© Rolf Gössner
»Verfassungsschutz« im Aufwind?
Neue „Sicherheitsarchitektur“ bedroht Demokratie und Bürgerrechte
Der
»Verfassungsschutz« (VS) hat seit der Aufdeckung der NSU-Mordserie Ende 2011 endlich
so ziemlich alles an Renommee eingebüßt, was er als so genanntes Sicherheitsorgan
zumindest in bestimmten politischen Kreisen noch hatte. Als Publizist hatte ich
jedoch bereits vor zehn Jahren vieles von dem recherchiert und in meinem Buch »Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes:
Kriminelle im Dienst des Staates« (München 2003) anhand geheimer Unterlagen
und als Fallstudien dokumentiert, was heute so großes Erstaunen und Entsetzen
verursacht. Deshalb sah ich mich, nachdem die Nazi-Mordserie ohne Zutun von VS
und Polizei bekannt geworden war, von heute auf morgen einem gesteigerten
medialen Interesse ausgesetzt – diesmal als »Geheimdienstexperte«, der intime
Kenntnisse über die klandestine VS-Arbeit besitzt und der schon lange vor
Bekanntwerden der Neonazi-Mordserie die heillosen Verflechtungen des VS in
gewaltbereite Neonaziszenen aufgedeckt und das V-Leute-System als
unkontrollierbar und demokratiewidrig kritisiert hatte. Und allmählich wurde
selbst das »Undenkbare« wieder diskutabel und gesellschaftsfähig: Was nichts
nützt und nur schadet, gehört aufgelöst – »Verfassungsschutz« a. D.?
Tarnname »Verfassungsschutz«: Geheimhaltungssystem mit fatalen Folgen
Tatsächlich
glauben angesichts der VS-Verwicklungen und -Vertuschungen immer weniger
Menschen an das Märchen vom »Verfassungsschutz«, der Demokratie und Verfassung
schütze. Immer mehr Menschen scheinen zu erkennen, dass der VS nicht nur durch
seine Pannen und Skandale, sondern schon durch sein reguläres Wirken der politischen
Kultur mehr geschadet hat, als er vorgeblich der Verfassung und einer noch
recht eingeschränkten Demokratie nützt. Der im Kalten Krieg geprägte, antikommunistische,
skandalgeneigte und intransparente Inlandsgeheimdienst hat seine eigene altnazistische
Vergangenheit bis heute nicht aufgearbeitet, hat im Kampf gegen Nazismus versagt,
gefährdet Verfassung und Demokratie und ist demokratisch nicht kontrollierbar.
Gerade in ihrer
Ausgestaltung als Inlandsgeheimdienste – die den euphemistischen Tarnnamen
»Verfassungsschutz« tragen – sind die 17 VS-Behörden des Bundes und der Länder
selbst demokratiewidrige Institutionen. Warum? Weil sie mit ihren geheimen
Strukturen und Methoden demokratischen Prinzipien der Transparenz und
Kontrollierbarkeit widersprechen. Dabei umschlingt das Geheimhaltungssystem des
VS schließlich auch Justiz und Parlamente, die den VS kontrollieren sollen. Die
reguläre parlamentarische Kontrolle in Bund und Ländern erfolgt ihrerseits strikt
geheim. Und Gerichtsprozesse, in denen etwa V-Leute eine Rolle spielen, werden tendenziell
zu rechtsstaatswidrigen Geheimverfahren. Da werden – aus Gründen des »Quellenschutzes«,
des »Staatswohls« oder der »Ausforschungsgefahr« – Akten manipuliert, Zeugen
gesperrt oder nur mit beschränkten Aussagegenehmigungen versehen. Die Vertuschungs-
und Aktenschredder-Aktionen, wie wir sie inzwischen geballt erleben mussten,
sind für diese Verdunkelungsstrategien des VS symptomatisch, ja für einen
Geheimdienst geradezu systemrelevant. »Quellenschutz« geht da schon mal vor Mordaufklärung.
