Zivilcourage
gegen staatliches Unrecht
Es ist eines der dunkelsten Kapitel deutscher Gegenwart.
Es geht um Menschen, die ohne schuldhaftes Tun in Abschiebehaft geraten und
ständig in der Angst leben müssen, ausgewiesen oder abgeschoben zu werden –in
Kriegs- oder Krisengebiete, selbst in Länder, in denen ihnen Folter und
Hinrichtung drohen. Diese Praxis macht selbst vor Schwerkranken und
Hilfsbedürftigen, vor Minderjährigen und Heranwachsenden nicht Halt. Sie werden
aus dem Schulunterricht gerissen, nachts aus ihren Betten geholt oder auf der Straße
verhaftet. Ganz in unserer Nachbarschaft und dennoch weitgehend unbemerkt oder
verdrängt. Sie werden ihrer Zukunftshoffnungen beraubt, in Abschiebehaft
gesteckt und zwangsweise abgeschoben – oft mutterseelenallein. Auch in Länder,
die sie nicht kennen, mit denen sie nichts verbindet, deren Sprache sie nicht
verstehen.
Wie jedes Jahr seit 1962 verleiht die Internationale Liga
für Menschenrechte anläßlich des Tages der Menschenrechte die
Carl-von-Ossietzky-Medaille – und zwar an Personen und Gruppen,
die sich um die Menschenrechte und den Frieden besonders verdient gemacht
haben, sowie an Menschen, die sich durch ihre Zivilcourage und ihr soziales Engagement
vorbildlich verhalten. In diesem Jahr erhalten die Medaillen – neben dem
Kinder- und Jugendwerk „Die Arche“ – zwei Berliner Lehrerinnen: Mechthild
Niesen-Bolm und Inge Wannagat werden für ihr entschlossenes und mutiges Handeln
geehrt, durch das sie, zusammen mit Schülerinnen und Schülern, die Abschiebung
der seit zehn Jahren in Berlin lebenden 13jährigen Schülerin Tanja Ristic nach
Bosnien verhindern konnten. Die vom Bürgerkrieg traumatisierte Tanja war ohne
Vorwarnung von der Polizei aus dem Unterricht herausgeholt und in Abschiebehaft
genommen worden.
Haft bedeutet den schwersten Eingriff in ein hochrangiges
Grundrecht: die Freiheit der Person. Da Abschiebehaft auch gegen vollkommen
unschuldige Menschen vollzogen wird, kann sie unter menschenrechtlichen
Aspekten schwerlich gerechtfertigt werden. Sie verletzt die Würde, die
Integrität und das Leben von Menschen, die nichts verbrochen haben, außer hier
leben zu wollen, und die als Flüchtlinge besonders schutzbedürftig sind. Nach
Ansicht des langjährigen Gefängnispfarrers Hubertus Janssen stellt die
Abschiebehaft ein „außergewöhnliches staatliches Unrecht“ dar.
Bundesweit befinden sich Tausende von Menschen in
Abschiebehaft – nicht selten drei Monate lang, aber auch bis zu anderthalb
Jahre. Besonders für Minderjährige, Kranke, Traumatisierte, Schwangere oder
Alleinerziehende bedeutet dies eine ganz besondere Härte – zumal die
Haftbedingungen schlecht, nicht selten katastrophal sind. In den Sammellagern
und Abschiebeknästen, die teilweise an Hochsicherheitstrakte erinnern, in den
Justizvollzugsanstalten und Polizeizellen müssen die „Schüblinge“, wie sie behördenintern
heißen, auf engem Raum leben, ohne Beschäftigungsmöglichkeit, ohne Anspruch auf
psychosoziale Betreuung, und dürfen pro Monat oft nur eine Stunde lang Besuch
bekommen. Die psychischen Belastungen in dieser Extremsituation und die Angst
vor drohender Abschiebung zermürbt sie dermaßen, daß es immer wieder zu Verzweiflungstaten
kommt.
Jährlich werden Tausende dieser inhaftierten Menschen aus
Deutschland abgeschoben – auch in Länder, in denen Menschenrechtsverletzungen
zum Alltag gehören. Hierzu leisten bundesdeutsche Behörden Beihilfe, ohne daß
irgendwer dafür zur Verantwortung gezogen wird. In der täglichen
Abschiebepraxis, die sich im Zuge der Terrorismusbekämpfung erheblich
verschärft hat, werden ständig Menschenrechte verletzt, ohne daß die Öffentlichkeit
davon erfährt. Und es sind viel zu wenige, die sich diesem Tabuthema stellen,
die hinschauen und eingreifen.
Zu ihnen gehören Mechthild Niesen-Bolm und Inge Wannagat.
