Aus: „Ossietzky“ 18/2003, S. 627 ff.

 

Rolf Gössner   Fanal ohne Wirkung?

 

Cemal Altun war in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland der erste politische Flüchtling, der sich das Leben nahm, weil er die Auslieferung an einen Folterstaat befürchten mußte. Am 30. August vor zwanzig Jahren sprang der damals 23jährige Asylbewerber aus einem Fenster im sechsten Stock des Verwaltungsgerichts in Berlin, wo gerade über seine Anerkennung als Asylberechtigter verhandelt wurde. Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hatte Beschwerde gegen die bereits ausgesprochene Anerkennung eingelegt. Anläßlich des Jahrestages wurde in verschiedenen Medien an den Fall erinnert, doch die Vorgeschichte blieb meist ausgeblendet. Und die Nachgeschichte auch.

Altun war Angehöriger der demokratischen Opposition in der Türkei. 1981 mußte er das Land verlassen, weil Schergen der damaligen Militärjunta ihn verfolgten. Er floh in die Bundesrepublik Deutschland, um sich in Sicherheit zu bringen. Die damalige CDU/FDP-Bundesregierung verweigerte ihm den Schutz, wollte ihn rasch loswerden und kooperierte zu diesem Zweck mit seinen Häschern. Altun floh auf den Boden der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ und landete in einer vermeintlichen Freiheit, die ihn rasch hinter Gitter brachte. Seine letzte Flucht endete tödlich. Sein Sturz in die Tiefe war kein Freitod – denn er sah keinen anderen Ausweg aus seiner bedrückenden Situation, in der er sich während seiner 13monatigen Auslieferungshaft befand. Er stürzte sich in den Tod aus Verzweiflung, aus Angst vor Abschiebung und drohender Folter in der Türkei. Und diese Verzweiflung, diese Angst waren fleißig geschürt worden von verantwortlichen Regierungspolitikern wie dem damaligen Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) und Justizminister Hans A. Engelhard (FDP). Gnadenlos beharrten sie auf Altuns Auslieferung an die Türkei – obwohl er im Juni 1983 vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge als Asylberechtigter anerkannt worden war. Schon „im Interesse der Fortführung einer nach wie vor guten Zusammenarbeit mit der Türkei auf polizeilichem Gebiet“ müsse Altun „unverzüglich“ ausgeliefert werden, so schrieb Zimmermann am 21.7.1983 an den Justizminister, der sich ebenfalls für den sofortigen Vollzug ausgesprochen und dafür den „Gleichbehandlungsgrundsatz“ bemüht hatte: Schließlich habe die Bundesregierung seit der Machtübernahme durch das türkische Militär bereits 28 Flüchtlinge an die Türkei ausgeliefert. Warum sollte es Altun also anders ergehen?

Die Internationale Liga für Menschenrechte hatte angesichts dieser Gefahr schon frühzeitig auf das Schicksal Cemal Altuns aufmerksam gemacht. Zusammen mit anderen politischen Kräften im In- und Ausland, zusammen auch mit Altuns Anwalt Wolfgang Wieland forderte sie mit Beschwerden, mit Eingaben an die verantwortlichen Regierungen und mit Demonstrationen vor dem Abschiebeknast Altuns Freilassung und protestierte gegen die drohende Auslieferung, die dann auch noch verhindert werden konnte; doch für Altun änderte sich nichts an den menschenrechtswidrigen Verhältnissen in der Auslieferungshaft, nichts an der Auslieferungsdrohung, nichts an seiner Angst und Verzweiflung. Sein Todessturz markierte nicht nur das grausame Ende eines mehr als einjährigen Dramas, sondern gleichzeitig auch das Scheitern aller solidarischen Bemühungen um seine Freiheit und sein Leben – das Scheitern an einer bürokratischen Realpolitik. Folgerichtig machte die Liga die Bundesregierung und die zuständigen Berliner Behörden mitverantwortlich für Altuns Tod.

