Aus: Ossietzky
15/2003, S. 525 ff.
Die
Prügelszene spielte sich in der Freien und Hansestadt Hamburg ab, während eines
überaus harten Polizeieinsatzes, ganz nach dem Gusto des Hamburger Innensenators
Ronald B. Schill. Anlaß war eine Demonstration gegen die Räumung des
Bambule-Wohnwagenplatzes im November vergangenen Jahres. Beamte aus
Schleswig-Holstein und Thüringen unterstützten die Hamburger Polizei. Drei
Angehörige der Thüringer Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit, eines
besonders draufgängerischen Spezialkommandos, verprügelten am Rande der
Demonstration einen 25- und einen 32-Jährigen mit erschreckender Brutalität.
Die beiden hatten nichts verbrochen, sie wehrten sich nicht einmal. Das Ungewöhnliche
dieser Szene: Die Polizeiopfer waren gar keine Demonstranten, sondern
Demonstranten-Darsteller – Polizisten in Zivil, die sich unauffällig unter die
Demonstranten gemischt hatten, um sie zu beobachten.
Die
drei Polizisten rannten auf die beiden verdeckten Ermittler aus Schleswig-Holstein
zu und traktierten sie mit ihren Schlagstöcken. Einer der Zivilaufklärer rief
immer wieder die Einsatz-Parole „Mondlicht“, schrie auch verzweifelt: „Wir sind
doch Kollegen!“ – aber die Thüringer ließen sich davon nicht beeindrucken und
prügelten ungerührt weiter, selbst dann noch, als ihre Kollegen in Zivil längst
am Boden lagen. Sie verletzten die beiden dermaßen, daß diese für eine Woche
krankgeschrieben werden mußten.
Von
dem Vorfall wäre wahrscheinlich nicht viel Aufhebens gemacht worden, wären die
Opfer ganz normale Demonstranten gewesen. Doch in diesem Fall ermittelte die
Hamburger Staatsanwaltschaft ernsthaft gegen die 23, 29 und 30 Jahre alten
Bereitschaftspolizisten wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt. Schließlich
wurden sie sogar angeklagt. Den mißhandelten Beamten hatte die
Staatsanwaltschaft offenbar mehr Glauben geschenkt als echten Demonstrationsteilnehmern.
Polizisten rangieren eben ganz oben in der Glaubwürdigkeitshierarchie – auch
wenn sie sich als Zivilisten getarnt haben, ihr Geschäft also Täuschung ist.
Und
tatsächlich kam es im Juli 2003 gegen die mutmaßlichen Täter zu einer
Hauptverhandlung vor dem Hamburger Amtsgericht. Doch was sich während des
Gerichtsverfahrens abspielte, das hätten offenbar weder Staatsanwalt noch
Richter für möglich gehalten – obwohl man doch gerade in Hamburg bereits einschlägige
Erfahrungen mit Korpsgeist im Polizeiapparat und der berüchtigten „Mauer des
Schweigens“ gemacht hatte (s. Ossietzky
16/1998, S. 483 ff.). Die Erfurter Polizeiführung versuchte mit erstaunlicher Dreistigkeit,
die Ermittlungen zu behindern, Einfluß auf das Strafverfahren zu nehmen und so
die Aufklärung der Ereignisse zu torpedieren – angeblich aus reiner „Fürsorgepflicht“
für ihre delinquenten Untergebenen. So erschienen die Angeklagten zunächst nicht
zur Gerichtsverhandlung in Hamburg, sondern auf Drängen ihrer Polizeiführung
erst beim Gesundheitsamt in Erfurt, und entschuldigten sich dann bei Gericht
mit gleichlautenden amtsärztlichen Attesten: Wegen synchroner „psychologischer
Beeinträchtigung“ waren alle drei angeblich nicht verhandlungsfähig.
Der
Richter zeigte sich ob dieser „Gefälligkeitsgutachten“ fassungslos, so etwas hatte
er noch nicht erlebt. Seine Antwort: Haftbefehle gegen die Polizisten. Diese
wurden später gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt, weil sich der Thüringer
Innenminister höchstpersönlich für das Erscheinen der Angeklagten vor Gericht
verbürgte. Zuvor hatte sich der Minister
jedoch bitterlich über die Haftbefehle beschwert, die er als „unverhältnismäßig“
rügte – womit er gegen den Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung verstieß.
Auch der Chef der Thüringer Bereitschaftspolizei, Leitender Polizeidirektor
Roland Richter, mischte sich in das Gerichtsverfahren ein. Er wollte die
Verteidiger der Polizisten dazu verleiten, Befangenheitsanträge gegen den Richter
zu stellen.
