Aus: Bodo Ramelow (Hrsg.),
Schreddern, Spitzeln, Staatsversagen.
Wie rechter Terror, Behördenkumpanei und Rassismus aus der Mitte zusammengehen
240 S. | 2013 | Euro 12.80 -
ISBN 978-3-89965-550-6

© Rolf Gössner

»Verfassungsschutz« im Aufwind?

Neue „Sicherheitsarchitektur“ bedroht Demokratie und Bürgerrechte

Der »Verfassungsschutz« (VS) hat seit der Aufdeckung der NSU-Mordserie Ende 2011 endlich so ziemlich alles an Renommee eingebüßt, was er als so genanntes Sicherheitsorgan zumindest in bestimmten politischen Kreisen noch hatte. Als Publizist hatte ich jedoch bereits vor zehn Jahren vieles von dem recherchiert und in meinem Buch »Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des Staates« (München 2003) anhand geheimer Unterlagen und als Fallstudien dokumentiert, was heute so großes Erstaunen und Entsetzen verursacht. Deshalb sah ich mich, nachdem die Nazi-Mordserie ohne Zutun von VS und Polizei bekannt geworden war, von heute auf morgen einem gesteigerten medialen Interesse ausgesetzt – diesmal als »Geheimdienstexperte«, der intime Kenntnisse über die klandestine VS-Arbeit besitzt und der schon lange vor Bekanntwerden der Neonazi-Mordserie die heillosen Verflechtungen des VS in gewaltbereite Neonaziszenen aufgedeckt und das V-Leute-System als unkontrollierbar und demokratiewidrig kritisiert hatte. Und allmählich wurde selbst das »Undenkbare« wieder diskutabel und gesellschaftsfähig: Was nichts nützt und nur schadet, gehört aufgelöst – »Verfassungsschutz« a. D.?

Tarnname »Verfassungsschutz«: Geheimhaltungssystem mit fatalen Folgen

Tatsächlich glauben angesichts der VS-Verwicklungen und -Vertuschungen immer weniger Menschen an das Märchen vom »Verfassungsschutz«, der Demokratie und Verfassung schütze. Immer mehr Menschen scheinen zu erkennen, dass der VS nicht nur durch seine Pannen und Skandale, sondern schon durch sein reguläres Wirken der politischen Kultur mehr geschadet hat, als er vorgeblich der Verfassung und einer noch recht eingeschränkten Demokratie nützt. Der im Kalten Krieg geprägte, antikommunistische, skandalgeneigte und intransparente Inlandsgeheimdienst hat seine eigene altnazistische Vergangenheit bis heute nicht aufgearbeitet, hat im Kampf gegen Nazismus versagt, gefährdet Verfassung und Demokratie und ist demokratisch nicht kontrollierbar.

Gerade in ihrer Ausgestaltung als Inlandsgeheimdienste – die den euphemistischen Tarnnamen »Verfassungsschutz« tragen – sind die 17 VS-Behörden des Bundes und der Länder selbst demokratiewidrige Institutionen. Warum? Weil sie mit ihren geheimen Strukturen und Methoden demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widersprechen. Dabei umschlingt das Geheimhaltungssystem des VS schließlich auch Justiz und Parlamente, die den VS kontrollieren sollen. Die reguläre parlamentarische Kontrolle in Bund und Ländern erfolgt ihrerseits strikt geheim. Und Gerichtsprozesse, in denen etwa V-Leute eine Rolle spielen, werden tendenziell zu rechtsstaatswidrigen Geheimverfahren. Da werden – aus Gründen des »Quellenschutzes«, des »Staatswohls« oder der »Ausforschungsgefahr« – Akten manipuliert, Zeugen gesperrt oder nur mit beschränkten Aussagegenehmigungen versehen. Die Vertuschungs- und Aktenschredder-Aktionen, wie wir sie inzwischen geballt erleben mussten, sind für diese Verdunkelungsstrategien des VS symptomatisch, ja für einen Geheimdienst geradezu systemrelevant. »Quellenschutz« geht da schon mal vor Mordaufklärung.