Spätestens mit
den neueren Skandalen und Enthüllungen hat der VS seine von Anfang an
zweifelhafte Legitimation vollends verspielt. Als nachrichtendienstliches
»Frühwarnsystem«, das er eigentlich sein soll und will, hat er grandios
versagt. Aber nicht nur das: Über seine bezahlten Spitzel hat der VS die Neonazi-Szenen
und -Parteien sogar mitfinanziert, rassistisch geprägt, gegen polizeiliche
Ermittlungen geschützt und gestärkt, anstatt sie zu schwächen. Mit seinem
kriminellen und gefährlichen V-Leute-System ist der VS selbst zum aktiven und
integralen Bestandteil des Neonazi-Problems geworden, jedenfalls konnte er kaum
etwas zu dessen Lösung oder Bekämpfung beitragen.
VS-Reformen: ungenügend, kontraproduktiv & gefährlich
Solche
Geheimorgane neigen zu Verselbständigung, Willkür und Machtmissbrauch. Tatsächlich
lässt sich die über 62jährige VS-Geschichte auch als Geschichte von Skandalen
und Bürgerrechtsverletzungen schreiben. Doch wie steht es nach den jüngsten
Mega-Skandalen um die plausible, wieder denkbar gewordene Forderung nach
Auflösung des VS? Selbst der VS diagnostiziert einen
„Modernisierungsstau“; und der neue Präsident des Bundesamts, Hans Georg Maaßen,
möchte mithilfe von „Querdenkern“ ausgetrampelte Pfade verlassen und Alternativhypothesen
entwickeln – dies alles, mit Sicherheit, eher zur Rettung der Institution, als
zu deren Auflösung. Nur die Linkspartei plädiert für eine solch klare
Lösung. Die Bündnisgrünen fordern zwar eine Auflösung, aber auch Neuaufbau und
Neustrukturierung der Inlandsaufklärung.
Sämtliche
sonstigen Reformvorschläge aus dem parlamentarischen Raum greifen wesentlich zu
kurz, weil sie sich nicht an die problematischen Geheimstrukturen wagen. Es
sind Pläne, die darauf abzielen, die Pannen- und Skandalträchtigkeit
geheimdienstlicher Arbeit zu verringern und die Effizienz zu steigern, um »bessere« Geheimdienste zu erhalten – obwohl Pannen und Skandale systembedingt
sind und die Effizienz, schon aus Geheimhaltungsgründen, auch künftig kaum messbar
sein wird. Demokratie- und Bürgerrechtsverträglichkeit spielen bei diesen Reformplänen
jedenfalls kaum eine Rolle – in erster Linie geht es darum, das reichlich ramponierte
Ansehen des VS zu verbessern.
1. So ist etwa
die besänftigende Ankündigung, künftig mehr
Transparenz schaffen und die Kontrolle über den VS verbessern zu wollen,
von vornherein zum Scheitern verurteilt: Denn bloße Kontrollverbesserungen
rühren nicht an die Geheimstrukturen, sondern legitimieren diese zusätzlich und
werden letztlich daran scheitern. Ein Geheimdienst wird sich, auch mit
erweiterten Kontrollkompetenzen, niemals wirksam kontrollieren lassen, ohne
seinen Geheimdienstcharakter zu verlieren. Ein transparenter, voll
kontrollierbarer Geheimdienst ist und bleibt ein Widerspruch in sich – trotz aller
verstärkter Anstrengung, den VS in die Gesellschaft hinein zu öffnen und zusätzlich
mit einem politischen Bildungsauftrag auszustatten.
Seit geraumer
Zeit macht der VS einen gehörigen Wandel durch und betreibt – verstärkt nach
seinem grandiosen Image- und Vertrauensverlust – eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, nicht zuletzt aus Akzeptanz- und
Legitimationsgründen: so etwa mit Hilfe von kostenfreien Wanderausstellungen,
Broschüren, Veranstaltungen und Vorträgen zu »Extremismus«-Themen aller Art. Er
mischt sich meinungsbildend in den öffentlichen Diskurs und die politische
Willensbildung ein und munitioniert dabei auch massiv die Medien; mehr und mehr
wirkt er hinein in zivilgesellschaftliche Projekte sowie in Schulen und Hochschulen,
Bildung, Wissenschaft und Forschung.