Konsequenterweise machte sich die damalige Liga-Präsidentin Alisa Fuss dann für ein Mahnmal stark, das schließlich mit Unterstützung des Bezirksamts Charlottenburg, der Bezirksbürgermeisterin Monika Wissel (SPD) und einer Vielzahl von Spendern realisiert werden konnte. Seit Juni 1996 erinnert dieses Denkmal aus Granitstein an die Tragödie. Die von Akbar Behkalam geschaffene Skulptur zeigt einen kopfüber herabstürzenden Menschen mit ausgestreckten Armen – ein Symbol für alle Asylsuchenden, die hierzulande Schaden an Leib und Leben befürchten oder erleiden müssen.

Cemal Altuns Tod hat ein Fanal gesetzt – doch hat dieses Fanal zu einem Umdenken in der Asylpolitik geführt oder gar eine Humanisierung bewirkt? Nein – so lautet die klare und bedrückende Antwort. Auch die Schicksale vieler anderer Migranten blieben folgenlos. Allein seit 1993 haben sich weit über hundert Menschen aus Angst vor drohender Abschiebung getötet oder sind bei dem Versuch gestorben, sich der Abschiebung zu entziehen. Jahr für Jahr verlieren Menschen an den Grenzen, in Abschiebehaft oder bei der gewaltsamen Abschiebung ihr Leben.

Die „Maschen im Grenzzaun“ um Europa und die Bundesrepublik sind mittlerweile enger geflochten worden. Die Abschiebegründe wurden erweitert. Die Situation im Abschiebegewahrsam hat sich nicht verbessert. Migranten gehören schon lange zu der am intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe. Seit 2002 werden sie mit den neuen „Anti-Terror“-Gesetzen unter Generalverdacht gestellt und einem noch rigideren Überwachungs- und Abschiebesystem unterworfen. Sie sind die eigentlichen Verlierer des staatlichen „Anti-Terror-Kampfes“. Die neuen Sicherheitsregelungen schaffen allerdings kaum mehr Sicherheit, sondern sind dazu geeignet, Migranten zu stigmatisieren, ihren Aufenthalt in Deutschland noch weiter zu erschweren und fremdenfeindliche Ressentiments zu schüren. Ohne den geringsten Nachweis, daß von ihnen etwa mehr Terror ausgehe als von Deutschen, werden sie zu einem gesteigerten Sicherheitsrisiko erklärt und einer entwürdigenden Sonderbehandlung unterzogen, die für viele existentielle Folgen haben kann – bis hin zu politischer Verfolgung, Folter und Mord durch die Regime, denen sie zuvor entflohen waren.

Das Mahnmal ist auch den Opfern dieser Politik gewidmet. Es wurde errichtet nahe dem ehemaligen Verwaltungsgericht an der Hardenbergstraße, das über das Schicksal von Asylbewerbern zu entscheiden hatte und Altun posthum als Asylberechtigten anerkannte. Solche Mahnmale müßten längst an ganz anderen Orten angebracht werden, dort nämlich, wo die Leitlinien der Ausländer- und Asylpolitik entschieden wurden und werden: so etwa in Bonn am ehemaligen Bundestag, wo 1993, also vor zehn Jahren, von einer großen Koalition aus CDU/FDP und SPD die Demontage des Asylgrundrechts beschlossen wurde; an Innenministerien, Ausländerämtern und Abschiebeknästen, wo die restriktive Ausländer- und Asylpolitik umgesetzt und nicht eben selten die Menschenwürde der Betroffenen verletzt wird.

Der staatliche Umgang mit traumatisierten und gefährdeten Menschen muß gründlich überdacht und verändert werden. Abschiebungen in Folterstaaten und Kriegsgebiete darf es nicht länger geben. Übermäßig lange Abschiebehaft, unzumutbare Haftbedingungen, die Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen und die gewaltsame Trennung von Familien sind ein Skandal; die praktizierte Abschiebehaft, also die Inhaftierung ohne Straftat, ohne eigenes schuldhaftes Handeln, ist prinzipiell ein Verstoß gegen Menschenrechte und gehört abgeschafft. Das Asylrecht ist ein Menschenrecht – es muß immer wieder von neuem erkämpft werden.

 

 

Rolf Gössner ist Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte.