- Report 2/2005
Informationsbrief
der INTERNATIONALEN LIGA
FÜR MENSCHENRECHTE
Berlin,
im November 2005
Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter!
Wenn das Kuratorium auch in diesem Jahr aus einer Reihe
von verdienstvollen Kandidatinnen und Kandidaten auszuwählen hatte, die wegen
ihres Engagements für Menschenrechte und Frieden für die Auszeichnung mit der
Carl-von-Ossietzky Medaille nominiert wurden, so hat das zwei Seiten. Es deutet
darauf hin, dass es in der Republik weit mehr Menschen gibt, die in der
Tradition engagierter Humanität stehen, als der oft entmutigte Blick wahrnimmt.
Ihr Wirken ist aber auch ein Anzeichen für das Bestehen nicht bloß peripherer,
sondern die gesellschaftliche Verfassung der Republik in ihrem Kern angreifender
Missstände und Fehlentwicklungen.
Mit den Auszeichnungen
der Lehrerinnen Frau Niesen-Bolm und Frau Wannagat auf der einen und „Der
Arche“ auf der anderen Seite will die Liga dazu beitragen, dass ein besonders erschreckender
Übelstand stärker in das öffentliche Bewusstsein gerückt wird: Die Vernachlässigung
oder gar Nichtachtung der materiellen und geistigen Interessen von Kindern und
Jugendlichen. Deren Interessen galt und gilt die Arbeit der Preisträger, so
unterschiedlich ihr Engagement auch ist. Die Ereignisse in Frankreich
akzentuieren im Nachhinein auf eine bedrängende Weise die Richtigkeit dieser
Wahl.
Die zunehmende Entsolidarisierung und die Marginalisierung von immer
mehr Menschen ist selbstverständlich ein allgemeineres gesellschaftliches
Phänomen. Sie darf von den Akteuren der Zivilgesellschaft nicht hingenommen
werden, und zwar umso weniger, als die Entwicklung im verflossenen Jahr leider
kein Anlass zu der Hoffnung gibt, dass in naher Zukunft von der Politik
progressive Impulse ausgehen. Der Liga-Vorstand hat deshalb beschlossen, dass
die Liga künftig im Rahmen ihrer Möglichkeiten wieder stärker die Verteidigung
der sozialen Menschenrechte zu ihrer Aufgabe machen will.
Im vorliegenden Liga-Report ist
die Tätigkeit der Liga im letzten halben Jahr dokumentiert. Eine sehr zu wünschende
noch ausgreifendere Tätigkeit der Liga hängt zum einen davon ab, dass neue
Mitglieder gewonnen werden und die vorhandenen sich wieder stärker an der
Arbeit beteiligen. Zum anderen wäre dafür eine Verbesserung der finanziellen
Lage der Liga wichtig. Sie hat sich gegenüber dem vergangenen Jahr zwar
stabilisiert, aber die zur Verfügung stehenden Mittel sind weiterhin gering.
Die Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille ist für uns ein finanzieller
Kraftakt. Unsere Mitglieder, Mitstreiter und Sympathisanten mögen es nachsehen,
dass wir auch in diesem Jahr um Spenden bitten.
Ein Wort in eigener Sache. Der Vorstand betrachtet den Report
als richtiges und prinzipiell auch geglücktes Unternehmen. Leider ist aber zu
sagen, dass sich in ihm das intellektuelle Potential und die für die Liga
relevanten Erfahrungen der Mitglieder nur unzureichend wiederspiegeln. Auch bei
dieser Ausgabe sind einige zugesagte Beiträge ausgeblieben. Die Redaktion
appelliert deshalb an die Mitglieder, mehr als bisher den Report auch als eine
Möglichkeit eigener Publikation anzunehmen. Mit der Herausgabe des Reports ist
nicht wenig Arbeit verbunden. Die beiden Redakteure würde es sehr begrüßen,
wenn die oder der eine oder andere in die Redaktion eintreten würde.
Kilian Stein Berlin, November 2005
„Man muss das Unrecht auch mit
schwachen Mitteln bekämpfen“
(Bertold
Brecht, Aufsätze über den Faschismus)
Diese
Verpflichtung gilt - mit leider wieder zunehmender Dringlichkeit - nach wie
vor. Die Liga versucht, ihr nachzukommen. Damit die Liga vielleicht etwas
weniger schwach wird, braucht sie Eure/Ihre auch finanzielle Unterstützung. Die
finanzielle Situation der Liga ist seit dem letzten Aufruf vor einem Jahr
stabiler geworden. Aber nach wie vor sind wir sehr knapp dran. Insbesondere die
Preisverleihung die weiterhin politisch höchst sinnvoll ist, kostet uns
ziemlich viel Geld. Wir bitten Euch/Sie deshalb um Spenden.
Mit bestem Dank und herzlichen
Grüßen
Spenden bitte an: Bank für
Sozialwirtschaft,
Konto 33 17 100; BLZ 100 205 00
I n h a l t
Einleitung..................................................................1
Carl-v-Ossietzky-Medaillen-Verleihung 2005 ....... 2
Hintergrund-Themen
Bundesrepublik
Rot-Grüne Bürgerrechtsbilanz (Rolf Gössner)........ 3
FR:Menschenrechtsliga
rügt „Überwachungsstaat“ 6
Brauchen wir
„NS-Gedenkstätten“?
(Marianne Reiff-Hundt)....................................... 6
Biometrische Obsession (R. Gössner) .................... 7
International
George Bush – Agent des Weltgeistes (K. Stein).... 9
Italiens Flüchtlingslager (Marco Benzi)................ 10
Iran I: Fälle von Menschenrechtsverletzungen...... 12
Iran II: Menschenrechtslage
und Atompolitik (Mila Mossafer) ......................... 15
BigBrotherAward 2005
Verleihung der BigBrotherAwards
2005............... 17
Liste der Gewinner (Kurzbegründung).................. 18
BBA-Laudatio auf Otto Schily (Rolf
Gössner)….. 19
Liga-Presseerklärungen
Der Fall Öcalan vor dem EuGMR......................... 22
Historische Aufarbeitung in Ministerien............... 23
Präventiven Sicherungshaft................................... 24
Verfahren gg kurdische Anwältin Esren Keskin .. 24
Interview
"Der Fall Öcalan -
Gradmesser für die türkische Menschenrechtspolitik"
(Deutsche Welle).............................................. 25
Liga-Intervention
Kritik an «Bild» wg Wahlkampf-Vergleichs......... 27
«Bild»-Vergleich «politisch geschmacklos»......... 27
Kooperationen & Aufrufe
Für Frieden+Dialog im türk-kurdischen Konflikt.. 28
Solidarität mit Kindern ohne Aufenthaltsstatus..... 30
Appell „Freiheitsrechte achten statt ächten“.......... 31
Nachrufe
Annemarie Friedrich, Jürgen Seifert...................... 32
Termine/Literatur/Hinweise ab........................... 32
Darin: Republikanische Vespern (Kilian Stein) ... 32
Topografie des Terrors (M. Reiff-Hundt) .............. 33
„Menschenrecht auf Entwicklung“ (Rezension) .. 36
Impressum ............................................................. 38
Öffentliche Verleihung
der
Carl-von-Ossietzky-Medaille
an
die Lehrerinnen Mechthild Niesen-Bolm und Inge Wannagat und das Freizeit- und Beratungszentrum
„Die Arche“ in Berlin
Sonntag, 11. Dezember 2005, 11.00 Uhr
- Einlass ab 10.00 Uhr -
Haus der Kulturen der Welt
(Kongresshalle), John-Foster-Dulles-Allee 10, Berlin-Tiergarten (Bus 100)
Eröffnung
und Einführung: Dr. Rolf Gössner
Präsident der Internat. Liga für Menschenrechte
Laudatio: Percy MacLean
Kulturelles Begleitprogramm:
GRIPS-Theater, Kinder der „Arche“, Percussion-Group der Fritz-Karsen-Schule,
Berlin
Beitrag 5,- €, (erm. 3,- €) Karten: Tageskasse
Int. Liga für Menschenrechte verleiht
Carl-v.-Ossietzky-Medaillen 2005
an die Lehrerinnen
Mechthild Niesen-Bolm und Inge Wannagat sowie
an das Freizeit- und Beratungszentrum „Die Arche“ Berlin
Wie jedes Jahr verleiht die Internationale Liga für
Menschenrechte anlässlich des Tages der Menschenrechte im Dezember die Carl-von-Ossietzky-Medaille
an Personen und Gruppen, die sich um Verteidigung, Durchsetzung und Fortentwicklung
der Menschen- und Bürgerrechte und den Frieden besonders verdient gemacht
haben sowie an Menschen, die sich in diesem Rahmen durch ihre Zivilcourage und
ihr soziales Engagement vorbildlich verhalten.
In diesem Jahr erhalten die Carl-von-Ossietzky-Medaille
die Berliner Lehrerinnen Mechthild Niesen-Bolm und Inge Wannagat sowie das Freizeit-
und Beratungszentrum „Die Arche“ in Berlin.
Mit diesen Ehrungen macht die Internationale
Liga für Menschenrechte, die nicht nur die klassisch-bürgerlichen, sondern
auch die sozialen Menschenrechte einklagt, auf die soziale Kälte in unserer
Gesellschaft und den fortschreitenden Abbau des Sozialstaates aufmerksam. Frau
Niesen-Bolm und Frau Wannagat werden für ihr entschlossenes und mutiges Handeln
ausgezeichnet, durch das sie die Abschiebung einer seit 1995 in Berlin lebenden
13jährigen Schülerin nach Bosnien verhindern konnten. „Die Arche“ wird
für das umfassende ehrenamtliche Engagement zur Bekämpfung der Armut von
Kindern und Jugendlichen in sozial benachteiligten Berliner Stadtteilen geehrt,
mit dem die „Arche“-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter die Menschenwürde von
Familien am Rande unserer Gesellschaft stärken.
Mit der Preisverleihung stellt die Liga das Verhalten der
Preisträgerinnen als vorbildlich und
jeder Unterstützung wert heraus.
Sie will aber auch das Bewusstsein dafür schärfen, dass die Bundesrepublik noch
weit davon entfernt ist, die Standards zu erfüllen, die sich für sehr junge
Menschen aus dem Grundgesetz und dem internationalen Übereinkommen über die Rechte
der Kinder von 1989 ergeben – in Abwandlung eines Satzes von Berthold Brecht: „Wehe
dem Land, das für seine Kinder solche Helfer braucht.“
Für
den Vorstand der Liga
Dr. Rolf
Gössner, Kilian Stein, Yonas Endrias
Hintergrund-Themen:
Bundesrepublik
SIEBEN MAGERE JAHRE FüR DIE BüRGERRECHTE
Rot-Grün: Um den Überwachungsstaat verdient gemacht
Von Rolf
Gössner
Das Misstrauensvotum gegen Kanzler
Schröder kam eigentlich zu spät. Einen wirklichen Sinn ergeben hätte ein
solcher Schritt vor der deutschen Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg
gegen Jugoslawien oder wegen Hartz IV oder nicht zuletzt wegen der
"Antiterrorgesetze". Dabei hatten doch im Herbst 1998 die angehenden
Koalitionäre vollmundig eine neue Bürgerrechtspolitik versprochen. Besonders
die Bündnisgrünen empfahlen sich als Bürgerrechtspartei, die nach 16 Jahren
Kohl & Kanther den Bürgerrechten endlich wieder zum Durchbruch verhelfen
wollte.
Doch anders als von vielen erhofft, kam es schon mit dem Koalitionsvertrag zu keinem wirklichen Umdenken und Umsteuern in der Innenpolitik. Zu keiner Zeit sah sich die prekäre Hinterlassenschaft der schwarz-gelben Vorgänger wirklich zur Disposition gestellt. Mit Ausnahme der Kronzeugen-Regelung wurde kein einziges noch so bürgerrechtsschädliches Repressionsinstrument revidiert. Auf eine wirklich liberalere Kriminalpolitik hoffte man ebenso vergeblich wie auf eine demokratische Polizeireform oder ein humanes Asyl- und Ausländerrecht. Unter Rot-Grün gab es keinen Ausstieg aus dem autoritär-präventiven Sicherheitsstaat - im Gegenteil.
Schon bei Halbzeit dieser Regierung war klar: die erhoffte
Wende in Sachen Bürgerrechte unterblieb - abgesehen von respektablen Ausnahmen
wie der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts oder dem überfälligen Zuwanderungsgesetz.
Doch selbst da sind die Erwartungen kaum erfüllt worden: Das Staatsbürgerrecht
ist nur recht eingeschränkt reformiert worden, und das neue Zuwanderungsgesetz
verdient seinen Namen nicht - es müsste Zuwanderungsbegrenzungsgesetz heißen,
wie die Praxis zeigt. Auch andere rot-grüne Aktivposten haben einen entscheidenden
Haken: Sowohl das Informationsfreiheitsgesetz als auch das
Antidiskriminierungsgesetz sind zu spät auf den parlamentarischen Weg gebracht
worden, so dass letzteres gar dem vorzeitigen Ende von Rot-Grün zum Opfer
fallen dürfte. Zwei andere Großprojekte hatten hingegen durchschlagende
Wirkung: Das NPD-Verbotsverfahren und die
"Antiterror"-Gesetzespakete.
Erinnern wir uns, im Herbst 2000 hatten Bundesregierung,
Bundestag und Bundesrat im Sinne des "Aufstands der Anständigen"
einen politisch unverantwortlichen Antrag auf Verbot der rechtsextremen NPD
gestellt. Unverantwortlich deshalb, weil vor allem die Regierung diesen Antrag
ungeachtet einer Unterwanderung der NPD durch V-Leute auf den Weg brachte.
Schließlich war der Verfassungsschutz seit langem über ein Netz von bezahlten
V-Leuten in die NPD und ihre rassistisch-kriminellen Machenschaften
verstrickt. Etwa 30 der 200 Vorstandsmitglieder standen zuletzt als V-Leute im
Sold des Geheimdienstes - allein diese Zahl an staatlich bezahlten Neonazis
dürfte prägenden Einfluss auf die NPD gehabt haben. Der eigentliche Skandal
bestand darin, dass die Exekutive diese Infiltration gegenüber den Verfassungsrichtern
vertuschen wollte, obwohl wesentliche Teile des Verbotsantrags gerade auf den
Zeugenaussagen dubioser V-Leute basierten, die dem Quellenschutz unterlagen.
Das hätte ein rechtsstaatlich-faires Verbotsverfahren letztlich verhindert und
zu einem verfassungswidrigen Geheimprozess geführt. Deshalb war es nur
konsequent, dass das Bundesverfassungsgericht dieses geheimdienstlich verseuchte
Verfahren im März 2003 einstellte.
Nach dem 11. September 2001 war es besonders Innenminister
Schily, der mit seinem "Antiterror"-Aktionismus selbst die Hardliner
von CDU/CSU verblüffte. Er werde "alle polizeilichen und militärischen
Mittel aufbieten, über die die freiheitlich-demokratische Staatsordnung... verfügt"
- mit dieser martialischen Ankündigung trug Schily der damaligen Stimmungslage
Rechnung, ließ langgehegte Pläne aus den Schubladen der Macht kramen, zu voluminösen
"Otto-Katalogen" schnüren und mit Antiterror-Etiketten bekleben.