Diese ideologische Beeinflussung zivilgesellschaftlicher
Institutionen ist eine inakzeptable Kompetenzüberschreitung. Denn der VS
ist und bleibt ein Geheimdienst mit klandestinen Strukturen und Methoden, der nun
parallel hierzu meinungsbildend, dabei auch desinformierend in die pädagogische
Weiterbildung eingreift. Politische Bildungsarbeit, die ihrem Namen und Auftrag
etwa zur Demokratie- und Menschenrechtsbildung gerecht wird, muss demgegenüber
gerade frei, kritisch und weitgehend staatsunabhängig sein. Ein Inlandsgeheimdienst
hat hier jedenfalls nichts zu suchen und aus gutem Grund gibt es für solch geheimdienstliche
Bildungsmaßnahmen – über bloße Information der Öffentlichkeit hinaus - auch
keine Gesetzesgrundlage.
2. Die neueren
Pläne und Maßnahmen zur Reform des VS treiben im Kern die Zentralisierung und Vernetzung aller Sicherheitsbehörden voran und
zielen darauf ab, den geheimdienstlichen Wildwuchs ein wenig zu beschneiden.
Beispiel: das zentrale V-Leute-Register und die Qualifizierung von V-Leuten. Zum
einen sollen für Auswahl und Führung von V-Leuten bundeseinheitliche Standards gelten;
zum anderen soll das V-Leute-Unwesen nicht mehr allein föderal betrieben
werden, sondern Bund und Länder sollen sich über ihre V-Leute-Einsätze zentral
austauschen, um sie besser kanalisieren, nicht etwa koordinieren, zu können. Denn
in der geplanten V-Leute-Zentraldatei sollen keine Klarnamen enthalten sein, sondern
nur die Tarnnamen, so dass keine Identifizierung der eingesetzten V-Leute möglich
sein wird.
All diese
Vorhaben und Maßnahmen werden nichts daran ändern, dass V-Leute aus gewaltgeneigten
Naziszenen eben keine »Agenten« des demokratischen Rechtsstaates sind, sondern
staatlich alimentierte Naziaktivisten – zumeist gnadenlose Rassisten und Gewalttäter,
über die sich der VS zwangsläufig in kriminelle Machenschaften verstrickt;
nichts wird sich daran ändern, dass mühsam rekrutierte, kriminell gewordene
V-Leute, wie bislang schon, von den führenden VS-Behörden selbst gegen
polizeiliche Ermittlungsmaßnahmen abgeschirmt werden, um sie langfristig halten
und weiter abschöpfen zu können; es wird sich wohl auch nichts daran ändern, dass
sich V-Leute verschiedener VS-Behörden gegenseitig zu Straftaten verabreden,
nicht wissend, dass der jeweils andere ebenfalls V-Mann ist. Das V-Leute-System
wird also auch weiterhin geheim, kriminell und selbstreferenziell bleiben und jeden
Ansatz einer demokratischen Kontrolle ins Leere laufen lassen.
3. Die
offiziellen Vorschläge greifen allesamt nicht nur zu kurz, sie sind auch
kontraproduktiv, gefährlich und verschärfen die Lage zusätzlich – insbesondere
dann, wenn der VS noch gestärkt, zentralisiert und mit neuen Befugnissen ausgestattet
und der behördliche Informationsaustausch zwischen VS und Polizei institutionalisiert
und intensiviert wird: So etwa in gemeinsamen
Abwehrzentren oder zentralen Verbunddateien, wie sie bereits installiert
worden sind und von Geheimdiensten und Polizei gemeinsam genutzt werden. Damit
werden Polizei und der Inlandsgeheimdienst »Verfassungsschutz« auf problematische
Weise vernetzt und verzahnt.
Auf-
und Nachrüstung als „Konsequenz“ aus NSU-Skandal und Staatsversagen?
Die herrschende
Sicherheitspolitik tut gerade so, als habe die skandalöse Nichtermittlung des
rassistischen Hintergrundes der NSU-Mordserie an fehlenden Befugnissen und Kooperationsmöglichkeiten
gelegen, die man den Sicherheitsorganen jetzt endlich zugestehen müsse. Nach allem,
was man weiß, kann man demgegenüber gerade nicht etwa von solchen Defiziten,
nicht nur von Pannen oder Konfusion des polizeilichen Staats- und geheimdienstlichen
Verfassungsschutzes sprechen, vielmehr in hohem Maße von ideologischen
Scheuklappen der Sicherheitsorgane, von Ignoranz und systematischer
Verharmlosung des neonazistischen Spektrums – begünstigt auch durch eine
jahrzehntelang einseitig ausgerichtete Politik der „Inneren Sicherheit“ auf den
so genannten Linksextremismus, Ausländerextremismus und Islamismus.
Tatsächlich gab
es Befugnisse, Ermittlungs- und Kooperationsmöglichkeiten bislang schon mehr
als genug – nach jahrelanger Aufrüstung im Zuge staatlicher „Antiterrorbekämpfung“
und etwa im Rahmen der Gewalttäter-Verbunddatei „Rechts“, der Zentraldatei
„rechtsextremistische Kameradschaften“ sowie der „Informationsgruppe zur
Beobachtung und Bekämpfung rechtsextremistischer/-terroristischer, insbesondere
fremdenfeindlicher Gewaltakte“ (IGR). Solche ressortübergreifenden
Kooperationsprojekte gibt es bereits seit Beginn der 1990er Jahre - und es ist
zu fragen, was diese Projekte eigentlich seitdem mit welchen Resultaten bewirkt
haben.
Als Reaktion
auf die Neonazi-Mordserie und als „Konsequenz“ aus dem Ermittlungsversagen der
Sicherheitsbehörden wurde 2012 das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus
(GAR) eingerichtet. Dem Vorbild des Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrums
zur Bekämpfung des „islamistischen Terrorismus“ in Berlin-Treptow folgend arbeiten
im GAR die Bundes- und Landeskriminalämter, die VS-Behörden des Bundes und der
Länder, Bundesnachrichtendienst (BND) und Militärischer Abschirmdienst (MAD) sowie
die Bundesanwaltschaft und Europol zusammen – insgesamt 40 Behörden mit bis zu 140 Behördenvertretern, davon jeweils mindestens 50
Kräfte vom Bundeskriminalamt (BKA) und VS.
Das GAR soll
die Kooperation und Koordination der Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung von
Rechtsextremismus/-terrorismus verbessern sowie den Informationsaustausch
zwischen den polizeilichen und nachrichtendienstlichen
Sicherheitsstellen aus Bund und Ländern bündeln. Die so gewonnenen und zusammengeführten
Informationen sollen „schnell und
ausgerichtet auf die Umsetzung von operativen Maßnahmen“ aufbereitet werden,
so das Bundesinnenministerium (6.02.12) – das bedeutet, dass auf dieser
Grundlage gegen Verdächtige mit geheimdienstlichen oder polizeilich-repressiven
Maßnahmen vorgegangen werden kann.
Inzwischen ist
GAR auf weitere "Phänomenbereiche" ausgedehnt und zum „Gemeinsamen
Extremismus- und Terrorismus-Abwehrzentrum“ (GETZ) erweitert worden.
Nun wird also ressortübergreifend außer "Rechtsextremismus/-terrorismus"
vor allem die Ausforschung von "Linksextremismus/-terrorismus" und
„Ausländerextremismus“ betrieben.
Die Gemeinsame
zentrale Verbunddatei „gewaltbezogener Rechtsextremismus“ von Polizei
und VS ist 2012 parallel zu der bereits seit 2007 bestehenden gemeinsamen
Antiterror-Verbunddatei „islamistischer Terrorismus“ eingerichtet worden. Die
neue Verbunddatei wird von allen bundesdeutschen Polizeien und Geheimdiensten
des Bundes – mit Ausnahme des BND - und der Länder bestückt und genutzt. In
dieser Datei werden allerdings nicht nur rechtskräftig verurteilte Gewalttäter
oder Personen mit klarem Gewaltbezug gespeichert, sondern auch mutmaßlich
Rechtsextreme, die lediglich aufgrund geheimdienstlicher Vorfelderkenntnisse
als gewalttätig oder gewaltbereit eingestuft werden. Es handelt sich also im
Kern um eine Präventivdatei mit Daten von Verdächtigen. Erfasst werden dabei
auch Kontaktpersonen, die (nicht nur flüchtige) Kontakte zu gewaltbereiten
Neonazis halten. Insgesamt sollen etwa 10.000 Datenprofile zusammengeführt und
in die Verbunddatei eingestellt werden.
4. Mit verstärkter Ämterverquickung und gemeinsamen Datenpools von Polizei und
Geheimdiensten erfährt die exekutive Staatsgewalt eine weitere problematische
Entgrenzung. Solche Zusammenführungsreformen höhlen – trotz anders lautender Beteuerungen,
trotz eingebauter Hürden – föderale Strukturen aus und verletzen das
verfassungskräftige Gebot der Trennung von Geheimdiensten und Polizei. Danach müssen
diese Sicherheitsbehörden strikt voneinander getrennt sein und auch prinzipiell
getrennt arbeiten – immerhin eine historisch bedeutsame Konsequenz aus den
bitteren Erfahrungen mit Reichssicherheitshauptamt und Gestapo der Nazizeit,
die zentralistisch sowie geheimdienstlich und zugleich exekutiv-vollziehend
tätig waren. Mit dem Trennungsgebot sollte eine unkontrollierbare und damit undemokratische
Machtkonzentration der Sicherheitsbehörden sowie eine neue Geheimpolizei von
vornherein verhindert werden. Mit den neuen Abwehrzentren und der Verbunddatei
entsteht nun die Gefahr, dass Geheimdienste tendenziell zum verlängerten
nachrichtendienstlichen Arm der Polizei mutieren und diese zum verlängerten Exekutiv-Arm
der Geheimdienste. So wächst mehr und mehr zusammen, was nicht zusammen gehört,
werden wichtige demokratische Lehren aus der deutschen Geschichte vollends entsorgt,
wird einer fatalen Machtkonzentration Vorschub geleistet.
Auflösung eines demokratiewidrigen Geheimorgans
als gangbarer Ausweg
Es ist absurd,
wie ausgerechnet eine der größten bundesdeutschen Staats- und »Verfassungsschutz«-Krisen,
wie selbst das ideologisch und strukturell bedingte Versagen der VS-Behörden im
Zusammenhang mit den NSU-Morden von Innenministern und –politikern reflexartig
und populistisch dazu genutzt wird, weitere Nachrüstungsmaßnahmen für solche
Versager- und Skandalbehörden durchzusetzen – und damit auch noch im Kampf
gegen den Neonazismus demokratie-unverträgliche Strukturen auszubauen, die
aufgrund der Erfahrungen mit der Nazizeit gerade verhindert werden sollten.
Der tödlichen
Bedrohung durch Neonazis kann auch mit weiterer technischer Aufrüstung und
institutioneller Verquickung kaum wirksam begegnet werden, schon gar nicht, solange
die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder ihre ideologischen Scheuklappen
nicht ablegen, das neonazistische Spektrum verharmlosen und den rassistischen
Hintergrund von schweren Straftaten nicht zur Kenntnis nehmen wollen; solange
der VS bundesweit mit seinem kriminellen V-Leute-System heillos in
Neonazi-Szenen verstrickt ist, sie mitfinanziert und Erkenntnisse über mögliche
Verbrechen für sich behält; und solange die Tatsache ignoriert wird, dass Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit weit in die Mitte der Gesellschaft reichen und eben
auch weit hinein in staatliche Institutionen wie Polizei und »Verfassungsschutz«.
