Pressemitteilung v. 17.3.2004

Internationale Liga für Menschenrechte  hält Debatte
um zentralistische Neuorganisation des Verfassungsschutzes für geschichtslos

Jetzt rächt sich „skandalöse Untätigkeit“ nach dem NPD-Verbotsdesaster vor einem Jahr.

Liga-Präsident Rolf Gössner hält eine „Generalrevision der Verfassungsschutzbehörden für überfällig, weil sie sich als Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat erwiesen haben“

Nach den Anschlägen von Madrid ist erneut eine Debatte um Neuordnung und Effektivierung des Verfassungsschutzes aufgeflammt. Landesämter sollen abgeschafft oder zusammengelegt werden, das Bundesamt zentrale Kompetenzen erhalten, um Chaos und Reibungsverluste zu vermeiden. Der Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Dr. Rolf Gössner, kritisiert diese aktuelle Debatte als „geschichtslos“: „Eine allein an - letztlich nicht überprüfbaren - Effizienzaspekten ausgerichtete Strukturreform des Verfassungsschutzes aus dem Affekt heraus ist ein gefährliches Unterfangen, solange die bisherigen Pannen, Skandale, Fehlentwicklungen und Kontrolldefizite dieses Geheimdienstes nicht aufgearbeitet sind.“ Solche strukturellen Mängel und kriminellen Machenschaften sind im Zusammenhang mit dem NPD-Verbotsverfahren offenkundig geworden.

Aus diesem Grunde erinnert die Internationalen Liga für Menschenrechte daran, dass am 18. März 2003, also vor genau einem Jahr, die größte V-Mann-Affäre in der Geschichte der Bundesrepublik in einem Desaster endete: Mit einer Verfahrenseinstellung zog das Bundesverfassungsgericht einen Schlussstrich unter den Verbotsprozess gegen die NPD, der von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat angestrengt worden war. Das Verfahren platzte wegen der Verstrickung zahlreicher V-Leute des Verfassungsschutzes und damit wegen mangelnder „Staatsfreiheit“ der rechtsextremen Partei.

Aus diesem Verbotsdesaster sollten, so die damals einhellige Meinung, schleunigst politische Konsequenzen gezogen werden. Doch bis heute hat sich kaum etwas getan. Weder wurde die V-Mann-Affäre offiziell aufgearbeitet noch sind aus dem Scheitern des Verfahrens die notwendigen Lehren gezogen worden. Liga-Präsident Gössner spricht in diesem Zusammenhang von einer „skandalösen Untätigkeit“, von einem „sträflichen Versäumnis“ der politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern, was umso bemerkenswerter sei, als schon der rot-grüne Koalitionsvertrag von 2002 eine Strukturreform der Geheimdienste vorsieht.

Die Liga fordert, endlich geeignete Konsequenzen zu ziehen. Dazu sei eine umgehende Aufklärung der V-Mann-Affäre und eine wirksame Unterbindung des V-Leute-Unwesens Voraussetzung. „Der Verfassungsschutz und sein V-Leute-System müssen auf den Prüfstand, die Verfassungsschutzbehörden müssen dringend einer Generalrevision unterzogen werden“. Solange sich an dem V-Leute-Unwesen nichts ändert, könne es passieren, dass kriminelle V-Leute, die künftig verstärkt aus dem „islamistischen“ Beobachtungsfeld rekrutiert werden sollen, etwa bei Sprengstoffbeschaffungen mitmischen oder in Mordaufrufe und Attentate verwickelt sein werden – und dass der Verfassungsschutz solche Gewalttäter im Dienste des Staates dann auch noch decken und mit aller Kraft gegen Ermittlungen der Polizei abschirmen wird, wie wir das bei der Infiltration des Rechtsextremismus erfahren mussten.