Sie haben in einem konkreten Abschiebefall Zivilcourage vorgelebt. Zusammen mit
den Mitschülern haben sie sich rückhaltlos für Tanja Ristic eingesetzt – und
werden dies wohl als selbstverständlich ansehen. Leider ist es das nicht –
schon gar nicht bei denen, die die Abschiebemaschinerie qua Amt und auf Befehl
am Laufen halten. Hier rächt sich, was der Schriftsteller Ralph Giordano auf
dem Hintergrund deutscher Gehorsamsgeschichte zurecht bemängelt: „Die Deutschen
müssen erst noch lernen, daß sie sich nicht nur für ihre Befehle, sondern auch
für ihren Gehorsam verantworten müssen.“
Es gibt allerdings rühmliche Ausnahmen: Gruppen, die sich
widersetzen, und einzelne Menschen, die remonstrieren, sich auf ihr Gewissen
berufen und Nein sagen. In etlichen Fällen ist es ihnen gelungen, Abschiebungen
zu verhindern. Jeder dieser Fälle ist ein Erfolg praktischer
Menschenrechtsarbeit. An drei Beispiele sei hier erinnert:
Ein 46jährige
Schutzpolizist im rheinland-pfälzischen Landau konnte es nicht länger mit
ansehen, wie ein unschuldiger Mensch Tage und Nächte unter menschenunwürdigen
Umständen im Polizeigewahrsam eingekerkert war. Nach vergeblichen Versuchen,
die Situation zu ändern, entschloß er sich, der Menschenwürde den Vorrang
einzuräumen, der ihr nach der Verfassung gebührt. Er öffnete eigenhändig die
Kellerzelle und entließ den jungen Angolaner aus der Abschiebehaft. Dieser Akt
der Zivilcourage trug ihm wegen eigenmächtiger „Gefangenenbefreiung“ eine
Geldstrafe ein.
Ein Lufthansa-Pilot verweigerte im Februar dieses Jahres
seine Mitwirkung, als die Iranerin Zahra K. gegen ihren Willen abgeschoben
werden sollte. Zahra K., die Ende der 90er Jahre in Deutschland Zuflucht vor
dem iranischen Mullah-Regime gesucht hatte, erlitt während der
Abschiebeprozedur einen Kollaps. Hätte der Pilot reibungslos funktioniert und
die nicht anerkannte Asylbewerberin in ihr Heimatland ausgeflogen, dann wäre
sie im Iran mit Folter und Tod durch Steinigung bedroht gewesen, denn sie hatte
sich in Deutschland von ihrem iranischen Mann getrennt und war als Muslima zum
Christentum übergetreten. Erst nach diesem Akt wirkungsvoller Zivilcourage hat
Zarah K. ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhalten.
Es
sollen aber auch Gruppen und Initiativen gewürdigt werden, die sich bemühen,
über menschenrechtswidrige Abschiebungen aufzuklären, und die darüber hinaus
versuchen, unmittelbar auf Flughäfen problematische Abschiebungen zu
verhindern: Sie informieren Flugpassagiere, Piloten und Stewardessen über die
Hintergründe der Einzelfälle, demonstrieren und protestieren und nehmen dafür
auch Repressalien und Strafverfahren in Kauf. Eine Initiative, die auch im Fall
Zahra K. erfolgreich gearbeitet hat, ist das „Aktionsbündnis Rhein-Main gegen
Abschiebungen“. Dieses Bündnis konzentriert seine Arbeit auf den Frankfurter
Flughafen, von dem aus jedes Jahr über 8000 Menschen abgeschoben werden. Durch
die kollektive Einmischung des Aktionsbündnisses konnten schon mehrere
Abschiebungen verhindert werden. Doch seit einiger Zeit überzieht der
Flughafenbetreiber Fraport die Aktivisten mit Hausverboten und Strafanzeigen –
inzwischen in zweiter Instanz abgesegnet vom Frankfurter Landgericht.
Begründung des Urteils vom 20. Mai 2005: Der Flughafen sei Privatgelände, das
Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit gelte hier nicht, weil die
Fraport AG als Aktiengesellschaft keiner direkten Grundrechtsbindung unterliege
und ihr Hausrecht frei ausüben könne. Eine Entscheidung, mit der wir uns nicht
abfinden können, denn schränkt Grundrechte in unverhältnismäßiger Weise ein, ja
suspendiert sie geradezu. Unter Hinweis auf das private Recht einer Aktiengesellschaft,
die sich in öffentlichem Eigentum befindet, wird die staatliche Abschiebepraxis
juristisch abgesichert. Das ist um so schwerer nachzuvollziehen, als die
Fraport AG, auf deren angeblichem Privatgelände sich jährlich 50 Millionen
Personen bewegen, hoheitliche Aufgaben unterstützend wahrnimmt. Das Aktionsbündnis
hat gegen dieses Urteil Revision vor dem Bundesgerichtshof eingelegt. Nach
Auffassung der Betroffenen muß es möglich sein und bleiben, an Orten zu
demonstrieren und aufzuklären, an denen Menschenrechtsverletzungen begangen
werden. Die Verhandlung vor dem BGH ist am 20. Januar 2006. Zu klären ist die
Grundsatzfrage: Darf der Staat ins Privatrecht flüchten? Kann eine
Zivilgesellschaft hinnehmen, daß öffentlicher Raum in Privatbesitz umdefiniert wird,
wo elementare Grundrechte eingeschränkt, ja ausgehebelt werden können?
Rolf Gössner ist Präsident der Internationalen Liga für
Menschenrechte. Die Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaillen 2005 wird am
11. Dezember, 11 Uhr, im Berliner Haus der Kulturen der Welt stattfinden.
Kontakt: www.ilmr.de