Rolf Gössner
Zeit zum
Widerspruch
gegen den Durchmarsch des autoritären Sicherheitsstaates
Aufruf an alle bürgerrechtsorientierten Kräfte zum gemeinsamen Handeln
(Oktober
2001)
Wir befinden uns gegenwärtig auf einem höchst
gefährlichen Weg, auf dem die Balance zwischen Sicherheitsmaßnahmen und
Freiheitsrechten verloren zu gehen droht. Wir haben im öffentlichen
Sicherheitsdiskurs einen Erhitzungsgrad und eine Dynamik erreicht, die zu
großer Besorgnis Anlass geben. Eine Reihe der beschlossenen und viele der
geplanten „Anti-Terror“-Massnahmen drohen die Bürgerrechte und liberal-rechtsstaatliche
Strukturen in ihrer Substanz anzugreifen. Es ist höchste Zeit zum Widerspruch!
Ein in den letzten Wochen vielgehörter Satz
klingt immer deutlicher wie eine unheilvolle innenpolitische Drohung: Nach dem
11. September 2001 werde nichts mehr so sein, wie zuvor. Die gegen Tausende
Zivilpersonen verübten grausamen Selbstmord-Anschläge in den USA lösten eine
Welle der Trauer, der Solidarität und Hilfsbereitschaft aus – aber auch
Unsicherheit, Angst, Gewaltphantasien und Verfolgungseifer, die nicht zuletzt
Politiker und Sicherheitsstrategen erfasst haben.
So viel dürfte unstreitig sein: Angesichts der auch für die
Bundesrepublik diagnostizierten Bedrohungslage kann nicht einfach zur
Tagesordnung übergegangen werden; schließlich haben die mutmaßlichen Massenmörder
vor ihren Attacken in Deutschland gelebt, studiert und wohl auch ihre Attentate
vorbereitet. Es gehört zu den Aufgaben und Pflichten von Regierung und
Sicherheitsbehörden, die Täter und Hintermänner der Anschläge zu ermitteln, mit
geeigneten und angemessenen Maßnahmen für die Sicherheit der Bürger zu sorgen,
und dabei auch dem erheblich angeschlagenen Sicherheitsgefühl in der
Bevölkerung Tribut zu zollen. Immerhin würden nach neuesten Umfragen über 80
Prozent der Bevölkerung eine Einschränkung der persönlichen Freiheit durch
verstärkte Sicherheitsmaßnahmen freiwillig hinnehmen.
Vor diesem
Hintergrund werden der Bevölkerung in hektischer Betriebsamkeit auf Länder-,
Bundes- und Europa-Ebene immer neue Sicherheitsmaßnahmen und umfangreiche
Anti-Terror-Pakete präsentiert, die tiefgreifende Einschnitte in Grundrechte
und liberal-rechtsstaatliche Strukturen zeitigen. Neben sinnvollen oder
zumindest nachvollziehbaren Vorhaben sind darunter auch so prekäre Schritte,
wie die Ausweitung der höchst fragwürdigen Anti-Terror-Gesetze, Regelanfragen
an den Verfassungsschutz bei Einbürgerung und Asylsuchenden, biometrische Daten
in Ausweisen, Kronzeugenregelung, Datenverbund zwischen Geheimdiensten und
Polizei, erleichterte Abschiebungen sowie Lockerungen des Datenschutzes – frei
nach dem Motto von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD), der Datenschutz sei
hierzulande ohnehin „übertrieben“ worden. Hätten die Terroranschläge mit
weniger Datenschutz wirklich verhindert werden können?
Ganze Bevölkerungsgruppen mutieren inzwischen zu
potentiellen Sicherheitsrisiken, ganze Lebensbereiche werden problematischen
Rasterfahndungen unterzogen, die Unschuldsvermutung weicht einer Art Beweislastumkehr;
das Gebot der Trennung zwischen Geheimdiensten und Polizei, zwischen Polizei
und Militär wird derart aufgeweicht, dass eine Machtkonzentration droht, die
demokratisch kaum noch zu kontrollieren ist. Es scheint, als befänden wir uns
in einem nicht erklärten
Ausnahmezustand.
Der Protest gegen diesen Sicherheitsaktionismus ist noch
nicht stark genug – vereinzelte kritische und besonnene Stellungnahmen von
Datenschutzbeauftragten und der Widerspruch von zahlreichen Bürgerrechtsorganisationen
sind erste ermutigende Signale, die unbedingt verstärkt werden müssten. Eine
differenzierte Beurteilung scheint in dieser aufgeheizten Debatte nur wenig
gefragt, weshalb auch die mitregierenden Bündnisgrünen mit ihrer hilflos
erscheinenden Warnung vor „überzogenen Forderungen“, ihren Appellen an
„Vernunft“ und „rechtsstaatliches Augenmaß“ zunehmend unter Druck geraten, dem
sie, so hat es wenigstens den Anschein, kaum noch Stand halten können – wenn
sie nicht von außen, etwa von Bürgerrechtsgruppen deutlich gestärkt werden.