Spätestens mit den neueren Skandalen und Enthüllungen hat der VS seine von Anfang an zweifelhafte Legitimation vollends verspielt. Als nachrichtendienstliches »Frühwarnsystem«, das er eigentlich sein soll und will, hat er grandios versagt. Aber nicht nur das: Über seine bezahlten Spitzel hat der VS die Neonazi-Szenen und -Parteien sogar mitfinanziert, rassistisch geprägt, gegen polizeiliche Ermittlungen geschützt und gestärkt, anstatt sie zu schwächen. Mit seinem kriminellen und gefährlichen V-Leute-System ist der VS selbst zum aktiven und integralen Bestandteil des Neonazi-Problems geworden, jedenfalls konnte er kaum etwas zu dessen Lösung oder Bekämpfung beitragen.

VS-Reformen: ungenügend, kontraproduktiv & gefährlich

Solche Geheimorgane neigen zu Verselbständigung, Willkür und Machtmissbrauch. Tatsächlich lässt sich die über 62jährige VS-Geschichte auch als Geschichte von Skandalen und Bürgerrechtsverletzungen schreiben. Doch wie steht es nach den jüngsten Mega-Skandalen um die plausible, wieder denkbar gewordene Forderung nach Auflösung des VS? Selbst der VS diagnostiziert einen „Modernisierungsstau“; und der neue Präsident des Bundesamts, Hans Georg Maaßen, möchte mithilfe von „Querdenkern“ ausgetrampelte Pfade verlassen und Alternativhypothesen entwickeln – dies alles, mit Sicherheit, eher zur Rettung der Institution, als zu deren Auflösung. Nur die Linkspartei plädiert für eine solch klare Lösung. Die Bündnisgrünen fordern zwar eine Auflösung, aber auch Neuaufbau und Neustrukturierung der Inlandsaufklärung.

Sämtliche sonstigen Reformvorschläge aus dem parlamentarischen Raum greifen wesentlich zu kurz, weil sie sich nicht an die problematischen Geheimstrukturen wagen. Es sind Pläne, die darauf abzielen, die Pannen- und Skandalträchtigkeit geheimdienstlicher Arbeit zu verringern und die Effizienz zu steigern, um »bessere« Geheimdienste zu erhalten – obwohl Pannen und Skandale systembedingt sind und die Effizienz, schon aus Geheimhaltungsgründen, auch künftig kaum messbar sein wird. Demokratie- und Bürgerrechtsverträglichkeit spielen bei diesen Reformplänen jedenfalls kaum eine Rolle – in erster Linie geht es darum, das reichlich ramponierte Ansehen des VS zu verbessern.

1. So ist etwa die besänftigende Ankündigung, künftig mehr Transparenz schaffen und die Kontrolle über den VS verbessern zu wollen, von vornherein zum Scheitern verurteilt: Denn bloße Kontrollverbesserungen rühren nicht an die Geheimstrukturen, sondern legitimieren diese zusätzlich und werden letztlich daran scheitern. Ein Geheimdienst wird sich, auch mit erweiterten Kontrollkompetenzen, niemals wirksam kontrollieren lassen, ohne seinen Geheimdienstcharakter zu verlieren. Ein transparenter, voll kontrollierbarer Geheimdienst ist und bleibt ein Widerspruch in sich – trotz aller verstärkter Anstrengung, den VS in die Gesellschaft hinein zu öffnen und zusätzlich mit einem politischen Bildungsauftrag auszustatten.