Die
Angeklagten verweigerten vor Gericht bis zuletzt die Aussage – obwohl zwei von
ihnen, so einer ihrer Verteidiger, zum Geständnis bereit gewesen seien. Doch
von der Erfurter Polizeiführung seien sie mit der Drohung „Wenn Sie gestehen,
fliegen Sie raus“ daran gehindert worden. Alle drei Angeklagten wurden am 14.
Juli 2003 wegen Körperverletzung im Amt zu je einem Jahr Freiheitsstrafe mit
Bewährung verurteilt. Damit verhängte der Amtsrichter bewußt eine Strafe, die
ihrer Polizeilaufbahn laut Gesetz ein Ende setzen müßte. Wegen Mißbrauchs des
Gewaltmonopols sollten die Prügelpolizisten nicht länger im Staatsdienst
verbleiben. Diese Strafe sei schon deshalb nötig, so der Richter, weil die
Angeklagten aufgrund des offenkundigen Korpsgeistes in der Thüringer Polizei
von der dortigen Führung „keine einschneidenden disziplinarrechtlichen Folgen
zu erwarten“ hätten.
„In
welchem Zustand ist eigentlich die Thüringer Polizei, wenn sie Straftäter in
ihren eigenen Reihen deckt?“ hatte zuvor schon der anklagende Staatsanwalt in
seinem Plädoyer gefragt und hinzugefügt, Thüringen habe einen „handfesten Polizeiskandal“.
Es sei verwunderlich, daß das in Thüringen noch keiner mitbekommen habe.
Die
Frage des Hamburger Anklägers ist um so berechtigter, als die Thüringer Polizei
zwei Todesschüsse aus den Jahren 1999 und 2002 zu verantworten hat, die bis
heute ungeklärt sind.
Am
28. Juli jährt sich der Todestag von René Bastubbe. Der 30jährige Zimmermann,
Vater eines vierjährigen Sohnes, wurde im vorigen Jahr in der thüringischen
Stadt Nordhausen erschossen. Getroffen in den Rücken. Von einem Projektil aus
der Dienstwaffe eines ebenfalls 30jährigen Polizisten. Angeblich aus Notwehr.
Es
geschah am frühen Morgen, mitten im Stadtzentrum. Die Polizei war alarmiert
worden, weil sich zwei angetrunkene Männer auf dem Heimweg von einer Feier im
Jugendclubhaus an einem Zigarettenautomaten zu schaffen machten. Sie wollten
Zigaretten ziehen, was ihnen aber nicht gelang, weil der Automat defekt war.
Daraufhin sollen sie ihn lautstark mit Steinen bearbeitet haben. Also:
mutmaßliche Automatenknacker.
Die
alarmierte Polizei sei nach ihrem Eintreffen am Tatort ebenfalls mit Steinen
bearbeitet worden: mit Pflastersteinen beworfen. So behaupten die beiden Streifenpolizisten,
ein Polizeiobermeister und eine Polizeimeisterin. Zwei Brocken seien knapp am
Kopf des Obermeisters vorbeigeflogen. Nachdem ein 23 Jahre alter Mann von der
Beamtin widerstandslos überwältigt worden war, habe der andere Verdächtige, das
spätere Todesopfer, versucht, sich durch Flucht und Steinewerfen der Festnahme
zu entziehen. Der Beamte habe sich zunächst mit Pfefferspray zu wehren
versucht, allerdings ohne die erhoffte Wirkung. Trotz einer Warnung – Zeugen hörten
den Ruf „Halt, stehen bleiben!“ – habe sich der Flüchtende erneut nach einem
Stein gebückt. Daraufhin, so der Polizeiobermeister, habe er mit seiner
Dienstpistole einen Schuß abgefeuert – aber keinen Warnschuß in die Luft, wie
es die Dienstanweisung vorschreibt, sondern in den Rücken des vermeintlichen
Zigarettendiebs.
Danach
ist es totenstill, so eine Anwohnerin später. René Bastubbe bleibt auf dem
Pflaster liegen und verblutet innerhalb weniger Minuten – getroffen von einer
neuartigen Munition, die in Thüringen wie in anderen Bundesländern seit 2001 von
der Polizei eingesetzt wird: „schadstoffreduzierte“ Neun-Millimeter-Deformationsgeschosse,
die „mannstoppende Wirkung“ haben. Sie pilzen beim Eintreten in einen Körper
auf, vergrößern sich dabei um ein Drittel und reißen daher große Wunden – viel
größere, als die früher verwendeten Vollmantelgeschosse hinterließen, die
zuweilen durch den Körper hindurchflogen, ohne den Getroffenen handlungsunfähig
zu machen (s. Ossietzky 22/1999, S.
