Rolf
Gössner
Jedes
Jahr das gleiche Ritual. Da stellt sich der Bundesinnenminister zusammen mit
dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) vor die Kameras und
präsentiert ein neuerschienenes dickes Buch: den Verfassungsschutzbericht. Und
die ganze Presse fiebert nach den neuesten Geheimdienst-Erkenntnissen, wären
wir doch ohne sie hilflos dunklen Mächten ausgeliefert.
Die
neueste Erkenntnis der »Verfassungsschützer« ist die alte: »Der islamistische Extremismus
und Terrorismus stellen die größte Bedrohung der Inneren Sicherheit dar
weltweit und auch in Deutschland.« Damit bleibt es beim Feindbild Nr. 1, das
seit dem 11. September 2001 gepflegt wird mit der Folge, daß Muslime
hierzulande unter Generalverdacht stehen. Nirgends seien Vorfeldaufklärung und
vorbeugende Abwehr so notwendig wie im Kampf gegen den islamistischen
Extremismus, sagt Otto Schily. »Die Beobachtung der einschlägigen Aktivitäten
ist und bleibt auf absehbare Zeit daher die Kernaufgabe« des BfV zumal die
Zahl der Mitglieder und Anhänger »islamistischer« Organisationen von 30 950 auf
31 800 angestiegen sei. Wer oder was als »islamistisch« eingestuft wird,
obliegt der unkontrollierten Definitionsmacht des BfV.
Mit
dieser Prioritätensetzung ist auch die Daseinsberechtigung des Geheimdienstes
auf absehbare Zeit gesichert hat doch der Kampf gegen
islamistisch-terroristische Bestrebungen allen Geheimdiensten einen kräftigen
Legitimationsschub beschert. Die ganze Schlapphutbranche ist in den vergangenen
Jahren personell, finanziell und technisch nachgerüstet worden und gerade
hat Schily ein drittes Sicherheitspaket vorgelegt, mit dem er den
Geheimdiensten noch mehr Überwachungsbefugnisse bescheren will.
Wenn mit
dem »Islamismus« die Kernaufgabe der »Verfassungsschützer« auf Jahre festgelegt
ist, welche Rolle spielt dann für sie der Rechtsextremismus? Er verdiene, so
Schily, weiterhin »besondere Aufmerksamkeit« doch zu einer Kernaufgabe des
BfV reicht es nicht. Das gesamte rechtsextremistische Potential in Deutschland
sei zwar rückläufig (um 800 auf 40 700 Personen gesunken), aber das
neonazistische Potential sei um mehr als 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr
angestiegen, ebenso die Zahl der »politisch rechtsmotivierten Straftaten mit
extremistischem Hintergrund« (um mehr als zehn Prozent auf 12 051). Welchen
Anteil daran die dubiosen, vom »Verfassungsschutz« geführten und bezahlten
V-Leute und agents provocateurs haben, wird leider verschwiegen.
Das BfV
konstatiert auch einen Bedeutungszuwachs der NPD innerhalb der rechtsextremen
Szene, was sich sowohl an ihrem Mitgliederzuwachs (von 5000 auf 5300) als auch
an ihrer verbesserten Finanzlage ablesen lasse. Doch fehlt hier jeglicher Hinweis
auf den entscheidenden Beitrag zum Wiedererstarken der NDP, den »Verfassungsschützer«
und Bundesinnenministerium durch das von ihnen angerichtete NPD-Verbotsdesaster
geleistet haben. Die zahlreichen V-Leute auf Parteiführungsebene haben die NPD
gestärkt, anstatt sie zu schwächen. Der »Verfassungsschutz« ist über sein
V-Leute-Netz selbst Teil des Neonazi-Problems geworden und die politische
Führung tut nichts dagegen, jedenfalls nichts Wirksames. Vielmehr schiebt
Schily etwa die Schuld am Einzug der NPD in den Sächsischen Landtag dreist den
Verfassungsrichtern in die Schuhe, die zu Recht dieses geheimdienst-verseuchte
Verfahren eingestellt haben.
»Linksextremistische
Bestrebungen« nehmen im »Verfassungsschutzbericht« immer viel Raum ein. Da ist
die Rede vom »gewalttätigen Linksextremismus«, zu dem Autonome und Anarchisten
gezählt werden; es folgen die als linksextremistisch eingestuften Parteien und
Gruppen, an erster Stelle die PDS; dann die Antifaschisten, vor allem die
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes; und auch vor der Anti-Atom-,
Antiglobalisierungs- und Friedensbewegung machen die Schnüffler nicht halt.
Linksextremisten, wohin das Auge blickt.
Der
Bericht zitiert eine Entschließung des »Friedenspolitischen Ratschlags«, der im
Dezember 2004 in Kassel stattgefunden hat: Darin hätten die Teilnehmer 60 Jahre
nach der Befreiung Deutschlands von Krieg und Faschismus die geschichtliche Mahnung
»Nie wieder Faschismus nie wieder Krieg« gegen die aktuelle Normalität von
Krieg, Hochrüstung sowie Sozialabbau und gegen die Wiederbelebung rassistischer
und faschistischer Ideologien gesetzt. Damit, so das BfV, bekräftige der
Friedensratschlag sein »Festhalten an einer leninistischen
Kriegsursachenanalyse« und stelle eine »suggestive Verbindung zwischen der
Kriegspolitik der Nationalsozialisten und den Planungen der Europäischen
Gemeinschaft für gemeinsame militärische Strukturen her«. Und schon ist der
Friedensaktivist ein Linksextremist.