Seit geraumer Zeit macht der VS einen gehörigen Wandel durch und betreibt – verstärkt nach seinem grandiosen Image- und Vertrauensverlust – eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, nicht zuletzt aus Akzeptanz- und Legitimationsgründen: so etwa mit Hilfe von kostenfreien Wanderausstellungen, Broschüren, Veranstaltungen und Vorträgen zu »Extremismus«-Themen aller Art. Er mischt sich meinungsbildend in den öffentlichen Diskurs und die politische Willensbildung ein und munitioniert dabei auch massiv die Medien; mehr und mehr wirkt er hinein in zivilgesellschaftliche Projekte sowie in Schulen und Hochschulen, Bildung, Wissenschaft und Forschung.

Diese ideologische Beeinflussung zivilgesellschaftlicher Institutionen ist eine inakzeptable Kom­petenzüberschreitung. Denn der VS ist und bleibt ein Geheimdienst mit klandestinen Strukturen und Methoden, der nun parallel hierzu meinungsbildend, dabei auch desinformierend in die pädagogische Weiterbildung eingreift. Politische Bildungsarbeit, die ihrem Namen und Auftrag etwa zur Demokratie- und Menschenrechtsbildung gerecht wird, muss demgegenüber gerade frei, kritisch und weitgehend staatsunabhängig sein. Ein Inlandsgeheimdienst hat hier jedenfalls nichts zu suchen und aus gutem Grund gibt es für solch geheimdienstliche Bildungsmaßnahmen – über bloße Information der Öffentlichkeit hinaus - auch keine Gesetzesgrundlage.

2. Die neueren Pläne und Maßnahmen zur Reform des VS treiben im Kern die Zentralisierung und Vernetzung aller Sicherheitsbehörden voran und zielen darauf ab, den geheimdienstlichen Wildwuchs ein wenig zu beschneiden. Beispiel: das zentrale V-Leute-Register und die Qualifizierung von V-Leuten. Zum einen sollen für Auswahl und Führung von V-Leuten bundeseinheitliche Standards gelten; zum anderen soll das V-Leute-Unwesen nicht mehr allein föderal betrieben werden, sondern Bund und Länder sollen sich über ihre V-Leute-Einsätze zentral austauschen, um sie besser kanalisieren, nicht etwa koordinieren, zu können. Denn in der geplanten V-Leute-Zentraldatei sollen keine Klarnamen enthalten sein, sondern nur die Tarnnamen, so dass keine Identifizierung der eingesetzten V-Leute möglich sein wird.

All diese Vorhaben und Maßnahmen werden nichts daran ändern, dass V-Leute aus gewaltgeneigten Naziszenen eben keine »Agenten« des demokratischen Rechtsstaates sind, sondern staatlich alimentierte Naziaktivisten – zumeist gnadenlose Rassisten und Gewalttäter, über die sich der VS zwangsläufig in kriminelle Machenschaften verstrickt; nichts wird sich daran ändern, dass mühsam rekrutierte, kriminell gewordene V-Leute, wie bislang schon, von den führenden VS-Behörden selbst gegen polizeiliche Ermittlungsmaßnahmen abgeschirmt werden, um sie langfristig halten und weiter abschöpfen zu können; es wird sich wohl auch nichts daran ändern, dass sich V-Leute verschiedener VS-Behörden gegenseitig zu Straftaten verabreden, nicht wissend, dass der jeweils andere ebenfalls V-Mann ist. Das V-Leute-System wird also auch weiterhin geheim, kriminell und selbstreferenziell bleiben und jeden Ansatz einer demokratischen Kontrolle ins Leere laufen lassen.

3. Die offiziellen Vorschläge greifen allesamt nicht nur zu kurz, sie sind auch kontraproduktiv, gefährlich und verschärfen die Lage zusätzlich – insbesondere dann, wenn der VS noch gestärkt, zentralisiert und mit neuen Befugnissen ausgestattet und der behördliche Informationsaustausch zwischen VS und Polizei institutionalisiert und intensiviert wird: So etwa in gemeinsamen Abwehrzentren oder zentralen Verbunddateien, wie sie bereits installiert worden sind und von Geheimdiensten und Polizei gemeinsam genutzt werden. Damit werden Polizei und der Inlandsgeheimdienst »Verfassungsschutz« auf problematische Weise vernetzt und verzahnt.

Auf- und Nachrüstung als „Konsequenz“ aus NSU-Skandal und Staatsversagen?

Die herrschende Sicherheitspolitik tut gerade so, als habe die skandalöse Nichtermittlung des rassistischen Hintergrundes der NSU-Mordserie an fehlenden Befugnissen und Kooperationsmöglichkeiten gelegen, die man den Sicherheitsorganen jetzt endlich zugestehen müsse. Nach allem, was man weiß, kann man demgegenüber gerade nicht etwa von solchen Defiziten, nicht nur von Pannen oder Konfusion des polizeilichen Staats- und geheimdienstlichen Verfassungsschutzes sprechen, vielmehr in hohem Maße von ideologischen Scheuklappen der Sicherheitsorgane, von Ignoranz und systematischer Verharmlosung des neonazistischen Spektrums – begünstigt auch durch eine jahrzehntelang einseitig ausgerichtete Politik der „Inneren Sicherheit“ auf den so genannten Linksextremismus, Ausländerextremismus und Islamismus.

Tatsächlich gab es Befugnisse, Ermittlungs- und Kooperationsmöglichkeiten bislang schon mehr als genug – nach jahrelanger Aufrüstung im Zuge staatlicher „Antiterrorbekämpfung“ und etwa im Rahmen der Gewalttäter-Verbunddatei „Rechts“, der Zentraldatei „rechtsextremistische Kameradschaften“ sowie der „Informationsgruppe zur Beobachtung und Bekämpfung rechtsextremistischer/-terroristischer, insbesondere fremdenfeindlicher Gewaltakte“ (IGR). Solche ressortübergreifenden Kooperationsprojekte gibt es bereits seit Beginn der 1990er Jahre - und es ist zu fragen, was diese Projekte eigentlich seitdem mit welchen Resultaten bewirkt haben.

Als Reaktion auf die Neonazi-Mordserie und als „Konsequenz“ aus dem Ermittlungsversagen der Sicherheitsbehörden wurde 2012 das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus (GAR) eingerichtet. Dem Vorbild des Gemeinsamen Terrorismus-Abwehr­zentrums zur Bekämpfung des „islamistischen Terrorismus“ in Berlin-Treptow folgend arbeiten im GAR die Bundes- und Landeskriminalämter, die VS-Behörden des Bundes und der Länder, Bundesnachrichtendienst (BND) und Militärischer Abschirmdienst (MAD) sowie die Bundesanwaltschaft und Europol zusammen – insgesamt 40 Behörden mit bis zu 140 Behördenvertretern, davon jeweils mindestens 50 Kräfte vom Bundeskriminalamt (BKA) und VS.

Das GAR soll die Kooperation und Koordination der Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus/-terrorismus verbessern sowie den Informationsaustausch zwischen den polizeilichen und nachrichtendienstlichen Sicherheitsstellen aus Bund und Ländern bündeln. Die so gewonnenen und zusammengeführten Informationen sollen „schnell und ausgerichtet auf die Umsetzung von operativen Maßnahmen“ aufbereitet werden, so das Bundesinnenministerium (6.02.12) – das bedeutet, dass auf dieser Grundlage gegen Verdächtige mit geheimdienstlichen oder polizeilich-repressiven Maßnahmen vorgegangen werden kann.

Inzwischen ist GAR auf weitere "Phänomenbereiche" ausgedehnt und zum „Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismus-Ab­wehrzentrum“ (GETZ) erweitert worden. Nun wird also ressortübergreifend außer "Rechtsextremismus/-terrorismus" vor allem die Ausforschung von "Linksextremismus/-terroris­mus" und „Ausländerextremismus“ betrieben.

Die Gemeinsame zentrale Verbunddatei „gewaltbezogener Rechtsextremismus“ von Polizei und VS ist 2012 parallel zu der bereits seit 2007 bestehenden gemeinsamen Antiterror-Verbunddatei „islamistischer Terrorismus“ eingerichtet worden. Die neue Verbunddatei wird von allen bundesdeutschen Polizeien und Geheimdiensten des Bundes – mit Ausnahme des BND - und der Länder bestückt und genutzt. In dieser Datei werden allerdings nicht nur rechtskräftig verurteilte Gewalttäter oder Personen mit klarem Gewaltbezug gespeichert, sondern auch mutmaßlich Rechtsextreme, die lediglich aufgrund geheimdienstlicher Vorfelderkenntnisse als gewalttätig oder gewaltbereit eingestuft werden. Es handelt sich also im Kern um eine Präventivdatei mit Daten von Verdächtigen. Erfasst werden dabei auch Kontaktpersonen, die (nicht nur flüchtige) Kontakte zu gewaltbereiten Neonazis halten. Insgesamt sollen etwa 10.000 Datenprofile zusammengeführt und in die Verbunddatei eingestellt werden.

4. Mit verstärkter Ämterverquickung und gemeinsamen Datenpools von Polizei und Geheimdiensten erfährt die exekutive Staatsgewalt eine weitere problematische Entgrenzung. Solche Zusammenführungsreformen höh­len – trotz anders lautender Beteuerungen, trotz eingebauter Hürden – föderale Strukturen aus und verletzen das verfassungskräftige Gebot der Trennung von Geheimdiensten und Polizei. Danach müssen diese Sicherheitsbehörden strikt voneinander getrennt sein und auch prinzipiell getrennt arbeiten – immerhin eine historisch bedeutsame Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit Reichssicherheitshauptamt und Gestapo der Nazizeit, die zentralistisch sowie geheimdienstlich und zugleich exekutiv-vollziehend tätig waren. Mit dem Trennungsgebot sollte eine unkontrollierbare und damit undemokratische Machtkonzentration der Sicherheitsbehörden sowie eine neue Geheimpolizei von vornherein verhindert werden. Mit den neuen Abwehrzentren und der Verbunddatei entsteht nun die Gefahr, dass Geheimdienste tendenziell zum verlängerten nachrichtendienstlichen Arm der Polizei mutieren und diese zum verlängerten Exekutiv-Arm der Geheimdienste. So wächst mehr und mehr zusammen, was nicht zusammen gehört, werden wichtige demokratische Lehren aus der deutschen Geschichte vollends entsorgt, wird einer fatalen Machtkonzentration Vorschub geleistet.

Auflösung eines demokratiewidrigen Geheimorgans als gangbarer Ausweg

Es ist absurd, wie ausgerechnet eine der größten bundesdeutschen Staats- und »Verfassungsschutz«-Krisen, wie selbst das ideologisch und strukturell bedingte Versagen der VS-Behörden im Zusammenhang mit den NSU-Morden von Innenministern und –politikern reflexartig und populistisch dazu genutzt wird, weitere Nachrüstungsmaßnahmen für solche Versager- und Skandalbehörden durchzusetzen – und damit auch noch im Kampf gegen den Neonazismus demokratie-unverträgliche Strukturen auszubauen, die aufgrund der Erfahrungen mit der Nazizeit gerade verhindert werden sollten.

Der tödlichen Bedrohung durch Neonazis kann auch mit weiterer technischer Aufrüstung und institutioneller Verquickung kaum wirksam begegnet werden, schon gar nicht, solange die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder ihre ideologischen Scheuklappen nicht ablegen, das neonazistische Spektrum verharmlosen und den rassistischen Hintergrund von schweren Straftaten nicht zur Kenntnis nehmen wollen; solange der VS bundesweit mit seinem kriminellen V-Leute-System heillos in Neonazi-Szenen verstrickt ist, sie mitfinanziert und Erkenntnisse über mögliche Verbrechen für sich behält; und solange die Tatsache ignoriert wird, dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit weit in die Mitte der Gesellschaft reichen und eben auch weit hinein in staatliche Institutionen wie Polizei und »Verfassungsschutz«.