Selbstverständlich gehört es zu den Aufgaben von Regierung
und Sicherheitsbehörden, die Mittäter und Hintermänner von Anschlägen zu
ermitteln und mit geeigneten, aber auch angemessenen Maßnahmen für die Sicherheit
der Bürger zu sorgen. Die rot-grüne Bundesregierung jedoch tat weit mehr: Sie
unterhöhlte verfassungsrechtlich verbriefte Grundrechte, obwohl es gerade in
einer solch prekären Lage der Unsicherheit und Angst, wie sie nach dem 11.
September 2001 zu spüren waren, Pflicht einer souveränen Exekutive gewesen
wäre, Realitätssinn und Augenmaß zu bewahren, statt dem Ruf nach dem
"starken Staat" mit weitgehend symbolischer Politik zu folgen.
Anstatt der Bevölkerung die Wahrheit über Unsicherheitsfaktoren in einer
Risikogesellschaft zuzumuten, wurden ihr unhaltbare Sicherheitsversprechen
gemacht. Man bediente das Sicherheitsbedürfnis der Bürger und nutzte es, um
(zumeist) längst geplante staatliche Nachrüstungsmaßnahmen zu legitimieren.
Es war eine rot-grüne Regierung, die mit den
Antiterror-Paketen die umfangreichsten "Sicherheitsgesetze" zu verantworten
hatte, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich
verabschiedet worden sind - ohne auch nur die Frage zu stellen, ob nicht die
bereits geltenden Gesetze ausreichen, um die Gefahren einzudämmen. Es
existierte längst ein ausdifferenziertes System von Antiterror-Regelungen mit
Sonderbefugnissen für Polizei, Justiz und Geheimdienste - es gab verdeckte Ermittler,
die Raster- und Schleppnetzfahndung, die verdachtsunabhängige
"Schleierfahndungen" sowie eine Fülle von Abhör- und Kontrollmöglichkeiten.
Mit den neuen Antiterror-Gesetzen wurde draufgesattelt und ein fataler Trend bedient:
die weitere Erhöhung der Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft - im Namen
der Sicherheit und auf Kosten der Freiheitsrechte, sozusagen für den ganz
normalen Ausnahmezustand.
Nur wenige Beispiele aus der Fülle
neuer Befugnisse, die 2002 und später in Kraft getreten sind: Zwar gehörten
Migranten schon zuvor zu der am intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe,
nun aber stehen sie per Antiterror-Gesetz unter Generalverdacht und sehen sich
einer noch rigideren Überwachung unterworfen. Ohne konkreten Anlass ist es
möglich, in Ermittlungen zu geraten, die existenzielle Folgen haben konnten.
Migranten - unter ihnen besonders Muslime, vielfach als "Islamisten"
stigmatisiert und zu innenpolitischen Feinden gestempelt - waren die
Hauptleidtragenden ausufernder Rasterfahndungen. Doch kein einziger
"Schläfer" konnte mit dieser hochgelobten elektronischen
Abgleichsmethode anhand unauffälliger Suchkriterien entdeckt werden.
Ausgerechnet die Geheimdienste,
deren Versagen am 11. September 2001 offenkundig wurde, erlebten nach den
Terroranschlägen einen wahren Boom. Sie wurden aufgerüstet und erhielten neue
Befugnisse, die tief in die Grundrechte eingreifen. So dürfen sie inzwischen
mit so genannten IMSI-Catchern Handys orten, womit sich Bewegungsprofile ihrer
Besitzer erstellen lassen, auch wenn die Geräte nur stand by geschaltet sind.
Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst dürfen darüber hinaus von Banken,
Post, Telekommunikationsanbietern und Fluglinien Auskünfte verlangen über Geldanlagen,
Konten, Reisen oder andere Daten ihrer Kunden. Mit dem Automatisierten Kontenabrufverfahren
kann die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zur Bekämpfung des
Terrorismus und der Geldwäsche heimlich Kontostammdaten (Name, Geburtsdatum,
Anschrift des Inhabers, Verfügungsberechtigungen) bei allen Kreditinstituten
abrufen. Alle 2.200 Geldinstitute müssen über eine Computer-Schnittstelle
jederzeit derartige Informationen über sämtliche Konten und Depots (noch nicht
über die Inhalte) von allen Kunden zum Abruf bereithalten, ohne dass diese oder
die Banken selbst von den Online-Abfragen etwas bemerken. Niemand weiß genau,
was mit den Daten später geschieht.
Künftig werden biometrische Daten
wie digitale Gesichtsbilder und Fingerabdrücke in die Ausweispapiere aufgenommen.
Beide Merkmale sollen auf Chips gespeichert werden; die parallele Speicherung
in (zunächst) dezentralen Hintergrunddateien würde einen automatischen Abgleich
mit den Fingerabdruckdateien von Straftätern und Verdächtigen technisch ebenso
möglich machen wie mit Fingerabdrücken, die an Tatorten krimineller Handlungen
gefunden werden. Auch die digitalisierten Gesichtsbilder könnten mit
Video-Aufnahmen aus dem öffentlichen Raum abgeglichen werden, um eine verdächtige
oder gesuchte Person herauszufiltern.
Schließlich erlaubt es der neue §
129b Strafgesetzbuch, dass hierzulande mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer
auch ausländischer "terroristischer Vereinigungen" (§ 129a) strafrechtlich
verfolgt werden, selbst wenn sie sich in Deutschland völlig legal verhalten -
eine Ermächtigung durch das Bundesjustizministerium reicht aus. Ein Novum in
der bundesdeutschen Rechtsgeschichte, mit dem das politische Strafrecht auf die
Spitze getrieben und das Ministerium zum Richter über politische Bewegungen im
Ausland erhoben wird - und zwar weltweit.
Die meisten Antiterrormaßnahmen folgen einer seit
Jahrzehnten forcierten Präventionsstrategie, die mit jedem neuen
Überwachungsinstrument immer mehr zur Maßlosigkeit neigt: Die
Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, verliert
ihre machtbegrenzende Bedeutung - der Bürger mutiert zum potentiellen
Sicherheitsrisiko, der seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muss; und
die "Sicherheit" wird zum Supergrundrecht, das die Grundrechte der
Bürger als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates in den Schatten zu stellen
droht.
Längst ist von Otto Schily ein
neues "Sicherheitspaket" geschnürt worden, und auch die CDU/CSU
rüstet auf. Dabei geht es nicht mehr nur um Einzelmaßnahmen wie die abermalige
Verschärfung des Ausländerrechts, noch mehr Videoüberwachung im öffentlichen
Raum, die geheimdienstliche Beobachtung und Infiltration von Moscheen, die
langfristige Speicherung von Telefon- und Internetdaten sowie die präventive
Sicherungshaft für "gefährliche Personen". Inzwischen steht die
Umkrempelung der gesamten "Sicherheitsarchitektur" und die Entkernung
des demokratischen Rechtsstaats auf der Agenda.
Drei Tabubrüche sind absehbar: die
Militarisierung der Inneren Sicherheit durch den erleichterten Einsatz
der Bundeswehr im Inneren, der bereits möglich ist - etwa über Notstandsgesetze
(1968) und Verteidigungspolitische Richtlinien. Dazu gehört auch die bereits
gesetzlich geregelte Möglichkeit zum präventiven Abschuss gekaperter
Passagierflugzeuge, um Anschläge aus der Luft zu verhindern - eine staatliche
Lizenz zum gezielten Töten, würden doch im Falle eines solchen Abschusses auf
Befehl des Verteidigungsministers mit Sicherheit Hunderte vollkommen
unschuldiger Passagiere sterben.
Der zweite Tabubruch besteht in
der Zentralisierung der Sicherheitsbehörden, allen voran der Polizei
und des Verfassungsschutzes, obwohl diese nach dem Föderalprinzip grundsätzlich
Ländersache sind - und der dritte in einer verstärkten Verzahnung von
Polizei und Geheimdiensten mit dem Ziel eines intensivierten
Datenaustauschs (gemeinsame Lagezentren zur Terrorismusabwehr, zentrale
"Islamisten"-Datei, europaweite Datenvernetzung ohne eine
funktionierende demokratische Kontrolle).
Eine solche Verzahnung würde das verfassungsmäßige Gebot der Trennung von Polizei und Geheimdiensten unterlaufen - jener bedeutsamen Lehre, die ursprünglich aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo in der Nazizeit gezogen worden war. Doch lange schon wächst hier zusammen, was nicht zusammen gehört. Am Ende wird sich wohl alles in einer mächtigen Vereinigten Sicherheitsagentur zusammenfinden. Zur Erinnerung: Mit dem Trennungsgebot sollte ursprünglich verhindert werden, dass sich die Macht der Sicherheitsbehörden in einem zentralen Apparat konzentriert und sich so demokratischer Kontrolle entzieht.
Etliche der jetzt schon gültigen rot-grünen Antiterror-Maßnahmen
zeigen Merkmale eines autoritären Präventionsstaates, der einen Überwachungsstaat
heraufbeschwört, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen verloren gehen. Die
meisten der Befugniserweiterungen sind wenig geeignet zur Bekämpfung eines
religiös aufgeladenen, selbstmörderischen Terrors; sie schaffen kaum mehr
Sicherheit, gefährden aber die Freiheitsrechte umso mehr. An dieser Entwicklung
konnte auch die vom grünen Koalitionspartner durchgesetzte Evaluation und Befristung
bestimmter Antiterror-Gesetze nichts ändern - zumal das Bundesinnenministerium
selbst evaluiert und in seinem Bericht vom Mai 2005 erwartungsgemäß resümiert:
Die Sicherheitsbehörden nutzten die neuen Befugnisse "erfolgreich, zurückhaltend
und verantwortungsvoll". Die Gesetze hätten sich bewährt und müssten in
Kraft bleiben - ja, es müsse unbedingt noch nachgelegt und ein drittes Sicherheitspaket
geschnürt werden. Bei Gericht würde man wohl von einem Gefälligkeitsgutachten
sprechen.
"Der Erfolg des rot-grünen
Projektes wird nicht zuletzt entscheidend davon abhängen, ob diese Gesellschaft
und dieser Staat im Verlaufe der anstehenden Regierungsperiode ein Stück menschlicher,
demokratischer, sozialer und bürgerrechtsverträglicher geworden sein
wird", hieß es in einem Memorandum in Sachen Menschen- und Bürgerrechte,
das acht Bürgerrechtsorganisationen unter dem Titel Umdenken und Umsteuern
in der Politik der "Inneren Sicherheit" - Zumutungen an eine rot-grüne
Bundesregierung im Herbst 1998 an die Koalitionäre gerichtet hatten.
Zwischenzeitlich haben wir zwar die eingetragene Lebenspartnerschaft, einen verbesserten
Opferschutz, das reformierte Staatsbürgerschaftsrecht, ein Einwanderungs- und Informationsfreiheitsgesetz
als Positivposten zu verzeichnen - doch als struktureller Negativposten stellt
sich ein Sicherheitsstaat dar, der in dem Maße aufgerüstet worden ist, wie der
Sozialstaat abgetakelt wurde.
Aus: 19.08.2005
Zum selben
Thema:Bürgerrechtliche Negativbilanz, in: OSSIETZKY 17/2005, S. 625 ff.
Eine Langversion des Textes findet sich in: SCHWARZBUCH ROT-GRÜN von Joachim Bischoff/Wolfram Burkhardt/Uli Cremer/Axel Gerntke/Rolf Gössner/Joachim Rock/Johannes Steffen/ Franz Walter. VSA-Verlag. Hamburg 2005, S. 52 ff.
Bürgerrechte
Menschenrechtsliga rügt „Überwachungsstaat“
Berlin.· Die rot-grüne Bundesregierung hat
nach Ansicht der Internationalen Liga für Menschenrechte in den vergangenen sieben
Regierungsjahren Bürgerrechte entscheidend abgebaut. So zeigten etliche
Anti-Terror-Maßnahmen "Merkmale eines autoritären Präventionsstaates, der
einen Überwachungsstaat heraufbeschwört", kritisiert der Präsident der
Liga, Rolf Gössner, in einem Gastbeitrag für die in Berlin erscheinende
Wochenzeitung Freitag (Ausgabe vom 19. August 2005). Die meisten der
Kompetenzerweiterungen für die Sicherheitsbehörden seien "wenig geeignet
zur Bekämpfung eines religiös aufgeladenen, selbstmörderischen Terrors".
Sie hätten kaum Sicherheit geschaffen, gefährdeten aber die Freiheitsrechte
umso mehr", betonte Gössner.
Der Jurist warnte vor einer
weiteren "Militarisierung" der inneren Sicherheit, Zentralisierung
der Sicherheitsbehörden und Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten. Selbst
die rot-grünen "Aktivposten" hätten Haken, unterstrich Gössner. Das
Staatsbürgerrecht sei "nur recht eingeschränkt reformiert worden",
und das neue Zuwanderungsgesetz müsse eigentlich "Zuwanderungsbegrenzungsgesetz
heißen, wie die Praxis" zeige, kritisierte der Jurist ins seinem
Gastbeitrag.
epd
20. August 2004
BERLIN. Die rot-grüne
Bundesregierung hat nach Ansicht der Internationalen Liga für Menschenrechte in
den vergangenen sieben Regierungsjahren Bürgerrechte entscheidend abgebaut. So
zeigten etliche Antiterror-Maßnahmen "Merkmale eines autoritären Präventionsstaates,
der einen Überwachungsstaat heraufbeschwört", kritisiert der Präsident der
Liga, Rolf Gössner, in einem Gastbeitrag für die Wochenzeitung Freitag. (epd) 20. August 2005
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Brauchen wir etwa „NS-Gedenkstätten“?
FAZ und taz, Süddeutsche, Tagesspiegel, Zeit und Freitag, Die Mahnung, Nordberliner, Abendblatt, Innen- und Kultusminister, Staatssekretäre, Professoren und Geschichtsexperten, namhafte Zeitungsschreiber und Medienmacher – das NS geht flott von der Lippe. Keinem bleiben die fatalen zwei Buchstaben im Halse stecken.
Im Ernst: Machen Sie sich mal die Mühe, das NS ordentlich auszusprechen. Dann dämmert wohl der Unsinn, der Anti-Sinn des unverzeihlich schlampigen Sprachgebrauchs. Ich will keine „nationalsozialistische Gedenkstätte“, keine „nationalsozialistische Gedenklandschaft“, „nationalsozialistische Gedenkpädagogik“, oder was der Kombinationen mehr sind. Welch ein Alptraum. Wir gedenken nicht des Nationalsozialismus, sondern seiner Opfer, seiner Widersacher, der Auf-
klärer, der Kämpfer und Mahner gegen die rechtsbrechende,
menschenverachtende, barbarische Mord- und Kriegsmaschinerie des deutschen Faschismus.
Das trifft auf alle Gedenkorte jeglicher Art zu. Es ist absurd, wenn
ausgerechnet Innenminister Otto Schily (SPD) das Denkmal für die ermordeten
Juden Europas im Fernsehen als NS-Gedenkstätte bezeichnet.
