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ND vom 11.09.03 |
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Druckausgabe eines
Artikels |
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11. September Nicht nur New Yorks Skyline hat sich verändert Sicherheit
made in Germany: Dr. Rolf Gössner über den 11. 9. Die
Terroranschläge vom 11. 09. 2001 haben weit mehr zerstört als die Skyline von
New York, weit mehr getroffen als das Selbstwertgefühl der Amerikaner. Sie
haben national wie international eine Entwicklung beschleunigt, die
zivilisatorische Grundwerte, das Selbstverständnis der Vereinten Nationen und
demokratischer Länder in Frage stellt, beschädigt, ja zerstören könnte: Wir
haben es zu tun mit einem aggressiven »Anti-Terror«-Krieg, der gegen das
Völkerrecht geführt wird und im Namen der Sicherheit globale Unsicherheit
produziert. Und wir erleben teils aberwitzige »Anti-Terror«-Reaktionen, die
die Menschen- und Bürgerrechte vieler demokratischer Staaten erodieren
lassen, zu einem dramatischen Verlust an Freiheit und Privatheit führen – und
damit zu einem Verlust an Sicherheit. Selbstverständlich
sind Regierung und Sicherheitsbehörden verpflichtet, die Mittäter und
Hintermänner der Terror-Anschläge zu ermitteln und mit geeigneten und
angemessenen Maßnahmen für die Sicherheit der Bürger zu sorgen. Doch die
Bundesregierung hat überreagiert und dabei ohne Not verfassungsrechtlich verbriefte
Grundrechte unterhöhlt. Ausgerechnet eine rot-grüne Bundesregierung hat die
umfangreichsten »Sicherheitsgesetze« zu verantworten, die in der
bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet
wurden – ohne auch nur die Frage zu stellen, ob nicht die bereits geltenden
Gesetze zur Bewältigung der Gefahren ausgereicht hätten. Schließlich gibt es
längst ein ausdifferenziertes System von Anti-Terror-Regelungen, gibt es
Raster- und Schleppnetzfahndung, verdachtsunabhängige Schleierfahndungen und Videoüberwachungen,
geheime Ermittlungsmethoden, eine Fülle von Abhör- und Kontrollmöglichkeiten
bis hin zum Großen Lauschangriff in und aus Wohnungen. Wir haben bereits eine
hohe Kontrolldichte und eine Fülle hochproblematischer Regelungen für den
ganz normalen Ausnahmezustand. Zwei Jahre nach den Anschlägen in den USA ist es höchste
Zeit, Bilanz darüber zu ziehen, was im Namen der Sicherheit mit den neuen
»Anti-Terror«-Gesetzen angerichtet worden ist. Nur vier Beispiele aus der
Fülle prekärer Regelungen: Schon bislang gehörten Migranten zu der am
intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe. Nun werden sie per Gesetz unter
Generalverdacht gestellt und einem noch rigideren Überwachungssystem unterworfen.
So werden Fremde zu gläsernen Menschen gemacht, als erhöhte
Sicherheitsrisiken stigmatisiert – und damit fremdenfeindliche Ressentiments
geschürt. Ausgerechnet die Dienste, deren Versagen im
Zusammenhang mit dem 11.9. offenkundig ist, erleben nach den Anschlägen einen
regelrechten Boom. Sie werden aufgerüstet, bekommen neue Aufgaben und quasi
polizeiliche Kontrollbefugnisse, obwohl sie kaum demokratisch kontrollierbar
sind. Tausende von Beschäftigten in »lebens- oder
verteidigungswichtigen« Betrieben (Energie, Krankenhäuser, pharmazeutische
Firmen, Bahn, Post, Telekommunikations- und Verkehrsbetriebe) werden geheimdienstlichen
Sicherheitsüberprüfungen unterzogen und ausgeforscht – und womöglich nicht
nur sie, sondern auch ihre Lebenspartner und ihr soziales Umfeld. Die beschlossene biometrische Erfassung der
gesamten Bevölkerung in Ausweispapieren und Dateien ist nicht nur ein
unverhältnismäßiger Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht,
sondern auch eine grandiose Misstrauenserklärung an die Bevölkerung. Sie
degradiert den Menschen letztlich zum bloßen Objekt staatlicher
Sicherheitspolitik. Terror stärkt den Staat und entwertet Freiheitsrechte –
das hat sich seit dem 11.9. wieder deutlich gezeigt. Es scheint, als befänden
wir uns in einem nicht erklärten Ausnahmezustand, in dem die Kompetenzen und
Befugnisse aller Sicherheitsorgane erweitert, die machtbegrenzenden
Trennungslinien zwischen Polizei und Geheimdiensten aufgelöst, ganze
Lebensbereiche problematischen Rasterfahndungen unterzogen werden und Unverdächtige
zu Sicherheitsrisiken mutieren – und ganz nebenbei wird eine der ältesten
rechtsstaatlichen Errungenschaften, die Unschuldsvermutung, aufgegeben und
die Beweislast umgekehrt. Das sind Merkmale eines autoritären Präventions-
und Sicherheitsstaates, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen verloren gehen. Es grenzt an Volksverdummung, wenn die herrschende
Sicherheitspolitik so tut, als könnten die Bürger mit der drastischen
Einschränkung von Bürgerrechten geschützt werden. Weder in einer hoch
technisierten Risikogesellschaft noch in einer liberalen und offenen
Demokratie kann es absoluten Schutz vor Gefahren und Gewalt geben. Das
Streben nach totaler Sicherheit birgt vielmehr totalitäre Züge. Es kann
zerstören, was es zu schützen vorgibt: die Freiheit. Könnte es nicht sein,
dass die sicherheitspolitischen Reaktionen auf die Anschläge weit größeren,
nachhaltigeren Schaden an Demokratie und Freiheit anrichten, als es die
Anschläge selbst vermochten? Unser Autor ist Rechtsanwalt und Publizist sowie Präsident
der Internationalen Liga für Menschenrechte. In Kürze erscheint sein neues
Buch bei Knaur »Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle
im Dienst des Staates«. (NEUES
DEUTSCHLAND 11.09.03) |