Wer die problematischen Folgen von nachrichtendienstlichen Mitteln und Methoden nicht hinnehmen will, wer die mit geheimer Tätigkeit zwangsläufig verbundene Abschottung und Eigenmächtigkeit der Geheimdienste für freiheitsschädigend hält und unvereinbar mit einer rechtsstaatlich verfassten, freiheitlichen und offenen Demokratie, muss den VS-Behörden die nachrichtendienstlichen Methoden versagen - und damit die Lizenz zur Gesinnungskontrolle, zum Schnüffeln und Infiltrieren „verdächtiger“ Szenen und Parteien, also auch zum Rekrutieren und Führen von V-Leuten. Solchen Überlegungen steht nicht etwa das Grundgesetz entgegen und auch keine Landesverfassung, denn danach muss der »Verfassungsschutz« keineswegs als Geheimdienst ausgestaltet sein. Gut ausgestattete, unabhängige und öffentlich kontrollierbare Dokumentations- und Forschungszentren würden die Rechtsentwicklung der Gesellschaft und die Bedrohungen für die Verfassung ohne gefährliche Methoden erforschen und erklären können, mit wesentlich besseren diagnostisch-analytischen Fähigkeiten. Alles andere ist Sache von Politik und Zivilgesellschaft, im Fall von Straftaten und Gewalt Sache von Polizei und Justiz, deren Wirken jedoch unbedingt einer kritischen und unabhängigen Be­obachtung und Kontrolle zu unterziehen ist.

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Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte (Berlin), stellv. Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, Mitglied der Deputation für Inneres der Bremischen Bürgerschaft. Mitherausgeber des jährlich erscheinenden "Grundrechte-Reports", als solcher ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille 2008; des Weiteren mit dem Kölner Karlspreis für engagierte Literatur und Publizistik 2012 und dem Bremer Kultur- und Friedenspreis 2013. Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und Landtagen. Internet: www.rolf-goessner.de . Autor zahlreicher Bücher zum Themenbereich Demokratie, Innere Sicherheit und Bürgerrechte, zuletzt:

• Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates, München 2003; akt. Neuauflage als e-book 2012 bei Knaur-Verlag, München. Direktlink: http://bit.ly/J8XWNC  

• Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der „Heimatfront“, Hamburg 2007.

Literaturauswahl

Claus Leggewie/Horst Meier, Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik, Berlin 2012

Mark Holzberger und Albrecht Maurer, Blick zurück nach vorn! Für eine Neubelebung der Debatte um die Geheimdienste, in: Bürgerrechte und Polizei – CILIP, Heft 100 (3/2011) S. 76 - 87

Heiner Busch und Norbert Pütter, Geheimdienste abschaffen! Eine Replik auf Mark Holzberger und Albrecht Maurer in: Bürgerrechte und Polizei – CILIP, Heft 100 (3/2011) s. 88 – 82

Rolf Gössner, Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates, e-book bei Droemer-Knaur, München 2012 (akt. Neuauflage der Erstausgabe von 2003). Direktlink: http://amzn.to/HQcOU2

Rolf Gössner, Kontra „Verfassungsschutz“: Ein Fremdkörper in der Demokratie, in: Frankfurter Rundschau 4.09.2012.

Heribert Prantl, Wer schützt die Verfassung vor dem Verfassungsschutz. Eine Anklage. Neobooks-aktuell 2012

Winfried Ridder, Verfassung ohne Schutz. Die Niederlagen der Geheimdienste im Kampf gegen den Terrorismus, München 2013

„Wie viel und welchen Schutz brauchen in der Verfassung verankerte Grund- und Menschenrechte?“ Dokumentation der Anhörung der Fraktion Die Linke im Thüringer Landtag am 8.06.2012 in Erfurt.

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