Erschreckend und deprimierend, in welchem Aus-
maß Nazi- und
Militärjargon die öffentliche Sprache und das Politgeschwätz durchtränkt haben
mit dem Gift von Vokabeln in den Denkstrukturen - unmerklich, Viren gleich, mit
maulfaulen Abkürzungen im Dreibuchstabenformat. Oder wissen Sie, was BKM
bedeutet? Victor Klemperer hätte in den vergangenen 60 Jahren sein Notizbuch
Lingua Tertii Imperii verdreifachen können.
BIOMETRISCHE OBSESSION
Zur übereilten Einführung des neuen ePasses
Von Rolf Gössner
Noch-Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hat kürzlich den
„BigBrotherAward“ für sein „Lebenswerk“ verliehen bekommen – hauptsächlich für
seine „Verdienste“ um den Ausbau des deutschen und europäischen Überwachungssystems
auf Kosten der Bürger- und Freiheitsrechte sowie für seine hartnäckigen
Bemühungen, den Datenschutz und die grundgesetzlich garantierte Informationelle
Selbstbestimmung auszuhöhlen – vermeintlich im Interesse von Sicherheit und
Terrorbekämpfung.
Zu den großen Obsessionen des Preisträgers, für die er
ebenfalls „ausgezeichnet“ wurde, gehört die digitale Erfassung biometrischer
Merkmale für Ausweispapiere. Seit Anfang November werden in der Bundesrepublik
als erstem EU-Land solche Merkmale im Reisepass digital vermerkt. Auf einem
kontaktlos per Funk auslesbaren RFID-Mikrochip wird neben den Personalien
zunächst ein digitalisiertes Gesichtsbild gespeichert, ab März 2007 kommen zwei
digitale Fingerabdrücke hinzu. Die Speicherung weiterer Merkmale, etwa Irisscan
oder genetischer Fingerabdruck, ist möglich. Der nächste Schritt: die
Einführung des biometrischen Personalausweises.
Unter souveräner Missachtung von
Parlamenten und Datenschützern und ohne gesellschaftliche Debatte boxte Schily
sein Lieblingsprojekt auf EU-Ebene durch – am Bundestag vorbei, ohne
demokratische Legitimation. Statt das Parlament über die Folgen für Datenschutz
und Bürgerrechte entscheiden zu lassen, forcierte er eine EU-Verordnung, die
unmittelbare Rechtswirkung in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union
hat. So brachte es Schily fertig, das Pass-Gesetz zu umgehen, das zur
Festlegung der biometrischen Daten ein neues, vom Bundestag zu beschließendes
Gesetz fordert.
Nicht allein die Jury des BigBrotherAward hält Schilys selbstherrlichen Akt für zutiefst undemokratisch. Als der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar (Grüne) die übereilte Einführung des „ePasses“ durch die europäische Hintertür kritisierte und ein umfassendes Sicherheitskonzept zum Schutz der Daten forderte, bezichtigte ihn Schily des Amtsmissbrauchs. Es liege nicht in Schaars Kompetenz, über Sinn und Zeitpunkt der Einführung biometrischer Merkmale zu befinden, wies ihn Schily via Rundfunk zurecht und empfahl ihm gebieterisch „mehr Zurückhaltung“.
Mit diesem selbstgerechten Angriff auf die Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten wollte Schily offenbar einen fachkundigen Kritiker in seinem eigenen Verantwortungsbereich zum Schweigen bringen. Doch es gehört zu den Pflichten eines Datenschutzbeauftragten, die betroffene Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen, dass bis heute keine transparente Risikoanalyse existiert, um Missbrauch und Systemanfälligkeiten der Digital-Biometrie in Ausweisen überhaupt einschätzen zu können. Nach einer Studie des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik ist die neue Technologie weder praxistauglich noch ausgereift. So ist die Gesichtserkennung stark fehlerbehaftet, allein schon, weil sich Gesichter im Laufe der Jahre erheblich verändern. Es steht zu befürchten, daß täglich Tausende Menschen an Flughäfen zurückgewiesen und in ihrer Reisefreiheit beschränkt werden, weil ihre Fotos oder Fingerabdrücke von der Software nicht akzeptiert werden oder einem Vergleich mit dem leibhaftigen Original nicht standhalten. Solche Personen kommen in Rechtfertigungszwang, schlimmstenfalls geraten sie in einen bösen Verdacht.
Elektronische Ausweise sind zudem
missbrauchsanfällig: Die biometrischen Daten können an allen Kontrollstellen im
In- und Ausland ausgelesen und in Datenbanken gespeichert werden – ohne dass
die Betroffenen wissen, wer auf die sensiblen Daten Zugriff hat und wofür er
sie anschließend verwendet. Selbst das kontaktlose und daher unbemerkte
Auslesen der RFID-Chips per Funk ist nicht ganz auszuschließen. Nicht nur
Grenzkontrollstellen, sondern auch unbefugte Dritte könnten Bewegungsprofile
argloser Passinhaber anfertigen.
Zwar konnten die Grünen im Bundestag Schilys ursprünglichen Plan, alle biometrischen Daten in einer Zentraldatei zu speichern, bislang noch verhindern. Doch auch dezentrale Speicherungen bergen Risiken: Mit geringem Mehraufwand könnten biometrische Passdaten aus dezentralen Dateien automatisch mit Fahndungsdateien und Fingerabdrücken von Straftätern und Verdächtigen abgeglichen werden, aber auch mit Fingerabdrücken, die an Tatorten gefunden werden. Und die digitalisierten Gesichtsbilder könnten etwa mit Video-Aufnahmen aus dem öffentlichen Raum abgeglichen werden, um eine verdächtige oder gesuchte Person herauszufiltern. Ein weiterer Schritt zum Generalverdacht gegen alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes – oder gleich ganz Europas, denn auf EU-Ebene gibt es bereits Pläne für eine biometrische Zentraldatei.
Im Zusammenhang mit elektronischen Ausweispapieren wird eine milliardenteure Überwachungsinfrastruktur mit hohem Missbrauchspotential aufgebaut. Für die Bürger steigen die Kosten eines Reisepasses um mehr als das Doppelte: von 26 auf 59 Euro; wie hoch die Infrastrukturkosten liegen, wagen wir nicht zu schätzen. Doch der riesige Kostenaufwand steht in keinem vernünftigen Verhältnis zum angeblichen Sicherheitsgewinn. Denn auch der „ePass“ mit seinen biometrischen Merkmalen kann manipuliert werden.
Die bisherigen bundesdeutschen Ausweispapiere gelten übrigens als die fälschungssichersten der Welt. Gleichwohl verkaufte Otto Schily sein biometrisches Projekt als großen Fortschritt für die Sicherheit, gegen organisierte Kriminalität und internationalen Terrorismus. Mit dieser Behauptung nährte Schily allenfalls eine riskante Sicherheitsillusion, denn der „ePass“ führt keineswegs automatisch zu mehr Sicherheit. Weder die Selbstmord-Anschläge in New York noch diejenigen in Madrid und London hätten mit der neuen Technologie verhindert werden können. Schließlich gibt es kein biometrisches Merkmal, das signalisiert: „Dieser Pass gehört einem potentiellen Terroristen – bitte vor jedem Anschlagsversuch kontrollieren.“
Schily nötigte uns den „ePass“ nicht nur als vermeintliches Sicherheitsinstrument auf, sondern auch als Innovationsprojekt zur Sicherung nationaler Standortvorteile: Die rasche Einführung der biometrischen Verfahren vor allen anderen EU-Staaten liege im ureigenen deutschen Interesse. Damit „bringen wir den Beweis“, so Schily in einer Rede am 2. Juni 2005, „wie rasch sich deutsche Firmen auf die neue Sicherheitstechnik und auf den zukunftsorientierten Wachstumsmarkt der Biometrie eingestellt haben“. Deutschland nehme so in Sachen Sicherheit eine Führungsrolle in der EU ein. Letztlich handelt es sich hier um verdeckte Wirtschaftsförderung, etwa zugunsten der privatisierten Bundesdruckerei GmbH und der Chiphersteller Philips und Infineon – aber auch um vorauseilenden Gehorsam gegenüber den USA, die auf die europäischen Regierungen Druck ausgeübt hatten.
Die biometrisch-digitale Erfassung der gesamten Bevölkerung ist nicht nur ein unverhältnismäßiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung, sondern auch eine Misstrauenserklärung an die Bevölkerung, die sich behandeln lassen muss wie bislang nur Tatverdächtige oder Kriminelle im Zuge einer erkennungsdienstlichen Behandlung. Mit Schilys biometrischer Obsession werden Menschen im Namen vermeintlicher Sicherheit zu bloßen Objekten staatlicher Macht degradiert – ohne dass dies auch nur durch „Gefahrennähe“ des Einzelnen gerechtfertigt wäre. Schily kontert mit dem zynischen Argument, „die Würde des Fingers“ sei auch nicht größer als die des Gesichts. Im übrigen beruft er sich gern auf spanische Ausweise, die schon seit Jahrzehnten nicht digitalisierte Fingerabdrücke enthalten. Allerdings verschweigt er, dass es sich dabei um ein Relikt aus faschistischen Franco-Zeiten handelt. Und er verschweigt, dass damit weder Attentate der baskischen ETA noch die Anschläge von Madrid verhindert werden konnten.
Jetzt wird selbst den
hartnäckigsten Sicherheitsfanatikern das Lachen vergehen, denn ein solches ist
auf den neuen Digitalfotos verboten. Offene Münder oder blitzende Zähne könnten
nämlich die Hightech-Lesegeräte irritieren. Lediglich ein leichtes Grinsen mit
geschlossenen Lippen und bei ansonsten neutralem Gesichtsausdruck, total
frontal und mit der Nase auf einer senkrechten Mittellinie wird noch statthaft
sein. Beim elektronischen Gesichtsabgleich werden wohl Vollbärte, dicke
Brillen, aufgespritzte Lippen oder operierte Nasen genauso zum Sicherheitsproblem
wie das unvermeidliche Älterwerden, das Falten ins Gesicht zeichnet.
Hintergrund-Themen:
International
GEORGE W. BUSH – AGENT DES WELTGEISTES
Von Kilian Stein
Die Juristin Sybille Tönnies
verleiht im Leib- und Magenblatt des Großbürgertums der Außenpolitik der USA
metaphysische Weihen. („The Powers That Be“, FAZ vom
24.2.05). In der gegenwärtig
dominierenden imperialistischen Apologie wird die alte Unterscheidung zwischen
Zivilisierten und Unzivilisierten (nach Cecil Rhodes „Die Bürde des weißen
Mannes“) noch mit dem Vokabular von Menschenrechten, Freiheit, Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit umschrieben. Auf solchen Schnickschnack verzichtet die Autorin.
Für sie steht historisch nichts anderes an, als die Errichtung eines unter
Führung der USA stehenden Weltstaates. Dieses große Ziel kennt keine
völkerrechtlichen Begrenzungen und keine Rücksichten auf Menschen. Seit dem Naziideologen
Carl Schmitt hat es in Deutschland keine solch offene Geringschätzung positiven
Rechts mehr gegeben. Zunächst eine Zusammenfassung ihrer Argumentation in den
Grundzügen.
“The Powers That Be“, die wirkliche Macht, das ist für die Autorin mit
Hegel als ihrem Kronzeugen der Weltgeist, letztlich Gott, eine ungeheure
überindividuelle Kraft des Geistes, die sich langsam und zäh durch die Geschichte
arbeitet. Die bürgerliche Gesellschaft ist der Endpunkt seines Wirkens. Der
Exekutor des Weltgeistes sind die großen historischen Individuen, die
vollstrecken, was „not und an der Zeit ist“. Deren Zwecke, deren Moral und
selbst deren Einsichtsfähigkeit in den höheren Sinn ihres Tuns sind ohne tieferes
Interesse gegenüber dem Umstand, dass sie „dem Weltgeist die Kastanien aus dem
Feuer holen“ (alles Hegel). Die Autorin übersetzt das so in die heutige geschichtliche
Situation: „Jetzt macht sich die amerikanische Politik den Dammbruch zunutze
[gemeint die Auflösung des Völkerrechts, die durch den Jugoslawienkrieg
eingeleitet worden sei, wie sie mit Genugtuung schreibt; d.V.] und schreitet –
mit fragwürdigen Motiven, mit Hilfe von Informationen, die aus fragwürdigen Quellen
stammen – ohne Rücksicht auf staatliche Grenzen fort. Anstatt nun zu erörtern,
ob die Monopolisierung der Gewalt in der Welt ansteht, unterhält man sich über
die Bosheit und Dumm-heit des amerikanischen Präsidenten und die
Hinterhältigkeit seiner Mannschaft.“ Der Weltgeist strebt nämlich mit Bush als
seinem, leider bewusstlosen, Agenten in einer letzten Etappe geschichtlicher
Entwicklung einem Weltstaat zu. Vor uns liegt in der Logik von Tönnies eine Kette
von Begebenheiten, die Trümmer auf Trümmer häufen – bis die Zentralisierung der
Gewalt in den Händen der Vereinigten Staaten durchgesetzt ist. Für die
Machtanbeterin ist diese Entwicklung „ein ehrwürdiger Akt der Vernunft“.
Ganz in der politischen Hauptlinie der FAZ weist die Autorin dabei allzu
kecke Ambitionen der ein wenig zurückhaltenderen europäischen Partner zurück.
„Die Kristallisierung einer effektiven Weltexekutive kann nur um den Punkt
herum erfolgen, an dem schon die meiste Gewalt konzentriert ist.“ Die Vereinten
Nationen vollends sind ein lästiges Hindernis, „wenn man die Unterwerfung aller
Partikularmächte unter diejenige Gewalt, die die stärksten militärischen Mittel
hat, als allgemeine Tendenz anerkennt“.
Und wie sollen sich die betroffenen Völker gegenüber dieser Gewalt
verhalten? Die Antwort der Autorin ist klar. Sie rät zur „Kapitulation, die
Deutschland 1945 vorgenommen hat und die dem Rest der Welt zu empfehlen wäre“. Oder
ethisch formuliert: „Pazifismus heißt ... Unterwerfungsbereitschaft.“ Unter
Berufung auf eine berühmte Rede des Indianerhäuptlings Sitting Bull nennt Tönnies den betroffenen Völkern die Alternative zur
Unterwerfung: ein Schicksal wie das der nordamerikanischen Indianer. Freilich
weiß sie nur zu gut, dass das Kapitulationsangebot ausgeschlagen wird. Aber die
Schuld an künftigen Kriegen ist gewissermaßen auf Vorrat den Opfern zugewiesen,
die ihrer Pflicht zur kampflosen Übergabe nicht nachgekommen sind.