768 ff.). Die Deformationsmunition bewirkt einen Schock, der sofort angriffs-
und fluchtunfähig macht, und manchmal wirkt sie tödlich, weil durch die
Verformung innere Organe oder Adern zerfetzt werden können. Bei René Bastubbe
schlägt das Projektil neben der Wirbelsäule im Rücken ein, zerreißt eine
Hauptschlagader und bleibt unterhalb des Schlüsselbeins im Brustkorb stecken.
Bastubbe stirbt an den inneren Blutungen.
Die
beiden beteiligten Polizeibeamten wurden nach diesem Vorfall vom Dienst
freigestellt und polizeipsychologisch betreut. Andere Todesschützen wären sofort
verhört worden, ohne Möglichkeit, sich untereinander abzusprechen. Die
Polizisten stünden unter Schock und seien vernehmungsunfähig, begründeten
Polizeisprecher die konsequente Abschottung. Den Angehörigen des Toten wurde
indessen keine psychologische Betreuung angeboten.
Die
Staatsanwaltschaft ging sogleich zugunsten des Todesschützen von einer
Notwehrsituation aus – nach einer „vorläufigen juristischen Bewertung“, wie es
hieß, aber ohne Kenntnis der näheren Umstände, ohne Befragung der beteiligten
Polizisten und noch vor der Vernehmung von Zeugen. Und das, obwohl das Opfer in
den Rücken getroffen worden war. Dem schießenden Polizeibeamten könne bislang
kein Vorwurf gemacht werden, so die vorschnell entlastende Einschätzung der
Staatsanwaltschaft. Der stark angetrunkene Bastubbe habe sich im entscheidenden
Moment in Bewegung befunden, so daß der Beamte, der den Schuß abgab, mit einem
erneuten Steinwurf habe rechnen müssen. Im übrigen sei der „Automatenknacker“
bereits polizeibekannt gewesen, unter anderem wegen Körperverletzung,
Drogendelikten, Diebstahls und Sachbeschädigung. So wurde der Getötete der
Öffentlichkeit als Krimineller präsentiert, der doch irgendwie an seiner
Erschießung selbst schuld gewesen sein könnte. Als wäre ein in der Vergangenheit
Gestrauchelter vogelfrei.
Warum
waren zwei Beamte nicht in der Lage, einen Steinewerfer, der ansonsten nicht
bewaffnet war, zu bändigen, nachdem der andere Verdächtige bereits festgenommen
worden war? Ist das nur mit Waffengewalt möglich, oder hätte es mildere, deeskalierende
Mittel gegeben? Warum hat der erfahrene und umfassend ausgebildete Polizist
zuvor keinen Warnschuß abgegeben? Warum wurde Bastubbe in den Rücken getroffen?
Wurde er womöglich auf der Flucht erschossen? War der Polizeibeamte überfordert?
Hat er überreagiert, war die Festnahmeaktion unverhältnismäßig? Warum hat sich
die Polizei nicht einfach vorläufig zurückgezogen, etwa um Verstärkung abzuwarten?
Fragen über Fragen, die nach
einem Jahr noch immer nicht geklärt sind. Ist der Einsatz einer Schußwaffe
gegen einen Steinewerfer nicht allemal unprofessionell und unverhältnismäßig,
wie die Bundesarbeitgemeinschaft Kritischer Polizisten meint? Liegen die Gründe
und Ursachen für den tragischen Ausgang in mangelhafter Ausbildung, am
Schießtraining, an der Einsatztaktik in der konkreten Krisensituation oder
letztlich auch an der neuen Deformationsmunition? Könnte Bastubbe heute noch
leben, wenn eine andere Munition verwendet worden wäre? Gerade diese Frage soll
nach dem Willen des Innenministers und der Polizei gar nicht untersucht werden:
Es gebe keinen Grund anzunehmen, daß die tödliche Verletzung durch diese
Munition verursacht wurde. Selbst wenn sich aufgrund eines Gutachtens
herausstellen sollte, daß bei Verwendung der früheren Munition das
Verletzungsmuster weniger problematisch gewesen wäre, ändere das nicht das
Gesamtergebnis, das für die Verwendung der neuen Munition spreche, sagte
Minister Köckert im Innenausschuß des Thüringer Landtags.
Die
Staatsanwaltschaft, die zunächst ohne nähere Kenntnis der Umstände von Notwehr
ausging, versprach, den Vorfall restlos aufzuklären. Nichts werde vertuscht.