Die bislang gehörten Proteststimmen reichen nicht aus, um
die drohenden Strukturveränderungen, die das Gesicht dieser Republik nachhaltig
verändern könnten, zu verhindern. Deshalb sind alle bürgerrechtsorientierten
Kräfte in der Bundesrepublik aufgerufen,
·
sich neu zu formieren, um
gemeinsam und selbstbewusst gegen den losgetretenen Sicherheitsaktionismus,
gegen die Arroganz von Machtstrategen wie Schill & Schily und gegen die
rechtspopulistische Instrumentalisierung des New Yorker Anschlags für
sicherheitspolitische Zwecke anzukämpfen.
·
Menschenrechtsgruppen und
Bürgerrechtler sollten nicht länger wie gebannt auf die zahlreichen repressiven
und präventiven Einzeleingriffe starren, sondern die Frage zu beantworten
versuchen, ob und inwieweit damit tatsächlich bürgerrechtliche Positionen
geräumt und liberal-rechtsstaatliche Strukturen verletzt oder gar zerstört
werden.
·
Die Angst, als
“Bedenkenträger” dazustehen, sollte allmählich überwunden werden. Gerade eine
solche Zeit braucht die fundierte Formulierung von Einwänden gegen einen
drohenden Abbau der Bürgerrechte; diese Zeit braucht Antworten auf die Frage,
wie sich eine Gesellschaft verändert, in der präventiv ganze Lebensbereiche und
Arbeitswelten durchgerastert werden, in der Bürger und einzelne Bevölkerungsgruppen
zu potentiellen Sicherheitsrisiken mutieren.
·
Es wird dabei allerdings nicht
ausreichen, die bislang beschlossenen und die noch in Planung befindlichen
“Anti-Terror-Pakete“ pauschal als bürgerrechtswidrig abzulehnen. Angesichts der
veränderten Bedrohungssituation geht es vielmehr um eine differenzierte Aus-
und Bewertung aller Maßnahmen, sowohl hinsichtlich ihrer
Bürgerrechtsverträglichkeit als auch ihrer Erforderlichkeit, Wirksamkeit und
Verhältnismäßigkeit. Die berechtigte Frage, ob die staatlichen Reaktionen
tatsächlich mehr Sicherheit bringen und ob sie grundrechtsverträglich sind,
muss endlich laut und deutlich gestellt werden. Die Beweispflicht obliegt
jenen, die behaupten, Freiheitsrechte müssten eingeschränkt werden, um mehr
Sicherheit zu erlangen.
·
Es stellt sich generell die
Frage, ob und inwieweit sich auf dem Hintergrund einer veränderten Gefahrenlage
das Verhältnis von notwendigen Eingriffen und zu schützenden Individualrechten
tatsächlich verschoben hat. Wenn das so sein sollte, muss die Frage beantwortet
werden, wo die Grenzen verlaufen und welche Konsequenzen eine Grenzverschiebung
für eine liberal-rechtsstaatliche Demokratie und für die Situation der
Bürgerrechte haben kann.
·
Die Anschlagsserie hat wieder
einmal deutlich gemacht, wie verletzlich hochtechnisierte Risikogesellschaften
sind. Spätestens seit Tschernobyl sollte uns diese Tatsache eigentlich bewusst
sein. Es ist daher dem öffentlich zelebrierten Trugbild entgegenzutreten, dass
es in einer Risikogesellschaft absolute Sicherheit geben könne. Vor diesem
Hintergrund spricht es nicht gerade für politisch verantwortliches Handeln,
dass der demnächst anstehende Castor-Transport von La Hague nach Gorleben nicht
absagt wird, und stattdessen der Transport, wie zu befürchten, mit
Anti-Terror-Maßnahmen gesichert werden soll. Auch hinsichtlich der Sicherheit
von Atomkraftwerken ist es höchste Zeit, umzudenken und Konsequenzen zu ziehen.
Jahrzehntelange Ausstiegszeiten könnten sich als fatal erweisen.
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Zusammenfassend ist festzustellen: Die
Anschlagsserie in den USA gilt vielen Politikern von CDU, SPD und Grünen als
Angriff gegen die Demokratie, gegen Freiheit und die offene Gesellschaft
schlechthin. Doch die staatlichen Reaktionen auf diese Terroranschläge könnten,
so ist zu befürchten, wesentlich größeren und nachhaltigeren Schaden an
Demokratie, Freiheit und Bürgerrechten anrichten, als es die Anschläge selbst
vermochten.
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer
Berater (u.a. der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im niedersächsischen Landtag).
Verfasser des von acht Bürgerrechtsorganisationen herausgegebenen Memorandums
in Sachen Menschen- und Bürgerrechte (”Umsteuern in der Politik der ‘Inneren
Sicherheit’, ”Frankfurter Rundschau” vom 14.10.98). Autor zahlreicher Bücher
zum Themenspektrum ”Innere Sicherheit” und Bürgerrechte; zuletzt: ”Erste
Rechts-Hilfe - Rechts- und Verhaltenstips im Umgang mit Polizei, Justiz und
Geheimdiensten, Göttingen 1999; ”‘Big Brother‘ & Co. – Der moderne
Überwachungsstaat in der Informationsgesellschaft”, Hamburg 2000.