Den Schlussstein ihrer Argumentation bilden drei Gründe für die Notwendigkeit einer US-amerikanisch dominierten Weltexekutive als dem „Vernünftigen“. Die Bedrohung der Ökologie des Globus (!). Die Atombombe, „die die militärische Entmachtung der Welt gebietet“. Schließlich, hierin offen anti-neoliberal, die wirtschaftliche Entwicklung. „In dieser nicht mehr durch eine innere Solidarität zusammengehaltenen [gemeint sozialökonomischen; d.V.] Struktur ist die zentrale, auf das Welt-Allgemeinwohl gerichtete staatliche Regelung unentbehrlich.“
Was für die Autorin die Realisierung von Kants ewigem Frieden sein
würde, stellt sich nach menschenrechtlichen Maßstäben als ein Alptraum dar. Die
barbarischen Mittel denunzieren das Ziel als eine globale Hölle. Dieser
Weltstaat ist aber nicht nur nicht erstrebenswert, er ist wohl auch nicht
durchsetzbar. Er dürfte an der Gegengewalt aus der Dritten Welt scheitern, die,
wie wir wissen, leider auch perfide sein kann und dem Gegner politisch in die
Hände spielend. Dazu, so ist zu hoffen, an Gegenwehr aus dem Inneren der
kapitalistischen Staaten selbst, eingeschlossen dem verschwindend kleinen
Beitrag, den die Liga dazu beisteuern kann.
Tönnies´
Einkleidung gegenwärtiger Politik in die Vollstreckung weltgeistiger Vorgaben
ist Hirnweberei. Dennoch ist es keine durchgeknallte Geschichtsphilosophin,
die da in der FAZ ihre Vorstellungen in aller Breite darlegen kann. Die sonst
übliche ideologische Schminke über imperialistischer Politik – Verbreitung von
Freiheit, Demokratie etc. – mag angesichts einer Katastrophe wie im Irak für
viele unter den ökonomisch und politisch Mächtigen nicht mehr recht taugen. Es
bedarf wohl einer schärferen ideologischen Mixtur, um die territoriale und
rechtliche Entgrenzung militärischer Macht zu rechtfertigen, zum Beispiel, dass
Deutschland am Hindukusch „verteidigt“ wird und dass das Einsatzgebiet der
Bundeswehr die ganze Welt ist.
ITALIENS FLÜCHTLINGSLAGER
- EINE EUROPÄISCHE SCHANDE
Von Marco Benzi
Adam gehört zu einer Gruppe von Migranten aus dem Niger, die letzte Nacht nicht weit von der sizilianischen Küste von einem Fischerboot herausgefischt worden ist. Er ist seit einigen Monaten auf der Flucht, ist auf einem LKW über die Wüste von Tenerè gefahren und musste jeden Polizisten, der ihn kontrollierte, bezahlen. Bezahlen – und dies recht viel – musste er auch für einen Platz auf einem Boot, das ihn über das Mittelmeer nach Italien bringen sollte. Das Boot ist wenige Kilometer vor Sizilien gesunken. Viele Freunde von Adam haben es nicht geschafft, sind im Meer ertrunken oder in der Wüste verdurstet.
Diese gefährliche Reise wiederholt sich für Tausende von Migranten und Flüchtlingen, die im „Paradies Europa“ eine Hoffnung für ihr Leben sehen, immer in dem Bewusstsein, dass nur ganz wenige es schaffen.
Für die meisten, die es nach Italien schaffen, öffnen sich die Türen eines der Flüchtlingsauffanglager (CPT - Centri di Permanenza Temporanea), die die ehemalige linke Regierung 1998 eingerichtet hatte. Das CPT ist der Versuch, eine dramatischen Situation zu regulieren. Tausende von Migranten, die jedes Jahr an der italienischen Küste ankommen, werden hier untergebracht und identifiziert. Die entsprechenden Gesetze wurden im Jahr 2002 durch das von Berlusconis Regierung verfasste Immigrationsgesetz verschärft (Legge 189-02, s.g. Bossi-Fini).
Keiner
der Flüchtlinge darf sich mehr als 60 Tage in diesen Lagern aufhalten. Während
dieser Zeit ist es an sich die Pflicht der Behörden, für die notwendige
Betreuung der Migranten und Flüchtlinge zu sorgen. Die Betreuung soll gerecht,
würdig und neutral sein. Von den Behörden verlangt das Gesetz die Kenntnis der
Flüchtlingsrechte (beschränkte Dauer der Inhaftierung, Betreuung durch einen
Rechtsanwalt, Unterstützung durch einen Dolmetscher, psychologische Betreuung).
Die Flüchtlinge haben das Recht, Asylanträge zu stellen. Es gibt “Sonderkategorien”,
die das Recht auf eine privilegierte Behandlung haben: Flüchtlinge, denen politische oder religiöse Verfolgung drohen,
schwangere Frauen und Kinder, die nicht abgeschoben werden dürfen.. Die CPT sind offen zugängliche Gebäude und dürfen
von UNO-Vertretern, italienischen Parlamentariern, NGO-Mitgliedern, Rechtsanwälten
und Journalisten aufgesucht werden. Trotz dieser Regelungen schaffen es aber
nur wenige der Betroffenen, einen Asylantrag zu stellen.
Im Sommer 2005 haben zwölf italienische Parlamentarier das
Lager in Lampedusa besucht. Lampedusa ist eine kleine Insel südlich von Sizilien,
wo im Sommer täglich Hunderte von Menschen ankommen. Das Lager hat eine Kapazität
von nur 186 Plätzen - die Medien und die NGOs kritisieren oft ihre
Überbelegung. Die Delegation hat damals aber gerade mal elf Migranten in dem
Lager vorgefunden.
Die Überfüllung ist nur eine von vielen Gründen, die zu Protesten und Kritik verschiedener Regierungen und internationaler Organisationen geführt haben. Am 15. März 2005 haben die Vereinten Nationen Italien und seine Immigrationspolitik in einem Bericht kritisiert, der der UN-Menschenrechtskommission präsentiert wurde. Ärzte ohne Grenzen und Amnesty International haben wichtige Untersuchungen veröffentlicht, in denen die Funktionstüchtigkeit und strukturellen Mängel deutlich herausgestellt werden. In ihnen wird über mangelnde rechtliche Aufklärung der Flüchtlinge, physische Misshandlungen durch Polizisten und Überwachungspersonal, Missbrauch bei der Verabreichung von Psychopharmaka, schlechte hygienische Verhältnisse, fehlende Kommunikationsmöglichkeiten mit der Außenwelt, fehlender Zugang zu Rechtsanwälten, keine Möglichkeit zur rechtlichen Gegenwehr für diejenigen, die trotz Asylantrag abgeschoben werden sollen. Daraus resultieren Abschiebungen in Länder, in denen Verfolgung und Folter drohen.
Im
Juli 2004 übte die UN-Flüchtlingskommission im Zusammenhang mit dem
Flüchtlingsdrama auf der Cap Anamur heftige Kritik. Die italienische Regierung
hatte die gesamte Crew unter der Beschuldigung verhaftet, 37 Menschen illegal
auf italienisches Gebiet gebracht zu haben. Diese, die sich als Flüchtlinge aus
Darfur erklärten, wurden aus der offenen See gerettet. In Italien angekommen,
stellten sie sofort Asylantrag: Aber das Innenministerium billigte ihnen den
Flüchtlingsstatus nicht zu, weil sie die dramatische Situation in Darfur zum
Vorwand genommen hätten, um Asyl zu erhalten; sie wurden nach Ghana
abgeschoben. Nach vollzogener Abschiebung haben italienische Gerichte ihre
Asylanträge jedoch angenommen. Diese Geschichte demonstriert die mangelhafte
Urteilsfähigkeit italienischer Behörden – es zeigt sich hierin die fatale
Tendenz, quasi sämtliche Antragsteller als Illegale einzustufen, die die Asylgesetze
missbrauchen, oder sogar als vermutliche Terroristen. Die neuen Anti-Terror-Gesetze
verstärken diese Tendenz noch. 90 Prozent der Asylanträge werden abgelehnt, oft
aufgrund zu schneller und oberflächlicher Untersuchungen.
Zwei wichtige Untersuchungen über die Flüchtlingslager wurden von der italienischen Presse veröffentlicht: Im April 2004 sendete das öffentlich-rechtliche Fernsehen RAI 3 einen Report über die Konditionen in den Lagern, in denen Menschen sediert wurden und in denen es häufig zu Selbstmordversuchen kommt. Am 28. Dezember 1999 starben in Trapani sechs Menschen aufgrund eines Brandes, der von einigen Flüchtlingen entfacht worden war, um zu flüchten. Das Gebäude verfügte noch nicht einmal über minimale Sicherheitsstandards.
In Lecce sind verschiedene Behörden-Bedienstete, u.a. der Direktor des Flüchtlingscamps vor Gericht gestellt worden - wegen schwerer Körperverletzungen, Gewalt und Verprügeln von Immigranten, die am 22. November 2003 einen Fluchtversuch aus dem Camp unternommen hatten. Menschen, die Batterien oder Rasierklingen schluckten oder die sich verletzten, als sie, wie es offiziell heißt, „zufällig hingefallen“ waren, müssen stationär behandelt werden. In italienischen Lagern fällt man sehr oft zufällig.
Ein außergewöhnlicher Bericht erschien im Oktober 2005 in
einer bekannten italienischen Wochenzeitung. Ein Journalist gab sich als Flüchtling
aus und wurde in das Lager auf der Insel Lampedusa gebracht, wo Menschen „animalische
Lebenskonditionen“ erleben, wo Flüchtlinge auf schmutzigen Fluren schlafen
müssen, von Carabinieri und Polizei verprügelt und erniedrigt, dazu gezwungen
werden, zwischen ihren Exkrementen zu schlafen. Der Journalist sprang ins Meer,
wurde gerettet, ins Krankenhaus gebracht und danach von den Carabinieri ins
Lager zurückgeführt. Nach acht Tagen wurde er freigelassen, mit einem
Abschiebungsdokument in der Hand, das ihn verpflichtete, innerhalb von fünf
Tagen Italien zu verlassen.
Es gibt
einen Bericht über ungeheuerliche Vorfälle: Menschen müssen nackt durch ein
Spalier von Polizisten laufen und werden von diesen geschlagen; Muslime werden
gezwungen, Pornos anzugucken; Sanitäranlagen spucken nur Salzwasser aus,
Toiletten spülen nicht; Leute müssen sich mit bloßen Händen säubern, weil es
kein Toilettenpapier gibt.
Es gibt
rassistisches und faschistisches Personal, das für solche psychischen
Erniedrigungen und physischen Gewaltakte verantwortlich ist; hier kommt ein
alter italienischer Autoritarismus zum Tragen, der von einer nachsichtigen
Europäischen Union offenbar geduldet wird.
I r a n :
Nach Amtsantritt des neuen Staatspräsidenten
gehen Menschenrechtsverletzungen unvermindert weiter
Liga nennt
Fälle systematischer Menschenrechtsverletzungen im Iran
und fordert unverzügliche Konsequenzen von Seiten der Bundesregierung und der
EU
Die Islamische Republik Iran
missachtet und verletzt die Menschenrechte nach wie vor systematisch. Der neue iranische
Staatspräsident, Mahmoud Ahmadinejad, gilt als Vertreter des iranischen
Staatsterrorismus, wie er sich seit Gründung dieses Regimes etabliert und entwickelt
hat. Der religiöse Hardliner soll persönlich für Menschenrechtsverletzungen und
mehrere Hinrichtungen verantwortlich sein. Und er soll im Jahr 1989 auch in die
Ermordung von drei iranisch-kurdischen Oppositionellen in Wien verwickelt
gewesen sein.
Besonders in der "Kurdenfrage" des Iran ist in letzter Zeit eine Eskalation zu verzeichnen. Im Iran leben über sechs Millionen Kurden. Seit Monaten gehen viele von ihnen auf die Straße, um ihrer Forderung nach demokratischen Rechten und Freiheiten Ausdruck zu verleihen. Die kurdische Bevölkerung ist in besonderem Maße der staatlichen Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt, von Folterungen und politischen Morden betroffen. Unter dem neuen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad droht sich die Situation, die in der Bundesrepublik kaum zur Kenntnis genommen wird, noch zu verschärfen. Außer Kurden sind insbesondere Regimekritiker, Menschenrechtsaktivisten, Rechtsanwälte, Journalisten, Frauenrechtlerinnen, Frauen und Homosexuelle der Repression des iranischen Regimes ausgeliefert, wie die Fälle aus letzter Zeit eindrucksvoll bestätigen (s. Fallschilderungen im Anhang).
Die „Internationale Liga für Menschenrechte“ hat sich zum
Iran des Öfteren zu Wort gemeldet und die dortige Menschenrechtssituation nachdrücklich
verurteilt; das gilt auch für die aktuellen Menschenrechtsverletzungen. Die
Liga verurteilt aber auch die bundesdeutsche Praxis, Asylberechtigungen von
hier lebenden Iranern vermehrt zu widerrufen und sie einer drohenden
Abschiebung in den Iran auszusetzen (vgl. Liga-Pressemitteilung vom 28.01.
2005: „Liga hält Welle von Widerrufsverfahren gegen Asylberechtigte für
einen Skandal“). Die Liga hält diese Praxis des Bundesamts für Migration und
Flüchtlinge weiterhin für einen Skandal, denn der Widerruf von Asylberechtigungen
verstößt in vielen dieser Fälle gegen völkerrechtliche Standards und gefährdet
die betroffenen Flüchtlinge. Der Entzug des Asylstatus’ beschädigt die soziale
Existenz der Betroffenen und schwächt ihren Schutz vor Auslieferung an Verfolgerstaaten,
wo sie der Gefahr von Folter, Misshandlung und Mord ausgesetzt wären.
Dass iranische Flüchtlinge - trotz der katastrophalen
Menschenrechtssituation und enormer Gefährdung - tatsächlich in den Iran
abgeschoben werden können, zeigte der Fall der nicht asylberechtigten Zahra
Kameli, deren Abschiebung Anfang dieses Jahres erst in allerletzter Minute
verhindert werden konnte – dank des öffentlichen Protests und der Zivilcourage
eines Flugkapitäns, der sich weigerte, die gesundheitlich angeschlagene Zahra Kameli
gegen ihren Willen nach Teheran auszufliegen. Kameli wäre als „Ehebrecherin“
und zum Christentum konvertierte ehemalige Muslima im Iran akut mit Folter,
Steinigung und Tod bedroht gewesen.
Die „Internationale Liga für Menschenrechte“ fordert die
zuständigen Bundes- und Länderbehörden eindringlich auf, gefährdete Menschen
nicht in den Iran abzuschieben – aber auch nicht in andere Länder, in denen die
Menschenrechtslage prekär ist. Die Liga bedauert in diesem Zusammenhang, dass
die Europäische Union während der diesjährigen Tagung der UN-Menschenrechtskommission
keine Resolution zu den staatlich angeordneten, systematischen und massiven
Menschenrechtsverletzungen im Iran eingebracht hat. Die Liga hält es für einen
internationalen Skandal, dass die Universalität der Menschenrechte offenbar
unter die Räder des internationalen Antiterrorkampfes geraten ist und den
(bislang eher erfolglosen) Verhandlungen der EU über das Nuklearprogramm des
Iran zum Opfer zu fallen droht. Strategische Militär- und Wirtschaftsinteressen
der europäischen und deutschen Außenpolitik dürfen nach Auffassung der Liga
den notwendigen Menschenrechtsdialog nicht weiter verdrängen.