Der
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN/BdA)
wird geheimdienstlich bescheinigt, sie weise in ihren Leitungsgremien eine
»Vielzahl von zumeist älteren Kommunisten« auf, huldige einer »typisch
kommunistischen« Faschismusanalyse und pflege »kommunistische Widerstandslegenden«.
Obwohl von dem »überalterten Verband« nach Einschätzung des BfV »kaum noch außenwirksame
Aktivitäten« ausgehen, kommt das Amt dennoch zu einer erschreckenden
Erkenntnis: Da habe doch tatsächlich ein VVN-Vorsitzender »effiziente antifaschistische
Handlungsstrategien gegen Neonazi-Aufmärsche auf der Straße und gegen deren
staatliche Sanktionierung« gefordert. Außerdem werfe die VVN staatlichen
Institutionen regelmäßig vor, die zunehmenden Naziumtriebe zu dulden und gleichzeitig
antifaschistische Gruppen zu diffamieren. Wenn das nicht linksextremistisch
ist.
An der
in zwei Landesregierungen und etlichen Parlamenten sitzenden PDS interessiert
das Bundesamt neben den »extremistischen Strukturen in der Partei« besonders
ein innerer Parteikonflikt: nämlich die »Ambivalenz, einerseits auf verschiedenen
Ebenen in Regierungen und Verwaltungen mitzuarbeiten, andererseits aber das
Endziel der Partei eine über die Grenzen der bestehenden Gesellschaft
hinausweisende sozialistische Ordnung nicht aus den Augen zu verlieren«.
Besonders verdächtig scheint ein Zitat aus der PDS-Zeitschrift Disput :
»Es ist unsere Überzeugung, daß die Gesellschaft verändert werden muß und
verändert werden kann und zwar zum Besseren für die Menschen.«
In der
Rubrik »Agitations- und Kommunikationsmedien« kommt auch eine Tageszeitung zu
Ehren: die junge Welt , nach Einschätzung des BfV ein »bedeutendes
Printmedium im linksextremistischen Bereich«. Einzelne ihrer
Redaktionsmitglieder und ein großer Teil der Stamm- und Gastautoren seien dem
»linksextremistischen Spektrum« zuzuordnen. Die Zeitung pflege eine »streng
ideologische, antikapitalistische Ausrichtung« und propagiere die Errichtung
einer sozialistischen Gesellschaft.
Streng
ideologisch das darf man getrost zurückgeben , aber nie und nimmer kapitalismuskritisch
befaßt sich der »Verfassungsschutzbericht« nicht nur mit Rechts-, Links- und
Ausländerextremisten, sondern er behandelt auch das Bundesamt für Verfassungsschutz
selbst allerdings nicht als gefährlich-obskure Organisation unter der Rubrik
»Sicherheitsextremismus und verfassungswidrige Bestrebungen«, sondern
verblüffenderweise als integralen Bestandteil und Garant der Demokratie
obwohl doch das BfV als Geheimdienst gerade demokratischen Prinzipien der
Transparenz und Kontrollierbarkeit widerspricht. Und so verliert er auch kein
Wort etwa über die hochproblematische Infiltration und Finanzierung der rechten
Szene. Kein Wort über die Verstrickung des »Verfassungsschutzes« in kriminelle
Machenschaften. Kein Wort beispielsweise darüber, daß V-Leute die expandierende
Neonazi-Musikszene lange Zeit fest im Griff hatten und mit volksverhetzenden,
zum Mord an Juden, Künstlern und Politikern aufrufenden CDs versorgten.
Recht
informativ hingegen sind die Strukturdaten des BfV: So erhielt das Bundesamt
2004 einen offenen Zuschuß aus dem Bundeshaushalt in Höhe von 141 Millionen Euro
(die verdeckten Gelder werden nicht ausgewiesen) und hatte knapp 2500 Bedienstete;
der Militärische Abschirmdienst (MAD) mit knapp 1300 Bediensteten erhielt 73,5
Millionen Euro. In NADIS, dem Nachrichtendienstlichen Informationssystem aller
bundesdeutschen Geheimdienste des Bundes und der Länder, waren Anfang 2005 mehr
als eine Million personenbezogener Eintragungen gespeichert, davon über die
Hälfte aufgrund von Sicherheits-überprüfungen in sicherheitsempfindlichen
Behörden und Betrieben. Wie viele V-Leute das BfV in welche Gruppen und Szenen
eingeschleust hat, bleibt jedoch ebenso sein Geheimnis wie eine Antwort auf die
Frage, was in dem VS-Bericht Information, was Desinformation ist.
Erschienen
in Ossietzky 11/2005