Dr. Rolf Gössner, Präsident der
Internationalen Liga für Menschenrechte:
Kundgebungsrede am 8. Mai 2005 in Berlin
am Sowjetischen Ehrenmal
Tabu-Themen
des 8. Mai
Der 8. Mai 1945 ist einer der bedeutendsten
Tage der Weltgeschichte – wahlweise apostrophiert als Tag der Kapitulation, der
Niederlage, des Zusammenbruchs oder Untergangs. Doch für uns ist und bleibt
der 8. Mai der Tag der Befreiung vom Faschismus. Heute am 60. Jahrestag
gedenken wir der Millionen Opfer der Nazi-Herrschaft. Wir gedenken der
Partisanen und Widerstandskämpfer in den okkupierten Ländern und in
Deutschland. Und wir gedenken der Befreiung und aller Befreier in der
Anti-Hitler-Koalition – hier am russischen Ehrenmal ganz besonders der
Millionen Frauen und Männer der damaligen Sowjetunion, die die Hauptlast des
Krieges, die Hauptlast der Niederschlagung des Faschismus zu tragen hatten und
unermessliche Opfer erbringen mussten.
Und wir besinnen uns heute in besonderem
Maße der Lehren und Konsequenzen, die aus dieser deutschen Vergangenheit für
alle Zukunft zu ziehen sind: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“.
Am heutigen Tag ist zwar viel von historischer Verantwortung und Verpflichtung
die Rede; doch diese ist längst zu einer verlogenen Bewältigungs-Rhetorik
verkommen, wie wir sie in vielen Sonntagsreden bis zum Überdruss zu hören
kriegen – gerade von jenen, die im Zuge ihrer Politik der Entsolidarisierung,
der Entrechtung und Entwürdigung großer Teile der Bevölkerung längst schon historischen
„Ballast“ abgeworfen haben.
Lassen
Sie mich an ein besonders dunkles Kapitel bundesdeutscher Geschichte erinnern,
das bis heute ein Tabu-Thema geblieben ist: Dieses Kapitel spielt in den 50er
und 60 Jahren und handelt von politischer Verfolgung großen Ausmaßes –
gerichtet nicht etwa gegen Alt- und Neonazis, sondern gegen über 200.000
Antifaschisten, Kommunisten, und andere Linke, und zwar wegen gewaltfreier
Oppositionsarbeit: Da reichte es schon aus, gegen die Remilitarisierung des
Landes zu kämpfen, um hinter Gittern zu landen. Die Verfolger in Polizei und
Justiz waren nicht selten die alten Nazi-Täter, die systematisch wieder in den
Staatsdienst eingegliedert worden sind. Und auch die Opfer blieben die
gleichen: nämlich Menschen, die am Widerstand gegen den Faschismus beteiligt
und in der NS-Zeit mit äußerster Härte verfolgt worden waren.
Trotz der Ungerechtigkeiten, die diese
Menschen auch auf dem Boden der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“
erleben mussten: Die Betroffenen wurden bis heute nicht rehabilitiert. Vielen
kommunistischen NS-Opfern sind auch noch sämtliche Wiedergutmachungsansprüche
verweigert worden – wegen politischer „Unwürdigkeit“. Angesichts dieses
Skandals fordern wir hier und heute: Nicht allein die Stasi-Geschichte der DDR
ist es wert, aufgearbeitet zu werden, auch die dunklen Flecken der
westdeutschen Staatsschutz-Geschichte müssen endlich der Verdrängung entzogen,
die vergessenen Justizopfer des kalten Krieges schnellstens rehabilitiert und
entschädigt werden.
2. Auch heute noch werden Antifaschisten
diskriminiert und mit Strafe bedroht: So hat erst kürzlich in Baden-Württemberg
ein Lehramtskandidat Berufsverbot erhalten, nur weil er sich in einer
antifaschistischen Initiative engagiert. Und in München ist ein 78jähriger
Antifaschist und ehemaliger KZ-Häftling verurteilt worden, weil er dazu
aufgerufen hatte, sich einem Aufmarsch von Alt- und Neonazis entgegen zu
stellen.
Tatsächlich mehren sich
Anklagen gegen Menschen, die zu Anti-Nazi-Protesten aufriefen oder sich den
Nazis in den Weg stellten. Mit dieser Kriminalisierung wird die allseits
geforderte zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung von Staats wegen behindert
– obwohl gerade antifaschistische Bündnisse, die sich vor Ort engagieren, ein
wesentlicher Bestandteil der politischen Kultur in diesem Lande sind. Ohne den
massiven Protest gegen den NPD-Aufmarsch hier in Berlin, gegen die
nationalistische Umdeutung der Geschichte, wäre die offizielle 8.-Mai-Feier
kaum der Reden wert. Trotz aller Strafandrohung rufen wir deshalb weiterhin
dazu auf: Stellt Euch den Neonazis in den Weg, wo immer Ihr sie trefft!
Seit 1990, dem Jahr der
deutschen Vereinigung, sind mehr als 100 Menschen von Neonazis und anderen
fremdenfeindlich eingestellten Tätern erschlagen, erstochen, aus fahrenden
Zügen geworfen, zu Tode gehetzt oder verbrannt worden. Und die Terrorangriffe
gegen Asylbewerber und Migranten, gegen Obdachlose und Behinderte, gegen Juden
und Linke gehen weiter.
3.
Eine wichtige Konsequenz aus den leidvollen Menschheitserfahrungen mit zwei
verheerenden Weltkriegen ist die Allgemeine Menschenrechtserklärung – genauso
wie die Charta der Vereinten Nationen, die zur Wahrung des Weltfriedens auf das
Prinzip der Gewaltfreiheit setzt. Doch seit den Terroranschlägen vom 11.09.2001
kommen Menschenrechte mehr und mehr unter die Räder, werden aggressive
„Anti-Terror“-Kriege geführt, die im Namen der Sicherheit letztlich globale
Unsicherheit produzieren. Deutschland hat der Devise „Nie wieder Krieg!“ längst
schon abgeschworen und sich selbst an völkerrechtswidrigen Angriffskriegen
beteiligt. Auch Europa rüstet für weltweite Kriseneinsätze zur militärischen
Sicherung von Wirtschaftsinteressen. Mit der geplanten EU-Verfassung sollen
die Mitgliedstaaten sogar zu Aufrüstung und globaler Kriegsbereitschaft ihrer
Armeen verpflichtet werden – Aufrüstung als Verfassungsziel, ein einzigartiger
Vorgang in der europäischen Verfassungsgeschichte, ein Subventionsversprechen
an die Rüstungsindustrie. In wenigen Tagen soll im Bundestag dieser Verfassungsvertrag
ratifiziert werden – ohne Beteilungschance für die Bevölkerung. Eine
„Friedensmacht Europa“ ist mit dieser Verfassung nicht in Sicht, stattdessen
ein neuer Weltpolizist. Deshalb sagen wir „Nein zu diesem EU-Verfassungsvertrag“
– aber andererseits auch ein klares Ja zu einem demokratischen, sozialen und
friedlichen Europa.
4. Der sogenannte
Antiterrorkampf hat sich als ein gigantisches Umorientierungs- und
Umgestaltungsprogramm herausgestellt: Wir sind Zeugen einer Demontage
hergebrachter Standards des Völkerrechts und der Bürgerrechte –
zivilisatorischer Errungenschaften, die über Jahrhunderte mühsam, unter
schweren Opfern erkämpft worden sind, Lehren und Konsequenzen, die nicht
zuletzt aus den schlimmen Erfahrungen mit Faschismus und Krieg resultieren.
Zu denen Lehren gehört ein humaner Umgang mit
Asylsuchenden, die politischer Verfolgung entfliehen konnten. Doch längst ist
das Asylgrundrecht zur Unkenntlichkeit demontiert worden, längst werden
Migranten per Antiterrorgesetz unter Generalverdacht gestellt und einem rigiden
Überwachungsregime unterworfen. Sie sind die eigentlichen Verlierer des
staatlichen Antiterrorkampfes.
Mit
den Antiterror-Paketen eines Otto Schily ist der präventiv-autoritäre
Sicherheits- und Überwachungsstaat in greifbare Nähe gerückt. Selbst die
neoliberale FDP will das neuerdings erkannt haben. Doch was hat wohl ein
Westerwelle aus der Geschichte gelernt, wenn er die Gewerkschaften allen Einflusses
berauben will? Und was die famosen Kapitalismuskritiker der SPD, die zwar
besonders krasse Erscheinungsformen des Kapitalismus beklagen, aber die
strukturellen Ursachen von Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit
ignorieren? Und wie glaubwürdig ist eine Partei, die internationale Investoren
als asoziale Heuschrecken bezeichnet – ihrerseits aber rigoros Sozialabbau
betreibt und damit die Zerstörung von sozialer Gerechtigkeit?
Dieses
Land braucht dringend eine starke außerparlamentarische Opposition und
widerständige Menschen, die die demokratischen Lehren aus Krieg und Faschismus
der Verdrängung entreißen, die Bürger- und Menschenrechte neu erkämpfen, die
Neonazismus und Rassismus konsequent bekämpfen und sich allen Kriegen
widersetzen. „Es gibt nicht Gutes –
außer: Man tut es!“ (Erich Kästner).
Dr.
Rolf Gössner
ist Rechtsanwalt und Publizist. Seit 2003 Präsident der „Internationalen
Liga für Menschenrechte“ (Berlin). Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren,
u.a. zu den „Anti-Terror“-Gesetzen im Bundestag. Mitglied im Liga-Kuratorium
zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille an Personen, die sich um
Frieden und Menschenrechte verdient gemacht haben. Mitglied der Jury zur
Verleihung des Negativpreises „BigBrotherAward“ an Institutionen, die in
besonderem Maße den Datenschutz missachten. Mitherausgeber von „Ossietzky“
- Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft (Berlin/ Hannover) sowie des
jährlich erscheinenden „Grundrechte-Report – Zur Lage der Bürger- und
Menschenrechte in Deutschland“ (Fischer-Verlag, Frankfurt/M.). Autor
zahlreicher Bücher zu „Innerer Sicherheit“ und Bürgerrechten, zuletzt: >Geheime
Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des
Staates.< (Knaur, München 2003). Internet: www.rolf-goessner.de.