Die „Internationale Liga für Menschenrechte“ sieht in
Sachen Iran gerade nach dem Amtsantritt des neuen Staatspräsidenten akuten Handlungsbedarf
für Bundesregierung und Europäische Union. Sie müssen verstärkt ihrer völkerrechtlichen
Verpflichtung nachkommen, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um Teheran
zu veranlassen, die systematischen Menschenrechtsverletzungen abzustellen und
unabhängige internationale Untersuchungsdelegationen ins Land zu lassen. (24.08.2005)
Die Liga möchte im Folgenden auf
einige wenige aktuelle Fälle hinweisen:
Repression gegen Kurden
Mitte Juli wurde in der Stadt Mahabad der politische
Aktivist Kamal Asfarum ermordet. Er hatte sich aktiv für die Rechte der Kurden
im Iran eingesetzt. Die Regierung in Teheran hingegen bezeichnet den Getöteten,
der im Iran auch unter dem Namen Shwane Seyed-Ghaderi bekannt ist, als
Unruhestifter und rückt ihn in die Nähe eines Kriminellen. Seine
offensichtliche Ermordung durch Sicherheitsagenten des Regimes in Teheran (so
die Deutsche Welle, 21.08.05) hat einen wütenden Aufstand in der iranischen
Provinz Kurdistan provoziert.
Aus Protest gegen das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte befinden sich ganze kurdische Städte im Streik und ihre Bevölkerung leistet zivilen Widerstand gegen tägliche Attacken von Seiten der iranischen Sicherheitskräfte. Während der Protestaktionen sind Dutzende von Menschen getötet, Hunderte verletzt und verhaftet worden.
Am 2. August 2005 wurden die „Ashti-Zeitung“ und die Wochenzeitung „Asu“ in iranisch Kurdistan verboten. Die Frauen- und Menschenrechtsaktivistin Dr. Roya Toloui wurde in ihrer Heimatstadt Sanandaj mit der Begründung verhaftet, sie habe "Friedenstörung" und "Handlungen gegen die nationale Sicherheit" begangen. Sie beklagt eine anhaltende Diskriminierung der Kurden, obwohl diese sich durchaus als iranische Staatsbürger verstünden.
Auch in einem UN-Bericht ist dem Teheraner Regime unlängst Diskriminierung der von kurdischen und anderen ethnischen Minderheiten besiedelten Gebiete vorgeworfen worden: In den Kurden-Regionen sei die Wasser- und Stromversorgung besonders schlecht, hieß es in dem UN-Bericht, und auch der Aufbau der Infrastruktur dort sei völlig unzureichend.
Die Liga fordert eine unabhängige
Aufklärung sämtlicher Todesfälle und die Bestrafung der Täter. Die Liga fordert
darüber hinaus eine unverzügliche Freilassung von Dr. Roya Toloui, eine
Wiederzulassung der verbotenen Zeitungen und die Beendigung der Diskriminierung
der kurdischen Bevölkerung.
Akbar Ganji ist einer der bekanntesten Journalisten
im Iran und einer der schärfsten Kritiker des herrschenden islamischen Regime.
Er sitzt im Gefängnis und schwebt in Lebensgefahr. Er war wegen seiner
unmenschlichen Behandlung in Haft mehr als 60 Tage lang in den Hungerstreik
getreten. Er musste wegen akuter Lebensgefahr ins Krankenhaus eingeliefert werden,
wo ihn seine Familie und Anwälte nicht besuchen durften. Laut BBC hat Akbar
Ganji inzwischen seinen Hungerstreik beendet. Gesundheitlich befindet er sich
in einer kritischen Lage, auch wenn sich sein Zustand stabilisiert. Weiterhin
ist er einem enormen politischen Druck seitens der Revolutionsführer und Justizbeamten
ausgesetzt.
Die Liga fordert, Akbar
Ganji bedingungslos freizulassen, weil er lediglich von seinem Recht auf freie
Meinungsäußerung Gebrauch gemacht hat.
Rechtsanwalt Abdolfattah Soltani, Mitbegründer
des Forums für Menschenrechtsanwälte (zu denen auch die Friedensnobelpreisträgerin
Shirin Ebadi zählt) wurde am 30. Juli 2005 auf Befehl des Teheraner
Generalstaatsanwalts Said Mortazavi verhaftet. Dieser Staatsanwalt ist verantwortlich
für den Tod der iranisch-kanadischen Foto-Journalistin Zahra Kazemi, die während
ihrer Gefangenschaft im Juni 2003 gestorben ist. Der inhaftierte Soltani
gehört zu
jenen Anwälten, die sich um die Aufklärung dieses Todesfalls kümmern. Seine
Verhaftung, die sich einige Tage vor Beendigung des Gerichtsverfahrens in
diesem Fall ereignete, soll offenbar all jene Anwälte einschüchtern, die die
Todesumstände Kazemis aufzudecken
versuchen. Soltani ist an einen unbekannten Ort verbracht worden. Die Iranische
Justiz behauptet, dass Soltani aus ganz anderen Gründen verhaftet worden
sei. Er wird beschuldigt, „vertrauliche Informationen über Nuklear-Spione
innerhalb und außerhalb des Landes zu verbreiten“.
Der iranische Rechtsanwalt Nasser
Zarafshan hatte nach den Serienmorden an Politikern und Schriftstellern
im Jahr 1998 seine ganze Kraft dafür eingesetzt, die Drahtzieher für diese Morde
dingfest zu machen. Er war Rechtsbeistand einiger Familien der Opfer dieser
Morde. Er hatte sich kritisch zu diesem Fall und zu den Ermittlungen geäußert.
Deshalb ist er verhaftet und nach einem unfairen, nichtöffentlichen Prozess von
einem Militärgericht zu fünf Jahren Gefängnis und 50 Peitschenhieben verurteilt
worden. Seit August 2002 ist er im berüchtigten Teheraner Ewin-Gefängnis
inhaftiert. Im Juni 2005 trat er in einen unbefristeten Hungerstreik. Nachdem
er wegen akuten Nierenversagens notoperiert werden musste, ist er unmittelbar
nach dieser Operation wieder in das Gefängnis verlegt worden.
Die Liga fordert,
die genannten Anwälte bedingungslos freizulassen, weil sie lediglich ihren
Berufspflichten nachgekommen sind und von ihrem Recht auf freie
Meinungsäußerung Gebrauch gemacht haben.
Zwei Homosexuelle, Farbod Mostear
und Ahmad Chooka, beide 27 Jahre alt, sind von einem Gericht in der iranischen
Stadt Arak zum Tode verurteilt worden. Die Todesurteil sind vom obersten
iranischen Gerichtshof bestätigt worden. Die beiden können sich keinen Rechtsbeistand
leisten. Sie sollen am 27. August 2005 öffentlich gehängt werden.
Eine Frau namens Fatemeh (es ist
nur der Vorname bekannt) ist von einem Teheraner Gericht zur Steinigung verurteilt
worden. Die iranische Zeitung „Iran“ hat das Urteil am 16. Mai 2005 bekannt
gegeben.
Die Liga
fordert, alle anstehenden bzw. beschlossenen Hinrichtungen/Steinigungen sofort
zu stoppen, ebenso andere barbarische Strafen und Folterungen. Sie fordert die
Freilassung politischer Gefangener und ordentliche Gerichtsverfahren gegen die
für Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Personen.
Menschenrechte
Liga für Menschenrechte fordert mehr Druck auf Teheran
Berlin (epd). Die Internationale Liga für Menscherechte hat die
Bundesregierung und die Europäische Union aufgefordert, gegen die Menschenrechtsverletzungen
in Iran vorzugehen. In den Gesprächen um das Atomprogramm Irans müssten auch
die zahlreichen Fälle von systematischen Menschenrechtsverletzungen zur Sprache
gebracht werden, erklärte der Präsident der Liga, Rolf Gössner, am Mittwoch in
Berlin.
Nach dem
Amtsantritt des neuen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad gehe die
Unterdrückung weiter. Vor allem Kurden, Journalisten, Rechtsanwälte, Frauen,
Homosexuelle und Jugendliche seien in Iran Übergriffen ausgesetzt. Deutsche und
europäische Militär- und Wirtschaftsinteressen dürften den notwendigen Menschenrechtsdialog
mit Teheran nicht verdrängen, mahnte Gössner. Die Menschenrechte dürften nicht
unter die Räder des Anti-Terror-Kampfes geraten. Berlin und Brüssel müssten
Teheran drängen, internationale Untersuchungsdelegationen ins Land zu lassen. (Donnerstag, 25.08.2005)
Menschenrechtslage
und Atompolitik im Iran
Zu den Präsidentschaftswahlen in der
Islamischen Republik Iran
und über den neu gewählten Staatspräsidenten, Mahmud Ahmadinejad
Von Mila Mossafer
In einem Land, in dem den Bürgern die primären bürgerlichen
Rechte und politischen Freiheiten entzogen werden und eine religiöse Diktatur
herrscht, ist es irreführend, überhaupt von Wahlen zu reden. Die Wahlen im
islamischen iranischen System sind betrügerisch, von Befehlen abhängig und
werden daher von einem großen Teil der Bevölkerung boykottiert. In einigen
Städten war die Zahl der angeblich abgegebenen Stimmen viel höher als die Zahl
der Stimmberechtigten. Von mehr als 1014 Bewerbern für die Kandidatur zu den
Präsidentschaftswahlen sind lediglich sechs Kandidaten zugelassen worden, die
alle aus dem islamischen Lager kommen und zu den hochrangigen Staatsmännern
gehören. Zu den abgelehnten Bewerbern gehören 93 Frauen. Sie wurden allein
aufgrund ihres Geschlechtes ausgeschlossen. Seit der Gründung der Islamischen
Republik Iran wurden unter Verweis auf die islamische Verfassung noch nie
Frauen zu den Präsidentschaftswahlen zugelassen. Zu den Kandidaten gehören u.
a. „Persönlichkeiten“, die seit Gründung dieses Regimes für Tausende von
Hinrichtungen, brutale Menschenrechtsverletzungen und Staatsterrorismus
verantwortlich sind.
Zwei Kandidaten aus dem Lager der Konservativen, Larijani und
Qalibaf, stießen aufgrund ihrer Vergangenheit bei Militär und Geheimdienst auf
die Ablehnung der Mehrheit der Bevölkerung. Ein weiterer Kandidat aus dem Lager
des Ex-Staatspräsidenten ist auf Grund der
Erfahrungen mit der achtjährigen „Reformregierung“ von Chatami von der
Bevölkerung abgelehnt worden. Der ehemalige Minister Moin, Vertreter des
Flügels der religiösen „Reformer“, konnte außer der Wiederauflage des
gescheiterten Programms von Chatami keine neuen Ideen vorweisen. Rafsandjani
trat in der Wahl deutlich als Vertreter der Kapitalinhaber auf und hatte die
Unterstützung des internationalen Kapitals hinter sich. Seine Wirtschaftspolitik
war die Fortsetzung derselben Politik, die er selbst in der Zeit seiner
Präsidentschaft begonnen hatte und die von seinem Nachfolger, Chatami,
fortgesetzt wurde – nämlich Privatisierungen und Förderung der ausländischen
Investoren. Unter den sechs Kandidaten, die zur Wahl zugelassen waren, konnte
der bekannteste, Rafsandjani, keine Mehrheit erzielen, da er für die Mehrheit
der Iraner als Symbol für institutionalisierte Korruption, Despotie,
Inhaftierung von Oppositionellen und politische Morde gilt. Rafsandjani wurde
im Mykonos-Prozess als Mitglied eines Sonderkomitees verantwortlich gemacht,
das die Liquidierung von Oppositionellen in Auftrag gab. Ermordet wurden Dr.
Sharafkandi, Generalsekretär der Demokratischen Partei Kurdistan-Iran, und zwei
hochrangige Funktionäre dieser Partei und ihre Begleiter. Trotzdem genoss er
internationale Unterstützung.
Mahmoud Ahmadinejad (Teheraner Ex-Bürgermeister), der schließlich zum
neuen Präsidenten gewählt wurde, benutzte die institutionalisierte Korruption,
die weit verbreitete Armut und Arbeitslosigkeit und die maßlosen Einkommensunterschiede
als Propagandamittel für seine Wahlkampagne. Er erhielt von 47 Millionen
Wahlberechtigten im Iran 17 Millionen Stimmen. Ein wichtiger Punkt bei der Wahl
war der totale Wahlboykott von Seiten der StudentInnen. Auch die Frauen, die
vorher Chatami unterstützt hatten, haben sich bei dieser Wahl zurückgehalten.
Nach Angaben aus Regime-Kreisen selbst haben in Teheran 1,5 Millionen von 8,5
Millionen Stimmberechtigten ihre Stimme für Ahmadinejad abgegeben.
Die außenpolitische Zielsetzung der
neuen Regierung "der reinen islamischen Kultur" - die den Frieden in
Nahen bzw. im mittleren Osten gefährden kann - zeigte sich bereits an den
ersten Gästen, die Ahmadinejad als neuer Staatspräsident empfing: Als erster
Gast kam der Präsident Syriens und als zweiter der Führer der libanesischen
Hisbollah, Scheich Hassan Nasrallah.
Wer ist Ahmadinejad?
Ahmadinejad gilt als ein Verfechter des Gottesstaates, der
die Macht der Geistlichen festigen will. Die Einhaltung der Menschenrechte ist
von ihm nicht zu erwarten. Er hat die soziale Unzufriedenheit der Bevölkerung
für seine Wahlpropaganda ausgenutzt und das Wahlversprechung gemacht, die
Korruption im Iran zu beenden. Er kommt aber selber aus den Reihen der
Revolutionswächter, die die organisierte Korruptionen reproduzieren. Von den 21
Kabinettsmitgliedern, die er bestellte, sind 13 ehemalige Kommandanten der
Revolutionswächter. Diese verfügen über ein Ministerium mit eigenem Budget, in
das nicht einmal das Parlament Einblick hat und das ein entscheidender
Machtfaktor ist. Es gibt Grenzübergänge, die nur sie kontrollieren dürfen.
Dieses Ministerium ist auch aufs engste verbunden mit den religiösen
Stiftungen, den Herren der iranischen Wirtschaft. Sie haben dadurch auch
privilegierten Zugang zum iranischen Ölgeschäft. Die mit dem religiösen Führer
oder anderen führenden Regierungsvertretern verbundenen machtvollen religiösen
Stiftungen kontrollieren mehr als 60 Prozent der Wirtschaft.
Ahmadinejad werden
auch kriminelle Taten vorgeworfen. Er soll als Scharfrichter im berüchtigten
Evin-Gefängnis fungiert haben, als dort in den 80er Jahren Tausende
Oppositionelle hingerichtet wurden. Er soll auch einer der Geiselnehmer gewesen
sein, die am 4. November 1979 in die US-Botschaft in Teheran eingedrungen waren
und dort alle Diplomaten, Geheimdienstler und Angestellten für 444 Tage als
Geisel nahmen.
