trat.
Die
genannten Parteien, die heute an der Macht sind, müssen sich die Frage gefallen
lassen: Warum wurde die Gesetzesinitiative nicht umgesetzt, auch dann nicht,
als die Mehrheitsverhältnisse die Verabschiedung ermöglicht hätten?
Der
Bedarf für ein Handeln des Gesetzgebers besteht fort.
Zwar
läßt sich erfreulicher Weise feststellen, daß die Sensibilität der für das
Ausliferungsverfahren zuständigen Gerichte – zumindest was die Türkei anbelangt
- durch den “Fall Altun” geschärft
worden ist. Der Auslieferungsverkehr mit der Türkei ist seither unterbrochen.
Zuletzt hat das OLG Düsseldorf mit Beschluß vom 27.05.2003 mit bemerkenswerter
Deutlichkeit die Auslieferung des als “Khalif von Köln” bekannt gewordenen
Führers des sogenannten “Khalifstaates” an die Türkei untersagt. Das OLG stützt
seine Entscheidung darauf, daß damit zu rechnen sei, daß in der Türkei Aussagen
von im Herbst 1998 festgenommenen “vermeintlichen Angehörigen des
“Khalifstaates”, die durch Folter erpreßt worden sind, verwendet würden.
Außerdem trage die Strafverfolgung des Betroffenen durch die Türkei den
Charakter politischer Verfolgung.
Es
bleibt zu erinnern, welchen Aufschrei bereits diese Entscheidung in der
Öffentlichkeit in den Augen vieler Politiker, auch der SPD hervorgerufen hat,
erst recht dann die nach der Aberkennung des Asylrechts durch das Bundesamt die Entscheidung des
Verwaltungsgerichts Köln, mit der dem Betroffenen Abschiebungshindernisse gem.
§ 53 Abs. 4 AuslG zugebilligt worden
sind, weil ihm in der Türkei ein menschenrechtswidriges Strafverfahren droht.
Die
verstärkte Sensibilität der Strafgerichte im Umgang mit der Türkei bedeutet
nicht, daß im Auslieferungsverfahren insgesamt eine erhöhte Sensibilität zu
verzeichnen ist.
Jüngste
Beispiele
der
Fall des wegen des Verdachts der al-Quaida-Unterstützung gegenwärtig in
Frankfurt/Main in Auslieferungshaft sitzenden jemenitischen Scheichs Moayad und
seines Sekretärs, deren Auslieferung an die USA das OLG Frankfurt/Main
zugestimmt hat, ohne den Gehalt der gegen sie erhobenen Vorwürfe zu prüfen,
allein auf die Zusicherung der USA hin, die beiden Jemeniten nicht vor ein
Sonder- oder Militärgericht zu stellen. Die Gefahr einer menschenrechtswidrigen
Behandlung in den USA – siehe Guantanamo – wurde, soweit bisher bekannt, noch
nicht einmal thematisiert,
der
Fall des mutmaßlichen Mitglieds der baskischen Separatistenorganisation ETA,
Paulo Elkoro, 29 Jahre als, dessen Auslieferung nach Spanien das
Oberlandesgericht Nürnberg unlängst beschlossen hat mit der Begründung, daß es
nach Unterlagen der Vereinten Nationen zwar “in vereinzelten Fällen” oder “in
mehr als vereinzelten Fällen” zu Folter und Mißhandlungen gekommen sei, in
seinem Fall aber keine konkreten Anhaltspunkte für die Gefahr der Folter durch die spanischen Behörden
bestünden. Elkoro sieht sich als politisch Verfolgten und hat Asylantrag gestellt,
über den noch nicht entschieden ist.
Man
sieht:
In
einer Zeit, wo das Hauptaugenmerk der Bekämpfung des Terrorismus und des
islamischen Fundamentalismus gilt, gerät die Forderung nach Bewahrung des
Asylrechts und Einhaltung der Menschenrechte auch für politische Straftäter und
für den vom Vorwurf der Unterstützung des Terrorismus betroffenen Personenkreis
mehr und mehr in den Hintergrund.
In
solchen die Demokratie verunsichernden Zeiten muß deshalb erst recht gelten:
Das
Asylrecht muß Vorrang haben vor der Auslieferung. Soweit dies rechtlich bisher
nicht vorgesehen ist, ist der Gesetzgeber gefragt, dies klarzustellen.
“Zuflucht gesucht – den Tod gefunden” – Fragen an die deutsche
Flüchtlingspolitik
Beitrag
zum 20. Todestag von Cemal Kemal Altun
von
Heiko Kauffmann (PRO ASYL)
“Die
Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.” (Art. 1 (1) GG)
“Jeder
hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person
ist unverletzlich.” (Art. 2 (2) GG)
“Alle
Menschen sind vor dem Gesetz gleich ... Niemand darf wegen seines Geschlechts,
seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft,
seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt
oder bevorzugt werden.” (Art. 3 (1), (3) GG)
Im
Umgang mit Flüchtlingen und Minderheiten in Deutschland wurde und wird unschwer
erkennbar, dass im Grundgesetz festgeschriebene Grundrechte und einige
wesentliche, von der Bundesrepublik anerkannte und ratifizierte Menschen- und
Völkerrechtsstandards in vielen Fällen nicht gewährleistet bzw. nicht umgesetzt
werden. Die Würde von Flüchtlingen ist antastbar, ihre Freiheit verletzlich und
ihre Gleichheit anfechtbar geworden. Cemal Kemal Altun wurde vor 20 Jahren
Opfer dieser Diskrepanz zwischen den von der Verfassung verheißenen Rechten und
der Realität ihrer Inanspruchnahme, Opfer der zunehmenden Kluft zwischen Recht
und Humanität.
Trifft
nicht auch heute im Fall vieler ‚Abschiebehäftlinge’, deren Angst vor
Abschiebung identisch ist mit ihrer Angst vor Verfolgung, Folter und Tod, zu,
was Peter Doebel am Todestag von Cemal Altun im ‚heute-Journal’ in seinem
Kommentar fragte: ... Musste er bei uns an dieser Angst sterben? Steht nicht im
Grundgesetz: Politisch Verfolgte genießen Asyl? Steht da nicht auch, dass hier
jeder Mensch die Gerichte zu Hilfe rufen darf? Es steht da. Aber wir müssen
darüber nachdenken, warum Cemal Altun diesen Garantien unserer Verfassung nicht
getraut hat ... Nachdenken müssen Gesetzgeber, Gerichte, Behörden. Sie alle
haben dazu beigetragen, dass klare menschliche Grundsätze unseres Staates unter
einer Fülle von Wenns und Abers, von Gesetzen und Verordnungen und undurchschaubaren
Urteilen bis zur Unkenntlichkeit verschüttet werden.”
Bis
heute bleiben Fragen an die deutsche Politik:
Was
bleibt von der menschlichen Würde, wenn man Flüchtlinge wie Cemal Altun, die
ein Grundrecht in Anspruch nehmen, wie Schwerverbrecher gefesselt in
Handschellen zur Verhandlung im Widerspruchsverfahren führt oder wenn
“Ausländer”, bis heute, von Politikern ungestraft und absichtsvoll pauschal als
“kriminell” und “illegal” herabgesetzt oder instrumentalisiert werden können in
jene, “die uns nützen”, und jene, “die uns ausnützen” (Beckstein)?
Was
bleibt von der unverletzlichen Freiheit, wenn man Flüchtlinge wie Cemal Altun
in über 13 Monaten Auslieferungshaft zermürbt oder wenn bis heute Flüchtlinge,
die keine Straftat begangen haben, bis zu 1 ½ Jahren in Abschiebegefängnissen –
den dunkelsten Orten unserer Demokratie – in Verzweiflung gestürzt werden?
Was
bleibt von den Verfassungsnormen des Gleichheitsgrundsatzes, eines fairen
Verfahrens und des Diskriminierungsverbots, wenn man – wie im Fall von Cemal
Altun – Militärdiktaturen Akteneinsicht und Amtshilfe gewährt oder wenn man bis
heute Flüchtlinge in Zwangsvorführungen Botschaftsangehörigen oder Vertretern
von Unrechtsregimen zum Verhör in quasi “rechtsfreien Räumen” überlässt?
Was
bleibt vom Bestreben unserer Verfassungsväter und -mütter, mit dem Artikel 16,
Recht auf Asyl – des alten, unversehrten Art. 16 – neue Maßstäbe
internationaler Humanität und einer menschenrechtsorientierten Flüchtlingspolitik
zu setzen – angesichts der Maxime deutscher Flüchtlingspolitik, von Zimmermann
über Kanther bis hin zu Schily, Flüchtlinge abzuschrecken, ihnen den Zugang zu
verwehren oder sie so schnell wie möglich wieder los zu werden, egal wohin mit
allen Mitteln um fast jeden Preis.
Wenn
ein Staat, der in seiner Verfassung ein kategorisches Nein zu Folter, Todesstrafe und unmenschlicher Behandlung sagt, bereit ist, wehrlose Menschen in seiner Obhut an Staaten auszuliefern , in denen ihre
Unversehrtheit nicht gewährleistet ist, macht er sich mitschuldig . Nicht nur
der Staat, der foltert, verletzt die Menschenrechte. Auch der Staat, der bereit
ist, wehrlose Menschen in Staaten abzuschieben, in denen ihnen Haft, Folter,
Verfolgung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder die Todesstrafe
drohen, verletzt die Menschenrechte.
Das
galt vor 20 Jahren und das gilt auch noch heute. Seitdem hat sich für
Flüchtlinge nichts zum Besseren, aber vieles zum noch Schlechteren entwickelt.
Dazu stichwortartig ein kurzer Rückblick:
1980
brannten die ersten Flüchtlingsheime in Deutschland; die Sinusstudie belegte
1981 bei 13 Prozent der wahlberechtigten Bundesbürger ein “ideologisch
geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild”, über 6 Prozent der
Wahlbevölkerung befürworteten rechtsextremistische Gewalttaten.
1981/82
verbreitete sich das von rechtskonservativen Hochschullehrern verfasste
“Heidelberger Manifest” in dem – in der Form eines wissenschaftlich
verkleideten Rassismus – auf demagogische Weise Ausländerfeindlichkeit geschürt
und eine Pogromstimmung gegen Migrant/Innen und Flüchtlinge erzeugt wurde.
Gleichzeitig
wuchs die Zahl von Anfeindungen, tätlichen Angriffen und einer systematischen
Stimmungsmache gegen Migrant/Innen und Flüchtlinge weiter an.
Verfassungsschutz
und Politik waren also durch diese Daten und Entwicklungen hinreichend vor der
Gefahr eines gewalttätigen Rechtsextremismus in Deutschland gewarnt. Dass dies
als wesentliche Herausforderung der Politik (der sozial-liberalen Regierung)
erkannt wurde, bewies der damalige Innenminister Gerhard Baum noch kurz vor dem
Regierungswechsel am 19. August 1982, als er der Öffentlichkeit eine umfassende
Darstellung über den Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus und
Ausländerfeindlichkeit vorlegte und dazu erklärte: “Gerade in der
Bundesrepublik ist der Rechtsextremismus, der sich auf Ausländerfeindlichkeit
konzentriert, mit höchster Sensibilität und Aufmerksamkeit zu verfolgen. Schon
einmal in der jüngsten deutschen Geschichte ist der Rassismus zum
‚Staatsprinzip’ erhoben worden. Alle Anfänge eines neuen Rassismus müssen von
allen Demokraten mit Nachdruck bekämpft werden.”
Diese
eindringliche Mahnung hinderte weder den neuen Bundeskanzler kurz nach der Übernahme
der Regierungsverantwortung im Oktober 1982, von einer “zu großen Zahl von
Türken” in Deutschland zu sprechen, die halbiert werden müsste, noch seinen
Innenminister Friedrich Zimmermann, die Stimmung weiter anzuheizen und die genannten
Gefahren und Tätlichkeiten zu verharmlosen und “herunterzureden”: “Wer
leichtfertig von Ausländerfeindlichkeit spricht, redet Ausländerfeindlichkeit
herbei” erklärte Zimmermann in Zirndorf (DIE Welt, 14.12.1982)
In
seinem am 1. März 1983 vorgelegten Ausländerbericht ist denn auch mehr von
illegal eingereisten, kriminellen, das soziale Netz missbrauchenden Ausländern
die Rede als etwa vom Ziel der Integration. Die amtliche Ausländerpolitik,
Reden und Handeln der Regierungspolitiker, näherten sich vielmehr Forderungen
aus dem ‚Heidelberger Manifest’ immer mehr an, während die öffentliche Hetze,
ausländerfeindliche Straftaten und rassistische Anschläge unvermindert anhalten
–; in gleichem Maße nahmen Angst, Verunsicherung und Verzweiflung bei
Migrant/Innen und Flüchtlingen zu.
Vor
diesem Hintergrund sah sich die damalige Beauftragte der Bundesregierung,
Liselotte Funcke, genötigt, am 2. Mai 1983 – also zu einem Zeitpunkt, als die
Bundesregierung die Auslieferung Cemal Altuns bereits bewilligt hatte (21.
Februar 1983) und am selben Tag, an dem die Europäische Kommission für
Menscherechte in Straßburg die gegen die Auslieferung erhobene Beschwerde zuließ
– einen politischen ‚Brandbrief’ an Bundeskanzler Kohl zu richten, in dem es
hieß:
“Die
Ausländerpolitik ist zu einem brennenden außen- und innenpolitischen Thema
geworden. In der deutschen Bevölkerung wird die Erwartung genährt, dass die
Zahl der Ausländer fühlbar gesenkt werden würde oder könnte, im Ausland erzeugt
die Diskussion um restriktive Maßnahmen Befürchtungen, Abwehr, Feindseligkeit
und den Verdacht neuer nazistischer oder rassistischer Strömungen. In hohem
Maße verunsichert aber sind die hier lebenden Ausländer durch
ausländerfeindliche Parolen und Aktionen einerseits, aber auch nicht weniger
durch täglich neue Vorschläge von Politikern, die eine Zurückdrängung,
Begrenzung oder Abschiebung zum Ziele haben. Es ist zu befürchten und auch zu beobachten,
dass extremistische Gruppen von Deutschen und Ausländern versuchen, diese
Ängste und Unsicherheiten politisch in ihrem Sinne zu nutzen.”
Was
hier vor 20 Jahren kritisiert wurde, gilt im Prinzip auch heute: Das ganze
Elend und Unheil der deutschen ‚Ausländer- und Flüchtlingspolitik bestand und
besteht darin, dass die Politik immer wieder einschneidende Maßnahmen gegen
Rechtsradikalismus und Gewalt ankündigt, diese ‚einschneidenden Maßnahmen’ aber
nicht gegen die Täter und die Verursacher von Fremdenfeindlichkeit und
Rassismus richtet, sondern Maßnahmen gegen Migrant/Innen und Flüchtlinge
ergreift.
Die
Politik hat es über zwei Jahrzehnte versäumt, ernsthaft die Ursachen von
Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt zu bekämpfen. Der sog. Asylkompromiss
- die Grundgesetz-Änderung vor 10 Jahren sollte vornehmlich der “Eindämmung”
rechter Gewalt dienen. Er bewirkte jedoch eine weitere “Eindämmung” der Rechte
von Flüchtlingen und eine Aushöhlung des Flüchtlingsschutzes. Statt sich mit
den Ursachen des Rassismus zu befassen und sich offensiv mit ihm auseinander zu
setzen, wurden weitere Maßnahmen gegen Flüchtlinge und Minderheiten ergriffen,
die gleichzeitig einen ‚Wettlauf der Schäbigkeiten’ auf europäischer Ebene
eröffneten.
Durch
die 1993 in Kraft getretenen Verschärfungen im Asyl- und Leistungsrecht, durch
eine immer engere Definition von politischer Verfolgung und restriktivere
Auslegung von Verfolgungstatbeständen, durch immer höhere inhaltliche und
formale Hürden bezüglich der Asylerheblichkeit, durch wirklichkeitsfremde
Bewertungsmaßstäbe wurden immer mehr Flüchtlinge aus dem Schutzbereich des
Asyls hinausgedrängt und ihnen die Anerkennung versagt.
Der
von den Kirchen, von Menschenrechtsorganisationen und wiederholt auch von
internationalen Gremien – wie dem UN-Ausschuss zur Beseitigung der
Rassendiskriminierung und der Europäischen Kommission gegen Rassismus und
Intoleranz (ECRI) – heftig kritisierte Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland
ist ein Spiegelbild des politisch und gesellschaftlich transportierten und
akzeptierten Rassismus.
Strukturelle
und institutionelle Ungleichheiten verletzen nicht nur die Menschenrechte der
Flüchtlinge. Sie sind auch der Nährboden für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit
und rechtsextreme Gewalt. Wissenschaftliche Studien, aber auch gerade die
historischen Erfahrungen aus dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte –
belegen den Zusammenhang zwischen staatlichem, institutionellem Rassismus und
dem alltäglichen Rassismus des Einzelnen.
Nelson
Mandela erklärte in seiner Verteidigungsrede vor Gericht, 1962:
“Im
eigentlichen Wortsinn bedeutet Gleichheit vor dem Gesetz das Recht auf
Beteiligung an der Erstellung der Gesetze, denen man unterworfen ist, bedeutet
eine Verfassung, die allen Gruppen der Bevölkerung demokratische Rechte
garantiert.”
Cemal
Kemal Altun hätte nicht sterben müssen, wenn diese Garantie demokratischer
Rechte Maßstab deutscher Politik gewesen wäre.
Die
Garantie demokratischer Rechte, die Verwirklichung humaner Lebensbedingungen
für alle Menschen als Maßstab jeder Politik bedeutet konkret: das Recht jedes
Menschen, überhaupt Rechte zu haben und sie in Anspruch nehmen zu können; das
Recht jedes Menschen, menschenwürdig leben zu können; das Recht zu arbeiten wie
ein Mensch; lernen zu können wie ein Mensch; zu wohnen wie ein Mensch; sich
frei bewegen zu können wie ein Mensch; wie jeder – hier oder dort geboren –
Schwarz oder Weiß, Christ oder Moslem, am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu
können!
Der
Tod von Cemal K. Altun wurde 1983 von den verantwortlichen christdemokratischen
Regierungspolitikern, von Kohl bis Zimmermann, als “bedauerlicher Einzelfall”
bezeichnet, aber er war nur der erste von inzwischen weit über 100
Flüchtlingen, die sich aus Angst und Verzweiflung vor ihrer Abschiebung in das
gefürchtete Verfolgerland selbst töteten. Sie alle hätten nicht sterben dürfen
und müssen, wenn rechtsstaatliche und menschenrechtliche Grundsätze und
Menschlichkeit den Umgang Deutschlands und seiner Behörden gegenüber
Flüchtlingen bestimmen würden und nicht eine rechtlich abgesicherte,
‚demokratisch’ legitimierte Erniedrigung von Menschen.
Freiheitsentzug
ohne Straftatbestand, das gesamte gegenwärtige System der Abschiebungshaft ist
für einen sich als rechtsstaatliche Demokratie definierenden Staat in jedem
Fall wohl das eklatanteste und empörendste Beispiel eines institutionellen
staatlichen Rassismus in Deutschland.
Diese Toten im
Abschiebe-Gewahrsam oder aus Angst vor ihrer Abschiebung sind nicht nur Folge
verschärfter Asylgesetze durch die Vorgängerregierung; sie werfen vielmehr auch
ein grelles Licht auf die Kontinuität einer Politik der Abwehr, Ausgrenzung und
Kriminalisierung von Flüchtlingen unter Rot-Grün. Die über 35 Toten seit dem
Regierungswechsel im Herbst 1998 sind auch eine “Anklage” gegen die rot-grünen
Nachfolger, die sich – wider besseres Wissen und gegen ihre eigenen
Versprechungen, u.a. im Koalitionsvertrag von 1998 – bisher zu keiner Korrektur
an diesem zermürbenden und tödlichen System der Abschiebungshaft und der Abschiebepraxis
durchringen konnten.
Der
Tod Cemal K. Altuns markierte eine tiefe Besorgnis auslösende Entwicklung des
demokratischen Rechtsstaats Bundesrepublik Deutschland. Dies zeigt am Beispiel
der Entwicklung der Asylpolitik. Das rechtsstaatliche Bewusstsein, die
Identität der damals engagierten Anwälte, Menschenrechtler und kirchlichen
Aktivisten gründete auf der Überzeugung, dass das Asyl- und Verfassungsrecht
weitere restriktive Einschnitte kaum mehr zulassen würde. Sie forderten eine
schnelle Änderung der das Grundrecht auf Asyl einschränkenden bzw. behindernden
Gesetze und eine Veränderung der Behandlung von Asylsuchenden durch die
Behörden. Dass die geforderte Änderung des Grundrechts auf Asyl sich in eine
ganz andere Richtung – bis zu seiner völligen Demontage – entwickeln und die
“Behandlung der Flüchtlinge” zu ihrem weitgehenden Ausschluss aus der
Gesellschaft führen könnte, erschien 1983 selbst Christdemokraten noch
unvorstellbar.
Gleichzeitig
skizziert diese Entwicklung – in der Folge zunehmender weltpolitischer und wirtschaftlicher
Umbrüche in den 80er / Anfang der 90er Jahre – das erfolgreiche Bemühen und die
Beharrlichkeit der restaurativen politischen Kräfte, mit ihrem
Abschottungskonzept einer “geistig-moralischen Erneuerung” und der Ideologie
der “Homogenisierung des deutschen Volkes” den – aufgrund dieser neuen
Herausforderungen vorgezeichneten und einzig gangbaren – Weg in eine
interkulturelle demokratische und sozialintegrative Gesellschaft mit gleichen
Chancen, Rechten und Perspektiven für alle Bürgerinnen und Bürger zu verbauen.
Der repressive Umgang mit Flüchtlingen und Asylrecht wurde zunehmend zum
Seismographen für das aufgeladene, Ressentiment-behaftete Klima im Land.
Er ging einher mit einer
wachsenden Zahl rechtsextremistischer Gruppen, begleitet von immer
zahlreicheren und heftigeren Angriffen auf Flüchtlinge und Minderheiten. In
Dutzenden von Asylrechtsänderungen seit Beginn der 80er Jahre wurde das
materielle Recht unerbittlich eingeschränkt. Flüchtlinge wurden “zu Objekten
der Überwachung und Fürsorge” (Alfons Söllner).
Dies, obwohl sich die
Kirchen, Verbände, Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen, Gewerkschaften
und Juristenvereinigungen in den vielen Anhörungen des Innenausschusses des Dt.
Bundestages, in Expertenrunden und öffentlichen Stellungnahmen mehrheitlich
immer für den Erhalt des Art. 16 GG, für eine Verbesserung des Flüchtlingsschutzes
und der Behandlung von Flüchtlingen eingesetzt hatten. In der Tat legen die
Archive des Dt. Bundestages beredtes Zeugnis von der fachlichen, rechtlichen,
politischen und moralischen Kompetenz und Überzeugungskraft der Mehrheit dieser
Experten ab. Die politischen Entscheidungen folgten indessen in der Regel den
reaktionärsten Mindermeinungen, was die Zweifel an dieser Art “parlamentarischer
Inszenierungen” und an der Legitimität solcher Entscheidungen weiter
verstärkte.
Viele
Vertreter/Innen dieser Gruppen hatten sich in der Folge den zivilen
Gegenkräften außerhalb des Parlaments in der Flüchtlings- und
Menschenrechtsarbeit angeschlossen. So geht etwa die Gründung von “Asyl in der
Kirche” Berlin unmittelbar auf die Zusammenarbeit im Unterstützungskomitee für
die Freilassung Cemal Altuns zurück. Und auch bundesweit setzten nach dem Tod
von Cemal Altun Bemühungen um weitreichende Vernetzungen, Koordination und Zusammenarbeit
in der Flüchtlingsarbeit ein: von ad-hoc-Bündnissen wie zum 40. Jahrestag der
Befreiung mit Anzeigen “Hände weg vom Asylrecht” (initiiert u.a. von amnesty
international, der AWO und terre des hommes und unterzeichnet von über 100
Persönlichkeiten, darunter der Abgeordnete Otto Schily), über die “Konferenzen
der Freien Flüchtlingsstädte”, über regionale und landesweite Gründungen von
Flüchtlingsräten, bis zu regelmäßigen Treffen der in der Flüchtlingsarbeit
tätigen Verbände im Umfeld von UNHCR und ZDWF in Bonn. Nach diversen Anläufen
in verschiedenen Richtungen mündeten diese Bestrebungen schließlich in der Gründung
der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge PRO ASYL im September
1986. Damit war ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis für den
Erhalt des Art. 16 GG, gegen die beispiellose Instrumentalisierung von
Flüchtlingen, gegen den Missbrauch sozialer Ängste, das Schüren von
Vorurteilen, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus geschmiedet.
Nach
der Niederlage im Kampf um den Erhalt des Asylgrundrechts vom 26. Mai 1993
intensivierte sich die Arbeit von PRO ASYL gegen die weitere Einschränkung des
Asylrechts und des Flüchtlingsschutzes auf nationaler wie auf europäischer
Ebene, wo ein Wettlauf zur Verhinderung von Fluchtbewegungen und um die
Herabsetzung asylrechtlicher Standards begonnen hatte: Harmonisierung auf
niedrigstem Niveau! Eine Asylpolitik, die nicht mehr vom Geist der Abwehr,
Ausgrenzung und Kriminalisierung schutzsuchender Menschen – mit verheerenden
Folgen für die Entwicklung und die Zukunft von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie
und Menschenrechten – getragen war, schien erst mit dem Regierungswechsel zu
Rot-Grün in Sicht zu kommen.
Die
zentralen Forderungen anlässlich des Regierungswechsels 1998 von PRO ASYL, Menschenrechtsorganisationen,
Kirchen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden an die Bundesregierung und
Rot-Grün bleiben nach dem (vorläufigen) Scheitern des Zuwanderungsgesetzes
aktuell. Ihre Umsetzung, ergänzt um weitere Forderungen, die sich aus der
Debatte über das neue Zuwanderungsgesetz ergeben, könnten erste Schritte auf
dem Weg zu einer menschenrechtsorientierten Asyl- und Flüchtlingspolitik sein
(vgl. PRO ASYL “Mindestanforderungen an neues Asylrecht”, 1998).
Dazu gehören: Die Rückkehr
zu den internationalen Standards des Flüchtlingsrechts, die uneingeschränkte
Geltung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention,
die Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgungsgründe,
die Umsetzung bindender Völkerrechtsdokumente – wie z.B. die
UN-Kinderrechtskonvention und das Internationale Abkommen zur Beseitigung jeder
Form von Rassendiskriminierung. Weitere Schutzanforderungen sind u.a.: Besserer
Schutz besonders gefährdeter Flüchtlingsgruppen, eine Härtefall-Regelung im
Ausländergesetz, eine “Altfall-Regelung”, Mindeststandards im
Asylverfahrensrecht, ersatzlose Streichung des sogenannten Flughafenverfahrens,
die Abschaffung der gegenwärtigen Abschiebungspraxis und die ersatzlose
Streichung des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Ohne
in diesem Beitrag ausführlich auf das neue Zuwanderungsgesetz einzugehen (vgl.
dazu: PRO ASYL: “Viel Schatten, wenig Licht”), ist im Ergebnis doch festzuhalten,
dass auch Rot-Grün – gewiss neben wichtigen Verbesserungen, z.B. bei der
Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung oder bei
der Einführung einer ‚Härtefallregelung’ – keine wirklich essentiellen,
nachhaltigen Schritte unternimmt, um dieses im besten (Wort-) Sinne “Zuwanderungsbegrenzungsgesetz”
vom Ruch eines vorurteilsbestimmten, interessengeleiteten Sondergesetzes
für unerwünschte Personen zu befreien.
Alle politischen Richtungen
sprechen zurzeit von dem Ziel der “Integration”. Die Regierungskoalition hat in
ihrem Koalitionsvertrag von 2002 sogar ein “Jahrezehnt der Integration”
ausgerufen. Wenn dies wirklich ernst gemeint ist, muss eine glaubwürdige
Politik bei den Menschen ansetzen, die sich faktisch seit vielen Jahren in Deutschland
aufhalten. Wir schlagen vor, dass Regierung und Opposition gemeinsam die Chance
ergreifen, nach dem Scheitern des Zuwanderungsgesetzes die Neufassung mit einer
Bleiberechtsregelung zu versehen oder sie unabhängig davon zu beschließen. Hier
besteht dringendster politischer Handlungsbedarf für ein menschenwürdiges,
gleichberechtigtes Leben von Hunderttausenden Menschen in Deutschland. Dieses
Recht auf Bleiberecht, wie es von einem breiten Bündnis aus Kirchen,
Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Menschenrechtsorganisationen und Betroffenen
in einer bundesweiten Kampagne getragen wird, ist der aktuelle Prüfstein für
die deutsche Flüchtlingspolitik 2003, endlich Lehren zu ziehen und den
politischen Willen zu bekunden, sie wieder auf einen menschenrechtlich und
grundgesetzlich geforderten Weg im Sinne von Art. 1,2 und 3 des Grundgesetzes
zu führen (vgl. PRO ASYL “Hier geblieben! Recht auf Bleiberecht.”).
Schon zu Lebzeiten Cemal K.
Altuns wurde die Asylpraxis in der Bundesrepublik Deutschland ihrem verfassungsrechtlichen
Gebot nicht mehr in vollem Umfang gerecht. Seitdem hat sich für Flüchtlinge in
Deutschland nichts zum Besseren, aber vieles zum Schlechteren gewendet.
Mit der allmählichen
Ausgliederung von Flüchtlingen aus dem allgemeinen Recht, mit Dutzenden von
Asylrechtsänderungen – jeweils als “Reform” deklariert – seit Beginn der 80er
Jahre, mit der Installierung neuer Sondergesetze (Asylverfahrensgesetz,
Asylbewerberleistungsgesetz), mit Sonder-Vorschriften, Sonder-Erlassen und
Sonder-Richtlinien wurden und werden Flüchtlinge in Deutschland einer
“faktischen Sonderbehandlung mit räumlicher Abtrennung aus der Gesellschaft
unterworfen” (Sigrid Töpfer in Jäger/Kauffmann: “Leben unter Vorbehalt”).
Sonderbehandlung: Unterbringung, “Residenz”pflicht, eingeschränkte Versorgung,
medizinische Ausgrenzung, Lager, Kontrolle, Überwachung, Abschiebung. Verstöße
führen zur Kriminalisierung und Illegalisierung von Betroffenen, zu Abschiebungshaft,
Zwangsvorführungen bis hin zu Auslieferung oder Abschiebung. Längst arbeitet
der “Rechtsstaat” mit dem Verfolgerstaat zusammen, erkundet Fluchtrouten,
schließt “Rückübernahme-Abkommen”, führt Flüchtlinge in einem fortschreitenden
Prozess der Segregation in immer extremere Räume der Gesellschaft bis hin zur
‚externen’, geographischen Segregation militärisch bewachter Flüchtlingslager
im Niemandsland zwischen Krieg und Frieden. “Regionalisierung” des
Flüchtlingsproblems mit militärischen Mitteln, von Innenministern abgestimmte
Aktionspläne zur Verhinderung der Aufnahme von Flüchtlingen, eine systematisch
gegen Fluchtbewegungen und Flüchtlinge abgestimmte Militär- und
Sicherheitspolitik, “heimatnahe” Unterbringung in Lagern (Blair-Konzept). Militärisch
gesicherte exterritoriale Lager der Armut, Ausgrenzung, Recht- und
Gesetzlosigkeit einerseits, Festungen des Wohlstands und der
“Rechtsstaatlichkeit” andererseits: Droht dies zum Normalfall, zur Realität des
Flüchtlings im 21. Jahrhundert zu werden?
Politische
‚Stigmatisierungen’ von Minderheiten haben schon immer den Volkszorn angestachelt.
Sie signalisieren dem Normalbürger, insbesondere den Verlierern
gesellschaftlicher Deregulierungsprozesse: “Diese Menschen sind hier
unerwünscht; sie gehören nicht dazu!” Von diesem Bewusstsein bis zur
Tätlichkeit ist oft kein weiter Schritt!
So
wichtig es war und ist, dass die Bundesregierung gegen einen in der
Öffentlichkeit militant und gewalttätig auftretenden Rassismus mobil macht, so
muss nach 5 Jahren Rot-Grün, angesichts einer unverändert hohen Zahl in der
Öffentlichkeit kaum noch beachteter rechtsextremistischer Straftaten kritisch
hinterfragt werden, ob das von ihr ins Leben gerufene “Bündnis für Demokratie”,
ob Projektförderungen und Auszeichnungen mit Feiertagsreden am Verfassungstag,
ob Appelle des Innenministers zur Wachsamkeit und Zivilcourage Einzelner nicht
bei weitem zu kurz greifen, weil und insofern der staatliche, institutionelle
Rassismus von der deutschen Politik systematisch ausgeblendet, ja geradezu
tabuisiert wird?
Nach
dem 3. Jahrestag des “Aufstands der Anständigen” – vom Bundeskanzler und von
den Medien nach Anschlägen auf jüdische Flüchtlinge im Sommer 2000 aufwändig
inszeniert –zieht Frank Jansen das bittere Fazit: “Der Aufstand gegen den
Anstand geht weiter mit unverminderter Brutalität. Vom Aufstand der Anständigen
hingegen ist fast nichts mehr zu spüren. In Medien und Politik werden rechte
Gewalt und rassistische Schikanen meist nur noch als Randphänomen behandelt.
Seit dem 11. September erscheinen sie noch kleiner ... Die Bundesrepublik ist
offenkundig wieder da, wo sie vor dem Sommer 2000 war in einem Zustand des
Wegsehens, der Gleichgültigkeit und der Gewöhnung an den täglichen Angriff auf
Menschenrechte im eigenen Land.” (Frank Jansen, “Aufstand gegen den Anstand”, Leitartikel
in: “Der Tagesspiegel” vom 6.8.2003)
Ein
vernichtendes Urteil über die Defizite und das Scheitern der Flüchtlings- und
Menschenrechtspolitik der rot-grünen Regierung, die ja gerade in Berufung und
aus der Betonung einer größeren Beachtung der Menschenrechte ihre Legitimation
beziehen wollte.
Der
notwendige offene gesellschaftliche Diskurs im Zusammenhang mit der
Einwanderungsdebatte und der allseits geforderte Paradigmenwechsel sind nicht
eingetreten. Sie wurden durch die restriktiven Entwürfe Schilys, der dieser
Debatte schnell den Deckel überstülpte, aktiv verhindert. Allenfalls wurde der
unheilvolle deutschnationale Geist Kanthers und dessen Ziel der “Homogenität
des dt. Volkes” durch ein ökonomistisch bestimmtes, neoliberales Menschenbild ersetzt:
“würdig” ist, was “nützlich” ist.
Von
einem Innenminister, der glaubt, Rassismus und Rechtsextremismus allein durch
die Zivilcourage der Bürger/Innen eindämmen zu können, ist zumindest selbst
soviel an eigener Courage zu erwarten, dass er – als Innenminister – wenigstens
das hält, was er als oppositioneller Abgeordneter versprochen hatte: “...
Abschiebungshaft muss rechtsstaatlichen und humanitären Grundsetzen genügen.