Wer die problematischen Folgen von nachrichtendienstlichen
Mitteln und Methoden nicht hinnehmen will, wer die mit geheimer Tätigkeit
zwangsläufig verbundene Abschottung und Eigenmächtigkeit der Geheimdienste für
freiheitsschädigend hält und unvereinbar mit einer rechtsstaatlich verfassten,
freiheitlichen und offenen Demokratie, muss den VS-Behörden die
nachrichtendienstlichen Methoden versagen - und damit die Lizenz zur Gesinnungskontrolle,
zum Schnüffeln und Infiltrieren „verdächtiger“ Szenen und Parteien, also auch
zum Rekrutieren und Führen von V-Leuten. Solchen Überlegungen steht nicht etwa
das Grundgesetz entgegen und auch keine Landesverfassung, denn danach muss der »Verfassungsschutz«
keineswegs als Geheimdienst ausgestaltet sein. Gut ausgestattete, unabhängige
und öffentlich kontrollierbare Dokumentations- und Forschungszentren würden die
Rechtsentwicklung der Gesellschaft und die Bedrohungen für die Verfassung ohne
gefährliche Methoden erforschen und erklären können, mit wesentlich besseren
diagnostisch-analytischen Fähigkeiten. Alles andere ist Sache von Politik und
Zivilgesellschaft, im Fall von Straftaten und Gewalt Sache von Polizei und
Justiz, deren Wirken jedoch unbedingt einer kritischen und unabhängigen Beobachtung
und Kontrolle zu unterziehen ist.
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Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und Vizepräsident
der Internationalen Liga für Menschenrechte (Berlin), stellv. Richter am
Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, Mitglied der Deputation für Inneres
der Bremischen Bürgerschaft. Mitherausgeber des jährlich erscheinenden "Grundrechte-Reports",
als solcher ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille 2008; des Weiteren mit
dem Kölner Karlspreis für engagierte Literatur und Publizistik 2012 und dem Bremer
Kultur- und Friedenspreis 2013. Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren von
Bundestag und Landtagen. Internet: www.rolf-goessner.de
. Autor zahlreicher Bücher zum Themenbereich Demokratie, Innere Sicherheit und
Bürgerrechte, zuletzt:
• Geheime Informanten. V-Leute des
Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates, München 2003; akt.
Neuauflage als e-book 2012 bei Knaur-Verlag, München. Direktlink: http://bit.ly/J8XWNC
• Menschenrechte in Zeiten des Terrors.
Kollateralschäden an der „Heimatfront“, Hamburg 2007.
Literaturauswahl
Claus Leggewie/Horst
Meier,
Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der
Berliner Republik, Berlin 2012
Mark
Holzberger und Albrecht Maurer, Blick zurück nach vorn! Für eine Neubelebung
der Debatte um die Geheimdienste, in: Bürgerrechte und Polizei – CILIP, Heft
100 (3/2011) S. 76 - 87
Heiner
Busch und Norbert Pütter, Geheimdienste abschaffen! Eine Replik auf Mark Holzberger
und Albrecht Maurer in: Bürgerrechte und Polizei – CILIP, Heft 100 (3/2011) s.
88 – 82
Rolf
Gössner,
Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des
Staates, e-book bei Droemer-Knaur, München 2012 (akt. Neuauflage der Erstausgabe
von 2003). Direktlink: http://amzn.to/HQcOU2
Rolf
Gössner,
Kontra „Verfassungsschutz“: Ein Fremdkörper in der Demokratie, in: Frankfurter
Rundschau 4.09.2012.
Heribert
Prantl,
Wer schützt die Verfassung vor dem Verfassungsschutz. Eine Anklage.
Neobooks-aktuell 2012
Winfried
Ridder,
Verfassung ohne Schutz. Die Niederlagen der Geheimdienste im
Kampf gegen den Terrorismus, München 2013
„Wie viel
und welchen Schutz brauchen in der Verfassung verankerte Grund- und
Menschenrechte?“
Dokumentation der Anhörung der Fraktion Die Linke im Thüringer Landtag am
8.06.2012 in Erfurt.
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. Nachdruck nur mit vorherigem Einverständnis von Autor/Verlag und Herausgeber.