Ahmadinejad soll 1989
an den Kurdenmorden in Wien beteiligt gewesen sein. Nach Angaben von Peter
Pilz, dem Sicherheitssprecher der Grünen in Österreich, müsste es
strenggenommen gegen den neu gewählten iranischen Staatspräsidenten sofort
einen Haftbefehl geben. "Der Mann steht dringend unter Verdacht, 1989 in
die Ermordung des kurdischen Oppositionspolitikers Abdul Rahman Ghassemlou in
Wien verwickelt gewesen zu sein“, sagt Pilz. Auch die tschechische Tageszeitung
Pravo veröffentlichte diesen Vorwurf. Das Blatt berief sich auf Hossein Yazdan
Panah, einen Vertreter der iranischen kurdischen Opposition, der im Irak im
Exil lebt. Ahmadinejad reiste demnach wenige Tage vor dem Attentat nach Wien
und übergab dem Mordkommando Waffen aus der iranischen Botschaft. Ghassemlou,
der Generalsekretär der demokratischen Partei Kurdistan-Iran, wurde zusammen
mit zwei weiteren Mitgliedern der Partei erschossen. Die mutmaßlichen Mörder
tauchten in der iranischen Botschaft unter und konnten offenbar nach Druck
Teherans auf die Regierung von Franz Vranitzky unbehelligt aus Österreich ausreisen.
Dem österreichischen Innenministerium wurden die Unterlagen vorgelegt, die
Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen übernommen, die, so heißt es, auf Druck
des Irans zurückgenommen wurden.
Iranische Atompolitik
Das abenteuerliche Streben des iranischen Regimes nach
Herstellung atomarer Waffen passiert unter dem Deckmantel der Produktion von
Atomenergie. Es ist offensichtlich, dass Iran über eines der größten Öl- und
Gasvorkommen verfügt. Insofern ist die Rechtfertigung des Iran, er wolle nur
friedlich Atomenergie produzieren, ein unglaubhaftes Argument. Iran kann
aufgrund seiner geographischen Lage auch Alternativen wie Sonnenenergie nutzen.
Die Atomenergie ist eine gefährliche und kostenaufwendige Energieform nicht nur
für Iran. Das Beharren der Machthaber zeigt, dass es ihnen darum geht, den
Uranbrennstoff selbst zu produzieren. Es geht darum, die Bedrohung von innen
und außen für das System frühzeitig und mit allen Mitteln abzuwenden.
Die Atompolitik des Irans liefert
den USA den notwendigen Vorwand, in der Region militärisch noch stärker präsent
zu sein. Diese Politik des Iran führt auch dazu, dass sich EU und der USA in
ihrer Iranpolitik annähern werden, was für die iranische Bevölkerung schlimme
Konsequenzen haben kann. Sollte der Fall vor den UN-Sicherheitsrat kommen, wird
die iranische Bevölkerung womöglich viel zu leiden haben. Die 12 Jahre langen
Sanktionen gegen die Bevölkerung im Irak sind ein Beispiel dafür. Die einzige
Kraft, die Iran von dieser abenteuerlichen Politik abbringen kann, ist eine
starke soziale Bewegung der iranischen Bevölkerung. Die Antwort der IranerInnen
und der Weltgemeinschaft soll heute heißen: Abrüstung der Atomwaffen in der
Region und weltweit. Es ist nicht akzeptabel, dass Pakistan, Indien, Israel
und andere Länder über atomare Waffen verfügen. Schließlich kommt das Material
und das Know-how aus dem Ausland! Einen gegen die Urananreicherungsanlagen
des Iran oder gar einen allgemeinen militärischen Angriff der Atommacht USA
oder Israels darf es unter keinen Umständen geben. Die Konsequenzen für die im
Iran lebenden Menschen, für den Nahen und Mittleren Osten, für die ganze Welt
wären noch furchtbarer als die des Irak-Krieges.
Die Menschenrechtslage im Iran
Seit dem Amtsantritt des neuen
Präsidenten Ahmadinejad geht die Unterdrückung weiter. Vor allem sind die
ethnische Minderheiten, Araber und Kurden, sowie JournalistInnen,
RechtsanwältInnen, Frauen, Homosexuelle und Jugendliche im Iran von den Repressalien
betroffen. Der neue Präsident wurde am 6.08.2005 vereidigt, und hat sogleich
angekündigt, er wolle nach seiner Vereidigung eine Regierung "der reinen
islamischen Kultur" bilden. Eine erste Bilanz seiner Präsidentschaft geht
genau in diese Richtung und ist mit einer weiteren Verschlechterung der Menschenrechtslage
verbunden.
Nach der Wahl des Präsidenten sind
in Iran Forderungen nach strikterer Anwendung der Kleidervorschriften für Frauen
laut geworden. "Das Parlament erwartet, dass der Präsident Frauen
entgegentritt, die sich unpassend kleiden", sagte der Abgeordnete Mohammed
Taki Rahbar der Regierungszeitung "Iran". "Wir brauchen eine
neue Kulturrevolution. Frauen im Iran müssen in der Öffentlichkeit Haare und
Körper mit Kopftuch und Mantel verhüllen.“ Die Presseerklärung der
„Internationalen Liga für Menschenrechte“ vom 24. August 2004 weist auf einige
brutale Menschenrechtsverletzungen im Iran hin, die in dieser Ausgabe des
Liga-Reports zu lesen sind.
Das Ausmaß, in dem politische Internet-Seiten zensiert
werden, ist alarmierend. So haben die Iraner keinen oder nur begrenzten Zugang
zu den Internet-Seiten der oppositionellen Dissidenten-Gruppen, die sich
außerhalb des Landes formiert haben. Bei ihrer Zensur wird die iranische
Regierung von den verschiedenen Internet-Providern des Landes unterstützt. Zum
Filtern benutzen sie eine amerikanische Software: SmartFilter wird von der
US-Firma Secure Computing produziert.
Trotz allem sind die Islamisten nicht mehr in der Lage, die
Menschen im Iran, wie in den letzten 10 Jahren zum Schweigen zu bringen. Die
Entwicklung des politischen Bewusstseins, die sich in den Kämpfen der Frauen,
Jugendlichen, Studenten, Journalisten und politischen Aktivisten zeigen, macht
Hoffnung.
2005
Rolf Gössner verleiht "Oscar
für Datenkraken" an Bundesinnenminister Otto Schily
Die Internationale Liga für Menschenrechte verteilte am Freitag, 28.10.2005, in Bielefeld zusammen mit anderen Datenschutz- und Bürgerrechtsgruppen die BigBrotherAwards (BBA) 2005. Den Lifetime-Award verlieh BBA-Jurymitglied und Präsident der Liga, Dr. Rolf Gössner, vor über zweihundert Gästen unter großem Beifall an Bundesinnenminister Otto Schily (SPD). Schily, der es vorzog, seiner „Ehrung“ fernzubleiben, erhält den Preis
- aktuell für
die undemokratische Einführung des biometrischen Reisepasses, dessen Technik
unausgereift und unsicher ist und der zu einer erkennungsdienstlichen
Behandlung der gesamten Bevölkerung führt;
- Otto Schily erhält den Preis auch für sein "Lebenswerk",
nämlich für den Ausbau des deutschen und europäischen Überwachungssystems auf
Kosten der Bürger- und Freiheitsrechte und für seine hartnäckigen Bemühungen um
die Aushöhlung des Datenschutzes unter dem Deckmantel von Sicherheit und
Terrorbekämpfung.
Hauptpreisträger (Kategorie „Verbraucherschutz“) ist das Organisationskomitee des Deutschen Fußballbundes, vertreten durch Franz Beckenbauer «für die inquisitorischen Fragebögen zur Bestellung von WM-Tickets» und die geplante Ausstattung der Tickets mit RFID-Schnüffelchips.
Die weiteren
Preisträger sind aus der anhängenden Zusammenstellung zu ersehen.
Die „Internationale Liga für Menschenrechte“ ist zusammen mit anderen Datenschutz- und Bürgerrechtsgruppen seit 2003 Mitträgerin des „BigBrotherAward“ (BBA). Die Preisträger des „Oscars für Überwachung“ (Le Monde) – Unternehmen, Organisationen und Politiker – verletzen nach Meinung der Jury erheblich die Privatsphäre der Bundesbürger. Vergeben wird der Preis, der sich zum sechsten Mal jährt, in verschiedenen Kategorien, darunter „Politik“, „Verbraucherschutz“, „Wirtschaft“ und „Kommunikation“.
Mit den „Negativ-Preisen für Datenkraken“ möchte die Jury auf ausufernde Kontrolle, Manipulation und Überwachung hinweisen. In diesem Jahr wurden der Jury dazu fast 300 Vorschläge eingereicht. Für die Auswahl zeichnen neben der Internationalen Liga für Menschenrechte der FoeBuD, der Chaos Computer Club (CCC), die Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD), die Humanistische Union, das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) sowie der Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG) verantwortlich. Die Big BrotherAwards sind international vernetzt: 14 europäische Länder sind bereits dabei, u.a. die Schweiz, Österreich, England und Tschechien.
Der Name der Preise ist George Orwells Buch „1984“ entnommen, in dem er bereits Ende der vierziger Jahre seine Vision einer zukünftigen Gesellschaft entwarf, die unter totaler Überwachung steht. Durch die BigBrotherAwards soll das abstrakte Thema Datenschutz durch konkrete Beispiele anschaulich und allgemein verständlich gemacht werden. In den vergangenen fünf Jahren fanden die Preisverleihungen ein großes Echo in der Öffentlichkeit.
BigBrotherAwards
erhielten u.a. der Metro-Konzern für den Einsatz von RFID-Schnüffelchips, das
Lkw-Mautsystem von TollCollect, Microsoft, die Payback-Kundenkarte, die GEZ für
ihre Schnüffelmethoden sowie die Bundesagentur für Arbeit für ihren
ALG-II-Fragebogen, das Bundeskriminalamt, das Bundesverwaltungsamt für das
Ausländerzentralregister usw..
Rena Tangens, padeluun - Verein zur Förderung des
öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoeBuD e.V)
Karin Schuler, Deutsche Vereinigung für Datenschutz
e.V. [DVD]
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für
Menschenrechte [ILMR]
Dr. Fredrik Roggan, Humanistische Union [HU],
Frank
Rosengart, Chaos Computer Club e.V.
Alvar C. H. Freude, Förderverein Informatik und
Gesellschaft e.V. (Fitug)
Werner Hülsmann, Forum InformatikerInnen für Frieden und
gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)
-
Kategorie Lebenswerk
Laudator: Dr. Rolf Gössner
aktuell für die undemokratische Einführung des biometrischen Reisepasses, dessen Technik unausgereift und unsicher ist und der zu einer erkennungsdienstlichen Behandlung der gesamten Bevölkerung führt.
Otto Schily erhält den Preis auch für sein "Lebenswerk",
nämlich für den Ausbau des deutschen und europäischen Überwachungssystems auf
Kosten der Bürger- und Freiheitsrechte und für seine hartnäckigen Bemühungen um
die Aushöhlung des Datenschutzes unter dem Deckmantel von Sicherheit und
Terrorbekämpfung.
-
Kategorie Politik
Laudator:
Dr. Fredrik Roggan
Der
Hessische Minister des Inneren, Volker Bouffier
für das präventive Orten und Abhören von Mobiltelefonen;
für die DNA-Analyse bei Kindern unter 14 Jahren, die eine Straftat begangen haben
zu deren zukünftiger Strafverfolgung; für die Befugnis der hessischen Polizei,
Kfz-Kennzeichen auch ohne Straftatverdacht zu scannen und für den Einsatz von
Videoüberwachung bei Personenkontrollen.
-
Kategorie Behörden und Verwaltung
Laudator:
Werner Hülsmann
Der Ministerpräsident
des Landes Niedersachsen, Herrn Christian Wulff
für die Zerschlagung der
Datenschutzaufsicht in Niedersachsen. Die Aufsicht über den Datenschutz in der
Wirtschaft soll ab 1.1.2006 dem niedersächsischen Innenministerium zugeordnet
werden. Dies konterkariert den aktuellen Beschluss der EU, der die völlige
Unabhängigkeit der Datenschutzaufsicht fordert.
-
Kategorie Technik
Laudatorin:
Karin Schuler
Der
BBA 05 in der Kategorie Technik geht an eine Sammlung ganz eifriger
Überwachungsfetischisten für die schleichende Degradierung von Menschen zu
überwachten Objekten und der Verharmlosung der Folgen von flächendeckender
Überwachung. Einen einzelnen Preisträger nennen wir deswegen nicht.
-
Kategorie Kommunikation
Laudator:
Alvar Freude
Generalstaatsanwaltschaft
von Schleswig-Holstein, Herrn Erhard Rex als Leiter der Staatsanwaltschaften
Kiel und Lübeck
für
die großflächige Fahndung nach Zeugen (die wie Verdächtige behandelt wurden)
mittels Handy-Ortung. Es handelt sich um die erste Funkzellen-Massenabfrage --
Mobilfunkunternehmen wurden zur Herausgabe sämtlicher Verbindungsdaten einer
Region gezwungen. Die Einsicht in die zugehörigen Akten wurde den Datenschützern
des Landes Schleswig-Holstein, die den Fall prüfen wollten, verweigert.
-
Kategorie Verbraucherschutz
Laudator:
Rena Tangens
WM-Organisationskomittee
des Deutschen Fußballbundes (DFB), Franz Beckenbauer
für
die inquisitorischen Fragenbögen zur Bestellung von WM-Tickets, für die
geplante Weitergabe der Adressen an die FIFA und deren Sponsoren und für die
Nutzung von RFID-Schnüffelchips in den WM-Tickets und damit den Versuch, eine
Kontrolltechnik salonfähig zu machen zum Nutzen eines WM-Sponsors (RFID-Hersteller
Philips).
-
Kategorie Wirtschaft
Laudatorin:
Rena Tangens
für
zentrale Datensammlung über Bauern, Verklagen von mehreren tausend Landwirten,
die die Auskunft verweigern; Beschaffung der Kundendaten von Genossenschaften
und verdeckte Testeinkäufe bei Bauern, die die Saatgut Treuhand verdächtigt,
Kartoffeln oder andere Feldfrüchte aus ihrer eigenen Ernte zur Aussaat im
nächsten Jahr zu verwenden.
Für
den Aufbau einer zentralen Kontrollstruktur zum Eintreiben der sogenannten
Nachbaugebühren im Dienste der Saatgutindustrie.
- Kategorie Regional
Laudator: padeluun
Volksbank
Bad Oeynhausen Herford eG und die Sparkasse Herford
für die Weitergabe der Namen von Schulanfängern an die genannten Geldinstitute zum Zwecke der Werbung ("Startkonto") ohne Einwilligung der Eltern.
29.10.2005
Big-Brother-Awards-Verleiher
kritisieren "Verletzung der Privatsphäre der Bundesbürger"
Von unserem Redakteur Rainer
Kabbert
BIELEFELD·BREMEN. Zum Ende seiner politischen
Karriere wird Bundesinnenminister Otto Schily mit einer Auszeichnung
"geehrt", auf die er wohl gern verzichtet hätte. In Bielefeld wurde
ihm gestern der Deutsche Big-Brother-Award verliehen, weil er nach Ansicht der
Jury die Privatsphäre der Bundesbürger erheblich verletzt hat. Die Jury, in der
unter anderem die Internationale Liga für Menschenrechte, die Humanistische
Union und die Deutsche Vereinigung für Datenschutz vertreten sind, hat ihm die
Auszeichnung in der Kategorie "Lifetime" für "langjährige
Verdienste" gegeben. Der Bremer Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner,
Präsident der Liga für Menschenrechte, begründete den Jury-Entscheid in seiner
Laudatio mit der Politik Schilys in den letzten Jahren:
·
Einführung
des biometrischen Passes mit unausgereifter Technologie und ohne parlamentarische
Legitimation
·
Ausbau
des deutschen und europäischen Überwachungssystems auf Kosten der Bürger- und
Freiheitsrechte
·
Aushöhlung
des Datenschutzes und der Informationellen Selbstbestimmung durch die so genannten
Anti-Terrorgesetze
·
Mitwirkung
am Großen Lauschangriff
·
Angriffe
auf die Unabhängigkeit des Bundesbeauftragten für den Datenschutz
Gössner sieht insbesondere in der
digitalen Erfassung von biometrischen Merkmalen im Pass Gefahren für den Bürger.
Er beruft sich auf das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, das
die neue Technologie als nicht praxistauglich und unausgereift abwertet.
Gössner: "Es steht zu befürchten, dass täglich Tausende Menschen an
Flughäfen zurückgewiesen und in ihrer Reisefreiheit beschränkt werden, weil
ihre digitalen Fotos oder Fingerabdrücke von der Software nicht akzeptiert
werden."Zudem, so der Anwalt, seien die elektronischen Ausweise anfällig
für Missbrauch. Biometrische Daten könnten an Kontrollstellen im In- und
Ausland ausgelesen werden, unbefugte Dritte so Bewegungsprofile von arglosen
Passinhabern anfertigen.In den sieben anderen Kategorien sind weitere
Politiker, Behörden und Unternehmen ins Visier der Jury geraten. So hat der
Hessische Minister des Inneren Volker Bouffier nach Erkenntnissen der Juroren
das präventive Abhören von Mobiltelefonen angeordnet. Niedersachsens
Ministerpräsident Christian Wulff wird vorgeworfen, die Datenschutzaufsicht in
der Wirtschaft zerschlagen zu haben - entgegen einem aktuellen EU-Beschluss,
der die Unabhängigkeit der Datenschutzaufsicht fordert.Auch Franz Beckenbauer
bekommt sein Fett weg. In der Kategorie Verbraucherschutz werden dem
WM-Organisationskomitee des DFB unter anderem "inquisitorische Fragebögen
zur Bestellung von WM-Tickets" zur Last gelegt.Der Big-Brother-Award wird
seit sechs Jahren in 14 europäischen Ländern vergeben, so auch in England, der
Schweiz und Österreich. Ob er hilft, die Privatsphäre der Bürger sicherer zu
gestalten? Gössner glaubt nicht, dass Schily das Gespräch mit ihm suchen werde.
Doch als Microsoft wegen Sicherheitslücken in seinen Produkten
"ausgezeichnet" wurde, erschien der Deutschlandvertreter der Firma
zur Preisverleihung - und gelobte Besserung.
© Bremer Tageszeitungen AG
Er hat die SICHERHEIT ZUM GRUNDRECHT gekürt
Der
BigBrotherAward 2005 in der Kategorie "Lifetime" geht an Otto Schily
Auszüge aus der
Laudatio von Rolf Gössner (Mitglied der Jury)
Für sein
"Lebenswerk" - den Ausbau des deutschen und europäischen
Überwachungssystems auf Kosten der Bürger - erhielt der noch amtierende
Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) am 28. Oktober 2005 den BigBrotherAward.
Otto Schily erhielt in diesem Jahr mit Abstand die meisten
Nominierungen - wie übrigens schon im Jahr 2001, als er für seine
"Otto-Kataloge" den "Big BrotherAward" in der Kategorie
"Politik" verliehen bekam. In der Jury bestand große Einigkeit, dass
Schily in diesem Jahr, zum mutmaßlichen Ende seiner politischen Karriere, der
"Lifetime-Award" für langjährige "Verdienste" gebührt -
wohlwissend, dass wir mit unserer Würdigung im Rahmen der Verleihung eines
Negativpreises einer so schillernden Persönlichkeit wie Otto Schily und seiner
gesamten Lebensleistung bei Weitem nicht gerecht werden können. Leider können
wir hier und heute nur eine Auswahl aus der Fülle seiner beeindruckendsten
Projekte und Initiativen würdigen.
Otto
Schily erhält den BigBrother-Lifetime-Award 2005
• ganz aktuell für die übereilte
Einführung des biometrischen ePasses mit unausgereifter Technologie und ohne
parlamentarische Legitimation,
• darüber hinaus für seine
"Verdienste" um den Ausbau des deutschen und europäischen Überwachungssystems
auf Kosten der Bürger- und Freiheitsrechte,
• für seine hartnäckigen
Bemühungen um die Aushöhlung des Datenschutzes und der Informationellen Selbstbestimmung
unter dem Deckmantel von Sicherheit und Terrorbekämpfung - Stichwort:
"Antiterror"-Gesetze (auch "Otto-Kataloge" genannt),
• für seine maßgebliche Mitwirkung
am Großen Lauschangriff sowie
• für seine Angriffe auf die Unabhängigkeit des
Bundesdatenschutzbeauftragten. (...)
Mit dem "BigBrother-Lifetime-Award" würdigen wir
die Wandlung des anthroposophisch geprägten Preisträgers Otto Schily vom
linksliberalen Anwalt über den realo-grünen Oppositionspolitiker zum staatsautoritären
SPD-Polizeiminister - eine Metamorphose, die viele Menschen nur schwer
nachvollziehen können. Vor vielen, vielen Jahren stand Schily als
herausragender Strafverteidiger der außerparlamentarischen Linken und besonders
im Stammheimer RAF-Prozess für den Kampf gegen Deformationen des Rechtsstaates,
die dieser damals im Zuge der Terrorismusbekämpfung erleiden musste. Es war
jene Zeit, in der Schily noch die mahnenden Worte einer Erklärung der
"Humanistischen Union" unterschrieben hatte: "Man bekämpft die
Feinde des demokratischen Rechtsstaats nicht mit dessen Abbau, und man verteidigt
die Freiheit nicht mit deren Einschränkung" (1978).
So ändern sich die Zeiten - dennoch will Schily von
biografischen Brüchen nichts wissen: Vom "Terroristenprozess" in
Stammheim bis zu seinen "Antiterror"-Gesetzen - kontinuierlich wähnte
er sich im Einsatz für den Rechtsstaat, wenn auch in unterschiedlichen Rollen.
Doch Schily hat nicht nur die Rollen, sondern die Seiten gewechselt - und zwar
kompromisslos: Aus dem eloquenten Strafverteidiger, der im Interesse seiner
Mandanten rechtsstaatliche Prinzipien gegen staatsautoritäre Übergriffe verteidigte,
wurde spätestens in seiner Funktion als Bundesinnenminister ein autoritärer
Staats-Anwalt, der die Macht des Staates zu Lasten der individuellen Freiheitsrechte
ausgebaut hat. Schily machte den Staat zu seinem Mandanten, für dessen
Autorität und Stärke er sich auf geradezu fundamentalistische Weise eingesetzt
hat. Schon länger hält er die Angst vor dem Leviathan, also vor einer
entfesselten Staatsmacht, für ein Problem von vorgestern. Der Einzelne müsse
heute nicht mehr vor dem Staat geschützt werden, nur noch vor Kriminalität und
Terror. Jedes Misstrauen gegen staatliche Maßnahmen ist im Schily-Staat demnach
unangebracht, ja verwerflich, zumindest verdächtig.
Schon als
Oppositionspolitiker hatte der von den Grünen zur SPD konvertierte Schily die
spätere rot-grüne Koalition mit schweren Hypotheken belastet - so mit dem
Großen Lauschangriff. Schily, der in Stammheim selbst Opfer von Lauschangriffen
geworden war, hatte an der dafür nötigen Verfassungsänderung, die ohne die SPD
nicht zustande gekommen wäre, maßgeblich mitgewirkt - und damit an der Aushöhlung
des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Jahre später hat das Bundesverfassungsgericht
dieses Machwerk für weitgehend verfassungswidrig erklärt. Verfassungswidrige
Betätigung - strenggenommen ein Fall für den "Verfassungsschutz",
im Fall Schily offenbar eine höchst paradoxe Empfehlung für den Posten des
Innenministers, der schließlich auch als Verfassungs(schutz)minister fungiert.
Als Geburtshelfer des Großen
Lauschangriffs hatte Schily ursprünglich sogar für eine noch weit schärfere Fassung
gefochten: Wäre es nach ihm gegangen, wären elektronische Wanzen auch gegen
Berufsgeheimnisträger wie Journalisten oder Ärzte einsetzbar gewesen. Seit
jener Zeit sind zumindest erhebliche Zweifel an seiner Verfassungstreue
angebracht, zumal er zuvor schon die faktische Abschaffung des Asylgrundrechts
betrieben hatte. Man muss sich seitdem fragen: Ist Schily bereit, jederzeit für
die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten, wie es von jedem
Beamten gefordert wird, oder neigt er dazu, diese vermehrt zugunsten der
Staatsräson und zu Lasten der Bürgerrechte einzuschränken?
Unser Preisträger hat mit seiner Law-and-order-Politik einen gehörigen Beitrag dazu geleistet, dass bürgerrechtliche Grundwerte in der herrschenden Sicherheitspolitik mehr und mehr verdrängt worden sind - ganz besonders nach den Terroranschlägen vom 11. 9. 2001 in den USA. Damals verkündete Schily als Bundesinnenminister, die rot-grüne Koalition werde "alle polizeilichen und militärischen Mittel aufbieten, über die die freiheitlich-demokratische Staatsordnung, die wehrhafte Demokratie verfügt". Mit dieser martialischen Androhung trat Schily einen fatalen Gesetzesaktionismus los, bediente das ohnehin schier grenzenlose Sicherheitsverlangen der Bürger und nutzte es zur Legitimierung langgehegter Nachrüstungspläne, ließ sie aus den Schubladen der Macht kramen, zu voluminösen "Otto-Katalogen" schnüren und mit Antiterror-Etiketten bekleben. Anstatt der Bevölkerung die Wahrheit über Unsicherheitsfaktoren in einer Risikogesellschaft zuzumuten und deutlich zu machen, dass absolute Sicherheit leider nicht und nirgendwo zu erreichen ist, machen Schily und andere Regierungspolitiker mit symbolischer Politik bis heute unhaltbare Sicherheitsversprechen.
Mit den so genannten Antiterror-Gesetzen, für die Otto Schily wie kein anderer steht, haben Polizei und Geheimdienste erweiterte Aufgaben und Befugnisse erhalten. Damit wurde die ohnehin hohe Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft noch weiter erhöht. Vermehrt können Beschäftigte in so genannten lebens- oder verteidigungswichtigen Einrichtungen geheimdienstlichen Sicherheitsüberprüfungen unterzogen werden - mitunter auch ihre Lebenspartner und ihr soziales Umfeld (...).
Migrantinnen und Migranten, unter ihnen besonders Muslime, werden praktisch per Gesetz unter Generalverdacht gestellt, zu gesteigerten Sicherheitsrisiken erklärt und einem rigiden Überwachungssystem unterworfen - denken wir nur an die biometrische Erfassung von Fingerabdrücken und Stimmprofilen, an geheimdienstliche Regelanfragen, an erleichterte Auslieferungen und Abschiebungen. Ohne wirklichen Nachweis, dass von ihnen mehr Terror ausgehe als von Deutschen, werden Migranten oft - unter Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes - einer entwürdigenden Sonderbehandlung unterzogen, die für viele existentielle Folgen haben kann.
Die "Antiterror"-Gesetze bewirken eine verhängnisvolle Lockerung des Datenschutzes, ganz im Sinne Otto Schilys, der den Datenschutz ohnehin für "übertrieben" hielt- gerade so, als könnten selbstmörderische Terroranschläge mit weniger Datenschutz und mehr Eingriffen in die Privatsphäre der Bürger verhindert werden. Doch die meisten Gesetzesverschärfungen taugen nur wenig zur Bekämpfung eines religiös-aufgeladenen, selbstmörderischen Terrors; sie schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Freiheitsrechte um so mehr. Etliche der Antiterror-Maßnahmen sind unverhältnismäßig, ja maßlos - sie zeigen Merkmale eines nicht erklärten Ausnahmezustands und eines autoritären Präventionsstaates, in dem letztlich Rechtssicherheit und Vertrauen verloren gehen. Die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, verliert in dieser Sicherheitskonzeption ihre machtbegrenzende Funktion. Der Mensch wird zum potentiellen Sicherheitsrisiko, der seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muss - während Otto Schily die vermeintliche Sicherheit zum Supergrundrecht erklärt, das die wirklichen Grundrechte der Bürger - als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates - in den Schatten stellt.
In seinem missionarischen Eifer als Staatsschützer schreckte der Preisträger selbst vor extremistischen Forderungen aus dem Arsenal von Diktaturen nicht zurück: So würde er allzu gerne "gefährliche" Personen ohne konkreten Verdacht in präventive Sicherungshaft nehmen lassen. Otto Schilys zuweilen obrigkeitsstaatliche Interpretation des Rechtsstaats zeigt sich auch in folgenden Staatschutzprojekten:
Er hat mit einem gemeinsamen Antiterror-Lageentrum und
mit dem Plan einer zentralen "Islamistendatei" Grundsteine für einen
Datenverbund aller Geheimdienste und des Bundeskriminalamts gelegt. Eine noch
engere Vernetzung würde die Aufhebung des verfassungsmäßigen Gebots der
Trennung von Polizei und Geheimdiensten bedeuten - immerhin eine Konsequenz aus
den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo im Nationalsozialismus. Damit nimmt
Schily eine Machtkonzentration in Kauf, die kaum noch wirksam kontrollierbar
sein wird.
Schily hat sich mit
Vehemenz dafür eingesetzt, dass alle Telekommunikationskontakte - ob per
Telefon, SMS, Email oder Internet - zur Terror- und Kriminalitätsbekämpfung
deutschland- und europaweit für mindestens zwölf Monate auf Vorrat gespeichert
werden. Also: Wer hat mit wem, wann, wie oft und wie lange von wo nach wo
fern-mündlich oder schriftlich kommuniziert, welche SMS- oder
Internet-Verbindungen genutzt, welche Suchmaschinen mit welchen Begriffen benutzt,
welche websites besucht und mit welchen Email-Empfängern kommuniziert? Mit
dieser beispiellosen Vorratsdatensammlung ließe sich das Kommunikations- und
Konsumverhalten einzelner Telekommunikationsnutzer heimlich ablesen -
Verhaltens- und Kontaktprofile inklusive.