Leider entspricht die gängige Abschiebepraxis diesen Anforderungen allzu häufig
nicht. Das müssen wir ändern. Nicht zuletzt mahnen uns die tragischen Todesfälle
in der Abschiebehaft, die Abschiebepraxis zu überprüfen. Die Menschenrechte
sind unteilbar, auch bei uns zuhause.” (Schily in “Die Woche”, 24.3.95)
Schily
selbst weiß also um den Skandal der von ihm zu verantwortenden Politik. Zwar
ist es ihm gelungen, das Thema ‚Rassismus’ aus dem öffentlichen Diskurs und im
Alltag mehr und mehr zu verdrängen – allerdings um den Preis eines Gesetzes,
“das Zuwanderung so sehr begrenzt, wie es sich rechtskonservative und
rechtsextreme Kreise nur wünschen könnten ... Dies geschah jedoch zu Lasten
demokratischer Einwanderungspolitik.” (Siegfried Jäger, Mediale
Feindbildkonstruktionen nach dem 11. Sept. 2001, Vortrag bei der Jahrestagung
der “Deutschen Vereinigung für politische Bildung”, 7.3.03 Braunschweig,
unveröffentlichtes Manuskript). Siegfried Jäger zieht das Fazit: “Rassismus ist
zwar im öffentlichen Diskurs und im Alltag zurückgedrängt worden; dafür hat er
sich aber in der Mitte der Gesellschaft fortsetzen können. Wir können davon
ausgehen, dass ein institutioneller Rassismus gestärkt worden ist und durch das
neue Einwanderungsgesetz vertieft wird.” (ebenda)
Kaum
unverschlüsselt übt denn auch das Deutsche Institut für Menschenrechte bei der
Vorstellung seiner Ende Juli 2003 veröffentlichten Studie “Diskriminierung und
Rassismus” deutliche Kritik an der Politik der Bundesregierung: Es fehle in
Deutschland “an der Entschlossenheit bei der umfassenden Bekämpfung des Übels;
es fehlten korrigierende Eingriffe des Staates und es fehle an der Bereitschaft
des Gesetzgebers, auf diesem Gebiet seine Hausaufgaben zu machen.” (FR,
1.8.2003)
Auch
die vom Europarat eingesetzte Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz
(ECRI) hatte der Bundesregierung schon im Juli 2001 – gegen den wütenden
Protest von Innenminister Schily – bescheinigt, “dass Themen wie Rassismus,
Antisemitismus, Fremdenhass und Intoleranz erst als solche erkannt und bekämpft
werden müssen.”
Die harsche Kritik des
Innenministers und sein (peinlicher) Versuch der Zurückweisung dieses Berichts
belegen nicht nur, dass hier der wunde Punkt der regierungsamtlichen Ausländer-
und Flüchtlingspolitik getroffen wurde. Er unterstreicht die Zweifel und die
berechtigte Kritik von Menschenrechts- und UN-Organisationen, wenn es etwa
heißt: “Der bevorstehende Gesetzesrahmen und die politischen Maßnahmen haben
sich als unzureichend bei der wirksamen Bekämpfung dieser Probleme erwiesen.
Besonders besorgniserregend sind die Situation von und die Einstellung
gegenüber denen, die als “Ausländer” betrachtet werden, die unzureichenden
Maßnahmen für die Integration und die fehlende Anerkennung, dass die deutsche
Identität mit anderen Identitätsformen als den traditionellen einhergehen
kann.” (zit. nach Berichten der Süddeutschen Zeitung, FR, TAZ, DIE WELT, FAZ,
Rhein. Post vom 9. Juli 2001)
Lehrt
nicht gerade auch die unheilvolle Seite der deutschen Geschichte, dass jeder
Terror im Kleinen anfängt? Dass, was heute nur nach Schikane und
Benachteiligung aussieht, morgen schon gezielte Ausgrenzung und systematische
Diskriminierung sein kann? Dass, wo heute “nur” Vorurteile geschürt und
Wählerstimmen mobilisiert werden, morgen schon der “Volkszorn” zuschlagen kann?
Alisa
Fuss, die verstorbene ehemalige Präsidentin der Internationalen Liga für
Menschenrechte, Berlin, die den Holocaust überlebte, weil sie Deutschland als
Kind verlassen konnte, drückte dies einmal in eindringlichen, einfachen und
klaren Worten aus, als sie (sinngemäß) sagte: “Wer die Lehre aus dem Holocaust
beherzigen will, muss heute Gesetzen und einer Politik misstrauen, welche Menschen nach Eigenschaften, Herkunft
oder Religion mit dem Ziel ihrer Herabsetzung, Beeinträchtigung, Kränkung oder
Entwürdigung unterscheidet.” Sie hat sich bis zu ihrem Tod für das Andenken und
das Vermächtnis Cemal Altuns eingesetzt.
Und
Hermann Langbein, Auschwitz-Überlebender und Chronist des Widerstandes in den
Konzentrationslagern, erklärte kurz vor seinem Tod: “Ja, nie wieder Auschwitz,
aber das ist keine Sache von salbungsvollen Reden. Die Rassenideologie ist
wieder auf dem Vormarsch, in Deutschland, in Österreich; die Menschen werden
wieder eingeteilt. Die Lehre von Auschwitz ist: die Menschen nie mehr
einteilen. Und: die Verantwortung für sein eigenes Handeln erhalten.”
Deshalb
müssen wir heute erkennen, dass auch die Demokratie, der
freiheitlich-demokratische Rechtsstaat brüchig wird, wenn Schutz und Hilfe suchende Menschen das, was
ihnen in Deutschland nach der Flucht widerfährt, als unerwartete Fortsetzung
erlebter Schikanen und Verletzungen im Herkunftsland erfahren müssen. Eine Demokratie
wird brüchig, wenn einem politischen Flüchtling sein Tod in diesem
freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ihm als letzter und einziger Weg in die
Freiheit erscheint.
Der Tod Cemals war ein
“Zeichen an der Wand”, ein letztes verzweifeltes Zeichen an die Politik
innezuhalten und umzukehren. Die Verantwortlichen haben dieses Zeichen nicht
verstanden und keine Lehren aus seinem Tod gezogen. Die verhängnisvolle
institutionelle Maßnahmepolitik gegen Flüchtlinge nahm ihren unheilvollen Lauf.
Die deutsche Asylpolitik ist für viele Flüchtlinge zum Inbegriff einer amtlich
legitimierten Herabsetzung und “Entwürdigung” von Menschen geworden – Ausdruck
einer demokratisch abgesicherten, rechtlich verbrämten Menschenverachtung.
Das
ganze gegenwärtige System der Abschiebungshaft und der Abschiebepraxis,
Freiheitsentzug ohne Straftatbestand, Strafe ohne Rechtsgrund und ohne
Rechtsschutz ist in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie das
eklatanteste Beispiel eines institutionellen staatlichen Rassismus.
Deshalb
ist es an der Zeit, dass die Zivilgesellschaft bewusster, hellhöriger,
sensibler, wachsamer und widerständiger wird, wenn mit den Mitteln des Rechts
oder durch rassistisch geprägte Sondergesetze die systematische Ausgrenzung von
Menschen betrieben wird.
Cemal
Altuns Tod mahnt uns noch entschiedener und offensiver die Strukturen und
Mechanismen von Ausgrenzungs- und Diskriminierungsstrategien anzuprangern und
zu bekämpfen, auch wenn sie von der Politik verschleiert, geleugnet und mit dem
Hinweis auf Mehrheitsentscheidungen auch noch gerechtfertigt werden.
Der
Kampf gegen Rassismus, der Schutz der Menschenwürde beginnt bei den Rahmenbedingungen,
bei den politischen und rechtlichen Vorgaben für bzw. gegen Flüchtlinge und
Minderheiten und Migrant/Innen in diesem Land. Erst die Defizite und Mängel in
diesem Bereich, das Wegsehen, Verdrängen und Bagatellisieren der Politik ermutigen
rechtsextremistische Täter und geben ihnen das Gefühl, in Übereinstimmung mit
einem Mehrheitskonsens zu handeln. Um die Schutzlosigkeit und Rechtlosigkeit
der Flüchtlinge zu überwinden, ist die Politik deshalb gefordert, durch
gesetzgeberische Maßnahmen sicherzustellen, dass sie niemals mehr als Menschen
zweiter Klasse behandelt werden können.
“Die
Ignoranz der Justiz und der Opportunismus der Bundesrepublik Deutschland waren
stärker als sein Durchhaltevermögen und unser Engagement” hieß es in der
Traueranzeige für Cemal Kemal Altun. Im Gedenken an Cemal Altun und Hunderte
von Flüchtlingen, welche in Deutschland Freiheit und Zuflucht suchten und den
Tod gefunden haben, erklären wir: Wir werden mit aller Entschiedenheit gegen
den rassistischen Bazillus in Politik und Gesellschaft kämpfen und niemals mehr
zulassen, dass sich die Ignoranz von Politik und Justiz und der Opportunismus
der politisch Verantwortlichen gegen die Menschenwürde und die Menschenrechte
durchsetzen können!
Internationale Sektion der Fédération Internationale des
Ligues de Droits de l’Homme akkreditiert mit B.Status bei UNO, Europarat und
UNESCO |
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für Menschenrechte im Geiste von Carl von Ossietzky |
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21 22
Telefax 030 - 396
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Tel.:
030/ 24344-5762, Fax: -5763
buero@fluechtlingsrat-berlin.de,
www.fluechtlingsrat-berlin.de
Aus Anlass des bundesweiten
Aktionstages gegen die Abschiebehaft am 30. August 2003 stellen die Internationale
Liga für Menschenrechte und der Flüchtlingsrat Berlin fest, dass die im Artikel
1 des Grundgesetzes postulierte Würde des Menschen für Flüchtlinge in unserem
Land keine Wirkung entfaltet. Die Menschenwürde von Asylbewerbern,
Kriegsflüchtlingen oder illegalisierten Menschen wird nach wie vor in unserem
Land verletzt.
Die Abschiebehaft ist
oft die letzte Station für Menschen ohne Papiere. Aus Sicht der Internationalen
Liga für Menschenrechte und des Flüchtlingsrates Berlin stellt sie eine unverhältnismäßige
Grundrechtseinschränkung dar. Die Betroffenen sitzen nicht wegen einer
Straftat hinter Gittern, sondern lediglich zur ”Sicherstellung der Abschiebung”.
Beide Organisationen setzen sich daher langfristig für die Abschaffung der
Abschiebehaft ein.
Die Inhaftierten geraten im
Abschiebegewahrsam in eine psychisch stark belastende und oft auswegslose Lage.
Die Hungerstreiks und die Zahl der Selbstverletzungen bzw. Suizidversuche im
Berliner Abschiebegewahrsam Anfang diesen Jahres sind dafür ein erschreckender
Beleg. Im Zusammenhang mit der Furcht vor der Abschiebung in eine ungewisse und
als bedrohlich wahrgenommene Situation sind in den letzten 10 Jahren in Berlin
acht Menschen zu Tode gekommen.
Die Internationale Liga für
Menschenrechte und der Flüchtlingsrat Berlin erinnern an Cemal K. Altun,
einen Asylbewerber aus der Türkei, der vor zwanzig Jahren dem großen
psychischen Druck im Auslieferungsverfahren nicht mehr Stand halten konnte und
sich mit einem Sprung aus dem Fenster des Verwaltungsgerichtes das Leben nahm.
Sein Name steht für die 111
Menschen, die sich seit 1993 aus Angst vor der drohenden Abschiebung töteten
oder bei dem Versuch starben, sich der Abschiebung zu entziehen.[1]
Seit der Grundgesetzänderung
vor 10 Jahren, dem sogenannten Asylkompromiss, ist keine Wende in der Abschottungspolitik
der Bundesregierung gegenüber den Menschen zu spüren, die aus unterschiedlichen
Gründen bei uns Zuflucht suchen wollen. Im Gegenteil, mit den in Kraft gesetzten Anti-Terror-Paketen wurden die “Maschen
im Grenzzaun” noch enger geflochten.
Wer die menschenverachtenden Praktiken von Schleusern bekämpfen will, muss die Fluchtwege nach Europa offen halten, wer neue Maßstäbe bei der Integration von Migranten setzen will, darf nicht weiter eine ganze gesellschaftliche Gruppe einer diskriminierenden Gesetzgebung aussetzen.
Im Gedenken an Cemal K. Altun
erklären wir, dass wir von der Bundesregierung ernsthafte Schritte erwarten,
die Bausteine eines staatlichen Rassismus gegenüber Flüchtlingen und
Migranten aus dem Weg zu räumen. Der viel beschworene Paradigmenwechsel in
der Einwanderungspolitik bleibt ansonsten unglaubwürdig. Ein erster Schritt
wäre die Umsetzung der bereits in der ersten Koalitionsvereinbarung der
rot-grünen Bundesregierung zugesagten Überprüfung der Praxis der Abschiebehaft
im Lichte der Verhältnismäßigkeit.
So sollte bis zur Abschaffung
der Abschiebehaft auf die Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Personen
- wie Minderjährigen - verzichtet werden. In dieser Hinsicht sind die bisher auf
Berliner Ebene erfolgten Veränderungen als unzureichend zu bezeichnen.
Am 30. August um 11 Uhr werden
die Internationale Liga für Menschenrechte und der Flüchtlingsrat Berlin vor
dem Denkmal in der Hardenbergstraße an Cemal K. Altun erinnern. Es
sprechen:
RA
Dr. Rolf Gössner,
Präsident der
Internationalen Liga für Menschenrechte
und
Heiko Kauffmann,
PRO ASYL
Die Internationale Liga für
Menschenrechte und der Flüchtlingsrat Berlin unterstützen die weiteren am
bundesweiten Aktionstag gegen die Abschiebehaft stattfindenden Veranstaltungen,
die in Berlin u.a. von Seiten der Antirassistischen Initiative und der
Initiative gegen Abschiebehaft organisiert werden. (12.00 – 13.00 Uhr
Straßentheater/Aktionen zwischen Zoo und Breitscheidplatz, 13.30 Kundgebung auf
dem Breitscheidplatz, 20.30 Uhr Filme gegen Abschiebung vor dem Gewahrsam in
Berlin-Grünau).
Gemeinsam mit Asyl in der
Kirche Berlin e.V. und PRO ASYL laden die Internationale Liga für
Menschenrechte und der Flüchtlingsrat Berlin zu einer Veranstaltung am 31.
August 2003 um 19.00 Uhr in die Heilig-Kreuz-Kirche (Zossener Strasse 65,
U-Bhf. Hallesches Tor) ein:
“Zuflucht gesucht – den Tod gefunden –
Fragen an die deutsche Flüchtlingspolitik zum 20. Todestag von Cemal K. Altun”.
Flüchtlingsrat Berlin Internationale
Liga für Menschenrechte
Berlin, 28. August 2003
Selbstdarstellungen
“Asyl in der Kirche” e.V. Berlin ist Teil des bundesweiten Kirchenasylnetzwerkes.
Der
Verein ist aus der Ökumenischen Flüchtlingsarbeit, die in Berlin 1983 begonnen
hat, hervorgegangen.
Die Notwendigkeit,
Flüchtlinge durch vorübergehende Aufnahme in Kirchengemeinden zu schützen,
falls sie durch drohende Abschiebung an Leib und Leben gefährdet sind, war Anlass der Vereinsgründung.
Die
Mitglieder des Vereins sind Kirchengemeinden und andere – meist kirchliche -
Organisationen sowie engagierte Einzelpersonen.
“Asyl
in der Kirche” e.V. Berlin unterhält in der Heilig-Kreuz-Kirche eine
Flüchtlingsberatungsstelle, die hilfesuchende Flüchtlinge in rechtlichen Fragen
ihres Aufenthalts und bei sozialen Problemen unentgeltlich berät.
Darüber
hinaus steht “Asyl in der Kirche” Kirchengemeinden bei allen Fragen der
Flüchtlingshilfe und des Flüchtlingsschutzes bis hin zum Kirchenasyl zur
Verfügung.
Die Internationale Liga für Menschenrechte arbeitet
auf der Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, der
Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 und den beiden UN-Pakten von
1966. Sie betrachtet die Menschenrechte als universell und unteilbar. Ihr
Menschenrechtsbegriff umfasst gleichberechtigt die bürgerlich-politischen,
sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Schutz- und Teilhaberechte -
unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, Religion oder politischer
Überzeugung.
Als Nicht-Regierungsorganisation handelt die Internationale
Liga für Menschenrechte unabhängig von staatlichen und nichtstaatlichen
Institutionen. Ihre vorrangige Aufgabe sieht die Liga darin, eine kritische
Öffentlichkeit herzustellen und Druck auf Regierungen und Entscheidungsträger
zu erzeugen. Sie wendet sich gegen die Rücknahme rechtsstaatlicher
Errungenschaften im Straf- und Polizeirecht, fordert die Wiederherstellung des
uneingeschränkten Grundrechts auf Asyl und den Erlass eines
Antidiskriminierungsgesetzes. Sie betrachtet den Kampf gegen Rechtsextremismus
nicht allein als Aufgabe von Polizei und Justiz, sondern als eine gesamtgesellschaftliche.
Seit 1962 verleiht die Internationale Liga für Menschenrechte jährlich die Carl-von-Ossietzky-Medaille an Personen und Gruppen, die sich um die Verteidigung der Menschenrechte und des Friedens besonders verdient gemacht haben.
Im
Flüchtlingsrat Berlin arbeiten seit 1981 Organisationen,
Beratungsstellen, Flüchtlingsselbsthilfegruppen, Initiativen und Einzelpersonen.
Sie setzen sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Flüchtlingen und
die Wahrung ihrer Menschenwürde ein. Die Verteidigung des individuellen
Anspruchs auf Asyl, der Abbau staatlicher Diskriminierungen und die Stärkung
antirassistischer Arbeit sind dabei wesentliche Ziele.
Der
Flüchtlingsrat setzt sich mit dem Berliner Senat, mit Behörden, Verbänden,
Parteien und Politikern auseinander, um die Rechte von Flüchtlingen zu
verteidigen. Auch öffentliche Appelle, Aktionen und Veranstaltungen zu aktuellen
flüchtlingspolitischen Entwicklungen dienen diesem Ziel.
Er vertritt die Berliner
Flüchtlingsarbeit nach außen und ist Ansprechpartner für die Öffentlichkeit und
die Medien. Seine Mitglieder arbeiten in vielen wichtigen öffentlichen Gremien
und Organisationen mit. Durch die regelmäßige Versendung eines Rundbriefs wird
ein großer Interessentenkreis in und außerhalb Berlins informiert.
Der Flüchtlingsrat Berlin ist Mitglied in der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL. Er arbeitet eng mit anderen Flüchtlingsräten zusammen und hat gute Kontakte zu Wohlfahrtsorganisationen, Kirchen, Gewerkschaften und dem UNHCR.
PRO ASYL wurde 1986 als eine unabhängige
Menschenrechtsorganisation, in der Menschen aus Kirchen, Gewerkschaften,
Flüchtlingsräten, Wohlfahrts- und Menschenrechtsorganisationen zusammenarbeiten
gegründet.
PRO ASYL nimmt in der
Öffentlichkeit Stellung und informiert über Entwicklungen, Hintergründe und
Auswirkungen der Asylpolitik. Unter anderem geschieht dies durch intensive
Pressearbeit. PRO ASYL initiiert bundesweite Kampagnen, um auf Ungerechtigkeiten,
Missstände und politische Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen.
Neben dem bundesweiten
Engagement ist die internationale Dimension von Menschenrechtsfragen und
Asylpolitik von Beginn an ein zentraler Aspekt des Engagements für Flüchtlinge
und Asylsuchende. International kooperiert PRO ASYL mit dem Hohen
Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) und mit ECRE, dem Europäischen Flüchtlingsrat und seinem Büro in
Brüssel, zusammen.
Auf Länderebene besteht eine
ständige Verbindung mit den Flüchtlingsräten.
Schlussbemerkung
Menschenwürde ist
verletzbar
“Der Tod eines politischen Flüchtlings als letzter Weg in die Freiheit, die er ganz anders in diesem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat zu finden hoffte, ermahnt uns noch immer. Das Asylrecht ist Menschenrecht, für welches wir kämpfen müssen”.
Diese Mahnung formulierte
der Flüchtlingsrat fünf Jahre nach den Ereignissen des Jahres 1983, das Jahr in
dem Cemal K. Altun aus Angst vor der drohenden Auslieferung in den Verfolgerstaat
Türkei in den Tod sprang.
Im Jahr 1983 waren weitere
Todesfälle von Flüchtlingen zu beklagen, die sich angesichts der drohenden
Abschiebung das Leben nahmen. So waren schon bis Ende April 1983 vier Suizide
von Asylbewerbern aus Ghana bzw. Äthiopien zu verzeichnen. In der
Silvesternacht 1983/1984 kam zu einem weiteren tragischen Ereignis: Im Polizeigewahrsam
in der Augustastrasse verbrannten sechs Asylbewerber, die rechtswidrig in der
Berliner Abschiebehaft festgehalten wurden.
Zwanzig Jahre später
gedachten am 30. August 2003 Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen
sowie antirassistische Gruppen im Rahmen eines bundesweiten Aktionstages gegen
die Abschiebehaft derer, die auf der Flucht in die Bundesrepublik
oder beim Versuch, sich der Abschiebung zu entziehen, zu Tode kamen. Allein an
einem 30. August starben nach Cemal Altun noch drei weitere Flüchtlinge – Kola
Bankole/1994, Rachid Sbaai/1999, Althankou Dagwasoundel/2000.
Am 30. August 2003 wurde der
kongolesische Flüchtling Raphael Batoba im dritten Versuch (nach 11jährigem Aufenthalt
in Deutschland) in das vom Bürgerkrieg zerrüttete Herkunftsland abgeschoben.
Somit bekam der Aktionstag gegen die Abschiebehaft eine Aktualität, die verdeutlicht,
dass in den zwanzig Jahren nach dem Tode Cemal Altuns das Grundrecht auf Asyl,
die Menschenrechte für Flüchtlinge geschwächt und ausgehöhlt wurden.
Das Gedenken an Cemal Altun
und an die anderen hier benannten und ungenannten Flüchtlinge wird daher auch
künftig mit dem Protest gegen Ausgrenzung und Diskriminierung von Flüchtlingen,
gegen die Abschiebehaft als unverhältnismäßige Grundrechtseinschränkung zu
verbinden sein. Der Flüchtlingsrat Berlin unterstützt daher die Idee der
regelmäßigen Durchführung von bundesweiten Aktionstagen gegen die
Abschiebehaft.
Für den Flüchtlingsrat
Berlin, Jens-Uwe Thomas, November 2003