Jetzt rächt sich „skandalöse Untätigkeit“ nach dem
NPD-Verbotsdesaster vor einem Jahr.
Liga-Präsident Rolf Gössner hält eine „Generalrevision der
Verfassungsschutzbehörden für überfällig, weil sie sich als Gefahr für
Demokratie und Rechtsstaat erwiesen haben“
Nach den Anschlägen von Madrid ist erneut eine Debatte um Neuordnung und Effektivierung des Verfassungsschutzes aufgeflammt. Landesämter sollen abgeschafft oder zusammengelegt werden, das Bundesamt zentrale Kompetenzen erhalten, um Chaos und Reibungsverluste zu vermeiden. Der Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Dr. Rolf Gössner, kritisiert diese aktuelle Debatte als „geschichtslos“: „Eine allein an - letztlich nicht überprüfbaren - Effizienzaspekten ausgerichtete Strukturreform des Verfassungsschutzes aus dem Affekt heraus ist ein gefährliches Unterfangen, solange die bisherigen Pannen, Skandale, Fehlentwicklungen und Kontrolldefizite dieses Geheimdienstes nicht aufgearbeitet sind.“ Solche strukturellen Mängel und kriminellen Machenschaften sind im Zusammenhang mit dem NPD-Verbotsverfahren offenkundig geworden.
„Das NPD-Verbotsverfahren und sein Scheitern haben gezeigt, wie kontraproduktiv, ja schädlich der Verfassungsschutz bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus agiert. Über seine bezahlten V-Leute droht der Geheimdienst Teil des Neonazi-Problems zu werden, nicht ansatzweise hat er zu dessen Lösung oder Bekämpfung beitragen können,“ gibt Rolf Gössner zu bedenken. „Die geheimdienstlichen Aktivitäten gefährden, was sie eigentlich schützen sollten – Demokratie und Rechtsstaat.“
Die Internationale Liga für Menschenrechte
fordert deshalb ein Jahr nach dem NPD-Verbotsdesaster:
die Einrichtung einer
unabhängigen Geheimdienstkommission, die Aufgaben und Befugnisse,
Arbeitsmethoden und Strukturen der VS-Behörden auf den Prüfstand stellt, aber
auch ihre Effizienz, die noch nie überprüft worden ist; aus diesem Befund sind
geeignete Konsequenzen zu ziehen und umzusetzen – insoweit wird an die
rot-grüne Koalitionsvereinbarung vom Herbst 2002 erinnert, in der eine solche
Evaluierung vereinbart wurde;
eine restlose Aufklärung
der V-Mann-Affäre im Zusammenhang mit dem NPD-Verbotsverfahren und seinem
Scheitern sowie eine Aufarbeitung der Skandalgeschichte des Verfassungsschutzes;
eine unverzügliche Unterbindung
des V-Leute-Unwesens und der skandalösen Verstrickung des
Verfassungsschutzes in Neonazi-Szenen und rechtsextreme Parteien;
die Einsetzung eines
unabhängigen Geheimdienstbeauftragten, der - ähnlich den Datenschutzbeauftragten
- mit weitreichenden Prüfkompetenzen wie Akteneinsichts- und Vernehmungsrecht
sowie mit einem arbeitsfähigen Team ausgestattet werden muss, um die notorisch
mangelhafte Kontrolle der Geheimdienste wenigstens zu professionalisieren und zu
intensivieren – wohl wissend, dass eine demokratische Vollkontrolle von
Geheimdiensten, die dem Prinzip demokratischer Transparenz widersprechen,
letztlich nicht zu erreichen sein wird;
den Aufbau einer
offen arbeitenden, wissenschaftlichen Dokumentationsstelle zur Beobachtung,
Erforschung und Analyse des Rechtsextremismus – zumal der Verfassungsschutz als
„Frühwarnsystem“, das er sein soll, in diesem Bereich weitgehend versagte und
nicht in der Lage war, die Gefahren des Neonazismus und eskalierender rechter
Gewalt angemessen zu prognostizieren, geschweige denn, unterbinden zu helfen.
Gegen eine Auflösung von Verfassungsschutz-Behörden der Länder, wie sie nach den Anschlägen in Madrid verstärkt gefordert wird, ist prinzipiell nichts einzuwenden – damit würden praktisch schwer kontrollierbare Gefahrenquellen neutralisiert. Die Zentralisierung der Verfassungsschutz-Aufgaben und -Strukturen mag auch dazu führen, dass es weniger Konkurrenzen und Chaos gibt, dass weniger Reibungsverluste entstehen. Allerdings bleibt zu bedenken, dass die Bundesrepublik ein föderaler Rechtsstaat ist, in dem etwa Polizei und Verfassungsschutz prinzipiell Ländersache sind – und das aus gutem Grund: Dadurch soll eine zentralistische und undemokratische Machtkonzentration verhindert werden, was bei Geheimdiensten besondere Bedeutung hat, da sie abgeschottet arbeiten, zu Verselbständigung neigen, missbrauchsanfällig sind und letztlich mangels Transparenz nur schwer zu kontrollieren sind. Diese Probleme würden sich mit einer Zentralisierung noch erheblich verschärfen.
rg
Literaturhinweis:
Gössner, Geheime Informanten - V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle
im Dienst des Staates;
320 Seiten, € 12,90; Knaur-Taschenbuch-Originalausgabe, München 2003.