 

 

Das NPD-Verbotsverfahren und sein Scheitern haben gezeigt, wie kontraproduktiv, ja schädlich der Verfassungsschutz bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus agiert. Über seine bezahlten V-Leute droht der Geheimdienst Teil des Neonazi-Problems zu werden, nicht ansatzweise hat er zu dessen Lösung oder Bekämpfung beitragen können,“ gibt Rolf Gössner zu bedenken. „Die geheimdienstlichen Aktivitäten gefährden, was sie eigentlich schützen sollten – Demokratie und Rechtsstaat.

Die Internationale Liga für Menschenrechte fordert deshalb ein Jahr nach dem NPD-Verbots­desaster:

die Einrichtung einer unabhängigen Geheimdienstkommission, die Aufgaben und Befugnisse, Arbeitsmethoden und Strukturen der VS-Behörden auf den Prüfstand stellt, aber auch ihre Effizienz, die noch nie überprüft worden ist; aus diesem Befund sind geeignete Konsequenzen zu ziehen und umzusetzen – insoweit wird an die rot-grüne Koalitionsvereinbarung vom Herbst 2002 erinnert, in der eine solche Evaluierung vereinbart wurde;

eine restlose Aufklärung der V-Mann-Affäre im Zusammenhang mit dem NPD-Verbots­verfahren und seinem Scheitern sowie eine Aufarbeitung der Skandalgeschichte des Verfassungsschutzes;

eine unverzügliche Unterbindung des V-Leute-Unwesens und der skandalösen Verstrickung des Verfassungsschutzes in Neonazi-Szenen und rechtsextreme Parteien;

die Einsetzung eines unabhängigen Geheimdienstbeauftragten, der - ähnlich den Datenschutzbeauftragten - mit weitreichenden Prüfkompetenzen wie Akteneinsichts- und Vernehmungsrecht sowie mit einem arbeitsfähigen Team ausgestattet werden muss, um die notorisch mangelhafte Kontrolle der Geheimdienste wenigstens zu professionalisieren und zu intensivieren – wohl wissend, dass eine demokratische Vollkontrolle von Geheimdiensten, die dem Prinzip demokratischer Transparenz widersprechen, letztlich nicht zu erreichen sein wird;

den Aufbau einer offen arbeitenden, wissenschaftlichen Dokumentationsstelle zur Beobachtung, Erforschung und Analyse des Rechtsextremismus – zumal der Verfassungsschutz als „Frühwarnsystem“, das er sein soll, in diesem Bereich weitgehend versagte und nicht in der Lage war, die Gefahren des Neonazismus und eskalierender rechter Gewalt angemessen zu prognostizieren, geschweige denn, unterbinden zu helfen.

 

Gegen eine Auflösung von Verfassungsschutz-Behörden der Länder, wie sie nach den Anschlägen in Madrid verstärkt gefordert wird, ist prinzipiell nichts einzuwenden – damit würden praktisch schwer kontrollierbare Gefahrenquellen neutralisiert. Die Zentralisierung der Verfassungsschutz-Aufgaben und -Strukturen mag auch dazu führen, dass es weniger Konkurrenzen und Chaos gibt, dass weniger Reibungsverluste entstehen. Allerdings bleibt zu bedenken, dass die Bundesrepublik ein föderaler Rechtsstaat ist, in dem etwa Polizei und Verfassungsschutz prinzipiell Ländersache sind – und das aus gutem Grund: Dadurch soll eine zentralistische und undemokratische Machtkonzentration verhindert werden, was bei Geheimdiensten besondere Bedeutung hat, da sie abgeschottet arbeiten, zu Verselbständigung neigen, missbrauchsanfällig sind und letztlich mangels Transparenz nur schwer zu kontrollieren sind. Diese Probleme würden sich mit einer Zentralisierung noch erheblich verschärfen.

 

rg

 

Literaturhinweis:
Gössner, Geheime Informanten - V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des Staates;
320 Seiten, € 12,90; Knaur-Taschenbuch-Originalausgabe, München 2003.