Angesichts dieser präventiven Beteuerung mutet es verwunderlich an, daß
ausgerechnet die Polizeidirektion Nordhausen beauftragt wurde, gegen den beschuldigten
Kollegen zu ermitteln – und nicht etwa das Landeskriminalamt oder die Abteilung
„Innere Ermittlungen“, wie es ein Erlaß des Innenministeriums bei Beschuldigungen
gegen Polizeibeamte und besonders nach einem polizeilichen Todesschuß
vorschreibt. Kritikern der anfangs auffallend zögerlichen Ermittlungen begegnete
die Polizeiführung mit massiven Einschüchterungsversuchen.
Die
Medien in Thüringen berichteten ausführlich über diesen polizeilichen Todesschuß
und befaßten sich auch – mehr oder weniger kritisch – mit seiner widersprüchlichen
Aufarbeitung. Doch trotz des öffentlichen Drucks, der so entstand, dauerte es
über neun Monate, bis die Staatsanwaltschaft endlich Anklage gegen den
beschuldigten Polizeibeamten erhob. „Fahrlässige Tötung als Notwehrexzeß“
lautet nun der Vorwurf. Die Annahme einer Notwehrsituation wurde also
beibehalten; dem Beschuldigten wird nur angelastet, das Maß einer erforderlichen
Abwehr überschritten zu haben: Als ausgebildeter Polizist hätte er erkennen
müssen, daß andere, weniger einschneidende Maßnahmen ausgereicht hätten, um den
Angriff abzuwehren.
Bis
zum Abschluß des Verfahrens gilt für den Angeklagten die Unschuldsvermutung.
Das bedeutet aber nicht, daß bis dahin jedes kritische Hinterfragen unzulässig
wäre – genauso wenig wie im Fall des Wanderers Friedhelm Beate, der 1999 von
zwei Thüringer Polizeibeamten an der Tür seines Hotelzimmers erschossen wurde. Es
waren Beamte der gleichen Polizeidirektion in Nordhausen. Den Gast eines Hotels
in Heldrungen hatten sie für den gesuchten Gewaltverbrecher Zurwehme gehalten (s.
Ossietzky 1/2000, S. 2 ff.). Der
bundesweit Aufsehen erregende Todesschuß blieb bis heute ohne strafrechtliche
Folgen, ein Ermittlungsverfahren gegen die beteiligten Polizeibeamten wurde
bereits zum zweiten Mal eingestellt.
Der
letzte Einstellungsbescheid vom Februar 2003 stützt sich auf das Gutachten
eines Sachverständigen für Sensomotorik, dessen Unvoreingenommenheit bereits nach
seiner Beratertätigkeit für das Spezialeinsatzkommando in Niedersachsen umstritten
ist. Danach ist nicht auszuschließen, daß die beiden beschuldigten
Polizeibeamten „unbewußt“ geschossen haben: Der eine Schuß könne sich durch
eine unbeabsichtigte Kontraktion des Zeigefingers gelöst haben, der zweite
Polizist könne nach dem ersten Schuß aus Schreck einem unbewußten Mitzieheffekt
unterlegen sein. Aufgrund dieser Feststellung, so die Staatsanwaltschaft
Erfurt, könne eine willentliche Schußabgabe nicht mit hinreichender Sicherheit
nachgewiesen werden; deshalb werde von einer Anklage abgesehen.
Eine
kritische Öffentlichkeit ist und bleibt notwendig, damit Ermittlungsverfahren
gegen beschuldigte Polizeibeamte nicht gleich im Vorfeld sang- und klanglos
eingestellt werden. Denn erst in einem öffentlichen Prozeß kann die Polizeiversion
– besonders durch die Nebenkläger – hinterfragt, können die strukturellen
Hintergründe der Tat thematisiert werden, auch jenseits individueller Schuld.
Zumindest dies muß auch in einem Gerichtsverfahren zur Aufklärung des Todesschusses
von Heldrungen noch geschehen. Polizeiliche Prügler und erst recht polizeiliche
Todesschützen dürfen nicht schonender behandelt werden als andere Straftäter. Das
geltende Strafrecht fordert genau das Gegenteil: Im Dienst begangene Straftaten
sollen schwerer bestraft werden. Und es ist nicht hinnehmbar, daß die Exekutive
prägenden Einfluß auf die Ermittlungen und auf die anschließenden
Strafverfahren nimmt, wie sie es in Thüringen wiederholt versucht hat. Sonst
triumphiert immer die Polizeiversion.
Rolf
Gössner spricht am 28. Juli um 19 Uhr im Erfurter Rathaus anläßlich des
Todestages von René Bastubbe zum Thema „Tödliche Polizeischüsse und ihre
politischen und juristischen Konsequenzen“. Veranstalter ist das Thüringer Forum
für Bildung und Wissenschaft.