Auch die Pressefreiheit ist vor
Otto Schily keineswegs sicher: So rechtfertigt er undifferenziert und
hartnäckig die höchst umstrittene Durchsuchung der Redaktionsräume des Monatsmagazins
Cicero und der Privatwohnung eines Journalisten durch das
Bundeskriminalamt (BKA), zu der Schily die Ermächtigung erteilt hatte. Der
Journalist hatte zulässigerweise aus einem geheimen BKA-Dossier zitiert. Weil
die undichte Stelle im BKA, also der Lieferant des Geheimdossiers, nicht zu
finden war, wurde gegen den Journalisten wegen "Beihilfe zum Geheimnisverrat"
ermittelt - stundenlange Razzien und kistenweise Beschlagnahme von Recherchematerial
inklusive. Das gesuchte Dokument wurde nicht gefunden, dafür
"Zufallsfunde" zuhauf, die mit dem Durchsuchungsanlass nicht das
Geringste zu tun haben, aber zu weiteren Ermittlungsverfahren führten. Mit
dieser Verdächtigung, als Journalist am Verrat von Dienstgeheimnissen selbst
beteiligt gewesen zu sein, lassen sich Informantenschutz und Zeugnisverweigerungsrecht
praktisch aushebeln - und damit das hohe Gut der Pressefreiheit. Solche
Praktiken können letztlich dazu führen, kritische Journalisten einzuschüchtern
und von investigativen Recherchen abzuhalten.
So sehen die fatalen Folgen aus, wenn man, wie der
Preisträger, die Sicherheit zum Grundrecht kürt, wenn man die Staatsräson zum
Verfassungsgrundsatz erhebt, die alles andere dominiert: Dann herrscht
partielle Willkür, dann werden Bürgerrechte zur Makulatur. Angesichts
überzogener Antiterrormaßnahmen und einer eskalierenden Sicherheitsdebatte
warnte der frühere Datenschutzbeauftragte und Vorsitzende des Nationalen
Ethikrates, Spiros Simitis, eindringlich: "Jetzt ist der Punkt erreicht,
wo wir am Grundbestand unserer verfassungsrechtlichen Vorgaben angelangt sind
- der Übergang in eine totalitäre Gesellschaft ist fließend". Und der
Soziologe Ulrich Beck sieht mit der "Risikogesellschaft", in der wir
leben, ohnehin eine "Tendenz zu einem ‚legitimen' Totalitarismus der Gefahrenabwehr"
verbunden: Ausgestattet mit "dem Recht, das Schlimmste zu
verhindern", schaffe sie in "nur allzu bekannter Manier das andere
Noch-Schlimmere". Anstatt dieser fatalen Tendenz wirksam entgegenzutreten,
betätigte sich Otto Schily als ihr missionarischer Vollstrecker. Selbst sein
Ministerkollege Wolfgang Clement fand deutliche Worte für Otto Schilys
freiheitsbegrenzendes Wirken, als er seine Zeit nach dem Ausstieg aus der
Bundesregierung so skizzierte: "Ich bin ein freier Mensch und werde jetzt
von meinen Freiheitsrechten Gebrauch machen - und zwar ausgiebig -, natürlich
nur in dem Rahmen, den Otto Schily mir noch zur Verfügung stellt..." (WDR
10.10.2005).
Herzlichen
Glückwunsch zum "BigBrother-Lifetime-Award", Herr Schily.
Aus:
31.20.05
Die
Langfassung dieser Laudatio finden Sie unter:
www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/dokumentation/
*************
Liga-Pressemitteilungen
„Das Urteil des Europäischen
Gerichtshofs
für Menschenrechte im Fall Öcalan
muss Konsequenzen haben“
„Der weitere Umgang mit dem Fall
Öcalan wird zu einem Gradmesser für die Glaubwürdigkeit
der türkischen Menschenrechtsentwicklung“
Mit dem heute ergangenen Urteil des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg wird die Türkei wegen rechtsstaatswidriger
Bedingungen im Hochverratsprozess gegen den Kurdenführer Öcalan verurteilt. Der
Angeklagte habe in der Türkei kein faires Verfahren erhalten und sei einer
„menschenunwürdigen Behandlung“ unterzogen worden. Dies verstoße gegen die
Europäische Menschenrechtskonvention.
Das Urteil zeige, so Liga-Präsident Dr. Rolf Gössner heute in Bremen, „dass der Fall Öcalan noch lange nicht Geschichte ist, sondern weit in Gegenwart und Zukunft der Türkei und Europas hineinragt. Der weitere Umgang mit diesem Fall in der Türkei wird ein Gradmesser für die Glaubwürdigkeit der türkischen Menschenrechtsentwicklung sein.“ Nun müsse die Türkei in einem Wiederaufnahme-Verfahren Bedingungen schaffen, die ein faires Verfahren zulassen – sonst hätten die alarmierenden Feststellungen des Europäischen Gerichtshof keine praktischen Auswirkungen. Auch die heftigen und noch zunehmenden Auseinandersetzungen über eine Neuverhandlung des Öcalan-Prozesses dürften die Türkei nicht davon abhalten.
Die Liga appelliert deshalb an die EU-Organe, gerade im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei darauf achten, dass der Straßburger Richterspruch tatsächlich umgesetzt wird, dass es also zu einer Neuverhandlung des Falles kommt und dass dieser unter fairen, menschenrechtlichen Bedingungen durchgeführt wird.
Darüber hinaus müsse der Fall
Öcalan im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen angemessene Berücksichtigung
finden, fordert Rolf Gössner, „insbesondere auch was die höchst bedenklichen
Isolationshaftbedingungen angeht.“ Auch wenn der Europäische Gerichtshof hier
keinen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention angenommen hat,
so müsse die Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali, wo Öcalan als
einziger Gefangener festgehalten wird, doch als „äußerst besorgniserregend“
bezeichnet werden. Nach gegenwärtigem Recht könnte Öcalan bis zu neun Jahre
unter diesen erschwerten Bedingungen in Einzelhaft gehalten werden. Und die
lebenslange Haft wird laut Gesetz tatsächlich bis zum Tode vollstreckt –
„streng genommen eine Hinrichtung auf Raten“.
Angesichts des schlechten Gesundheitszustands von Öcalan nach sechs Jahren Isolation fordert die „Internationale Liga für Menschenrechte“ die sofortige Aufhebung der Isolationshaft sowie die Unterlassung aller Willkürhandlungen, die den Kontakt mit Familienangehörigen und Rechtsanwälten immer wieder schwer beeinträchtigen; darüber hinaus die Entsendung einer unabhängigen Ärztekommission, die sich um den schlechten Gesundheitszustand Öcalans kümmert.
Es geht aber nicht nur um den Fall Öcalan. Bei den EU-Beitrittsverhandlungen muss auch die Kurdenfrage insgesamt einen ganz zentralen Platz einnehmen – mit dem Ziel einer friedlichen und gerechten Lösung, die der kurdischen Bevölkerung endlich sämtliche Menschenrechte und politisch-kulturelle Gleichberechtigung garantiert. (12. Mai 2005)
Liga fordert historische
Aufarbeitung in allen Ministerien – auch dem Bundesverteidigungsministerium und
den Innen- und Justizministerien in Bund und Ländern
„Bei der notwendigen Aufarbeitung
der Ministerien-Geschichte dürfen auch nachgeordnete Behörden wie Bundeskriminalamt,
Bundesnachrichtendienst und Bundesamt für Verfassungsschutz nicht ausgespart
werden“
Die „Internationale Liga für Menschenrechte“ begrüßt die
Initiative der Minister Joschka Fischer und Renate Künast, Historikerkommissionen
zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und personeller Kontinuitäten im Außen-
und Landwirtschaftsministerium einzusetzen. Eine solche systematische
Aufarbeitung der Ministeriumsgeschichte ist überfällig.
Bundesinnenminister Otto Schily disqualifiziert sich
selbst, wenn er sich im Namen der Bundesregierung weiterhin kategorisch
weigert, die Bundesministerien einer solchen Aufarbeitung zu unterziehen –
obwohl doch etwa ein Drittel der Bundesbeamten in der frühen Bundesrepublik
ehemalige Mitglieder der NSDAP waren. Liga-Präsident Rolf Gössner: „Damit
leugnet Schily personelle und mentale Kontinuitäten, die bis heute offiziell
nicht wirklich systematisch aufgearbeitet worden sind. Das gilt in besonderem
Maße auch für die dem Bundesinnenministerium nachgeordneten Behörden wie
Bundeskriminalamt und Bundesamt für Verfassungsschutz. Denn selbst ehemalige
Gestapo-Beamte und SS-Angehörige hatten in der Nachkriegszeit zum Teil hohe
Posten bei Polizei und Geheimdiensten erklommen. Selbst die furchtbarsten
Juristen der NS-Sondergerichte kehrten in Amt und Würden zurück und besetzten
Schlüsselpositionen. Ausgerechnet diese ‚bewährten’ Fachleute hielt man damals
für berufen, die neue bundesdeutsche Verfassung zu schützen.“
Diese personellen „Altlasten“ in den Ministerien, in
Polizei, Geheimdiensten und Justiz wirkten bei der inneren Aufrüstung der
Bundesrepublik im Kalten Krieg eifrig mit. Sie hatten prägenden Einfluss auf
die „innere Sicherheit“ und die einseitige politische Ausrichtung und
Feindbildpflege der Sicherheitsorgane gegen Links. So kam es in den 50er und 60
Jahren zu politischer Verfolgung großen Ausmaßes – gerichtet nicht etwa gegen
Alt- und Neonazis, sondern gegen etwa 200.000 Antifaschisten, Kommunisten und
andere Linke, und zwar zumeist wegen gewaltfreier Oppositionsarbeit. Die neuen
Strafverfolger in Polizei und Justiz waren nicht selten die alten Nazi-Täter,
die systematisch wieder in den Staatsdienst eingegliedert worden sind. Und auch
die Opfer blieben oft die gleichen: nämlich Menschen, die am Widerstand gegen
den Faschismus beteiligt und in der NS-Zeit mit äußerster Härte verfolgt worden
waren. Vielen NS-Opfern sind in der Bundesrepublik sämtliche Wiedergutmachungsansprüche
verweigert worden – unter anderem wegen politischer „Unwürdigkeit“.
Angesichts dieser Auswirkungen, die bis heute nachwirken,
fordert die „Internationale Liga für Menschenrechte“, endlich die gesamte personelle
und mentale Kontinuität zwischen Naziregime und Bundesregierung, inklusive der
nachgeordneten Behörden der Nachkriegszeit, offiziell und systematisch
aufzuarbeiten. Auch die Landesregierungen sind aufgerufen, ihre Ministerien und
nachgeordneten Behörden einer entsprechenden historischen Aufarbeitung zu unterziehen.
Rolf Gössner: „Trotz jahrzehntelanger Verspätung: Nicht allein die
Geschichte der DDR ist es wert, aufgearbeitet zu werden, auch die dunklen
Flecken der westdeutschen Geschichte müssen auch auf höchster politischer Ebene
endlich der Verdrängung entzogen werden.“
(17.05.2005)
***
„Mit Vorbeugehaft wäre nicht mehr
Sicherheit zu gewinnen, sondern Rechtsunsicherheit und Willkür. Menschen auf
bloßen Verdacht wegzusperren, gehört zum Arsenal von Diktaturen.“
Die Debatte um immer extremere
„Antiterror“-Maßnahmen nimmt kein Ende. Und Bundesinnenminister Otto Schily
(SPD) heizt sie im gerade begonnenen Wahlkampf noch weiter an: Er wirbt für die
Einführung einer präventiven Sicherungshaft für „gefährliche“ Personen. Sie
sollen ohne konkrete Beweise für eine möglicherweise bevorstehende Straftat
oder Straftatbeteiligung eine (un-)gewisse Zeit lang weggesperrt werden dürfen.
Eine solche präventive
Sicherungshaft auf bloßen Verdacht, also gegen prinzipiell Unschuldige, ist
nach Auffassung der Liga verfassungswidrig und widerspricht rechtsstaatlichen
Prinzipien. Liga-Präsident Dr. Rolf Gössner: „Damit wäre nicht mehr Sicherheit
zu gewinnen, sondern Rechtsunsicherheit und Willkür verbunden. Eine der wichtigsten
rechtsstaatlichen Errungenschaften, nämlich die Unschuldsvermutung, würde damit
ausgehebelt.“
Im übrigen gibt es in den Polizeigesetzen schon lange die
Möglichkeit der Präventivhaft zur Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden
Straftat (sog. polizeilicher Unterbindungsgewahrsam). Allerdings handelt es
sich bei diesem Unterbindungsgewahrsam prinzipiell um eine kurzfristige und
vorläufige Polizeimaßnahmen, deren richterliche Überprüfung unverzüglich
herbeizuführen ist.
Bundesinnenminister Schily möchte mit seinem Vorschlag
offenbar diese rechtlich schon zulässige Maßnahme wesentlich erleichtern,
zeitlich verlängern und auf Personen ausdehnen, die als „hochgefährlich“
gelten, wer immer das definiert, gegen die ansonsten aber keinerlei Verdacht
besteht, sie würden eine konkrete Straftat planen oder durchführen wollen. Rolf
Gössner: „Ein solcher Vorschlag ist unverantwortlich und würde der Willkür Tür
und Tor öffnen. Menschen auf bloßen Verdacht wegzusperren, gehört zum Arsenal
von Diktaturen.“ (3.08.2004)
***
Liga fordert Einstellung des
Strafverfahrens gegen die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin
“Das Strafverfahren gegen E.
Keskin ist ein internationaler Skandal, der bei den EU-Beitrittsverhandlungen
zur Sprache kommen muß“
Die „Internationale Liga für Menschenrechte“ ist empört über die zeitweise Festnahme der international bekannten türkisch-kurdischen Anwältin und Menschenrechtlerin Eren Keskin. Die Vorsitzende des angesehenen Menschenrechtsvereins IHD ist angeklagt wegen „Beleidigung (des moralischen Charakters) der türkischen Streitkräfte“ – ein Straftatbestand, der mit dem europäischen Grundrechte-Standard der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar ist. Es handelt sich um ein politisches Meinungsäußerungsdelikt, das gegen die Meinungs- und Pressefreiheit verstößt. Die Anklage stützt sich auf Keskins Äußerungen, die sie bei einer Diskussion in Köln zur Rolle des türkischen Militärs in Staat und Gesellschaft sowie zu Folterungen in der Türkei gemacht hatte. Ihr drohen dafür bis zu drei Jahren Haft.
Liga-Präsident Dr. Rolf
Gössner – der Anfang des Jahres im Rahmen einer Menschenrechtsdelegation in der
Türkei auch Eren Keskin getroffen hat, um sich über die dortige Menschenrechtslage
zu informieren – fordert die Einstellung des Strafverfahrens. „Dieses
Verfahren gegen Eren Keskin ist ein internationaler Skandal. Er reiht sich ein
in weitere skandalöse Prozesse, die gegenwärtig von der türkischen Justiz gegen
Kritiker des türkischen Staates und der türkischen Politik geführt werden – so
etwa der Strafprozess gegen den international ausgezeichneten Romancier Orhan
Pamuk oder die absurde Anklage gegen Kurden, weil sie den verbotenen Buchstaben
‚W’ gebraucht haben, den es im türkischen Alphabet nicht gibt, wohl aber in der
kurdischen Sprache.“
In der Türkei werden nach wie vor Menschen kriminalisiert, denen nichts anderes vorgeworfen wird, als sich zu Themen wie der kurdischen Frage, dem Völkermord an den Armeniern, zu Foltermaßnahmen und zur Situation der Menschenrechte ihre kritische Meinung geäußert zu haben. Die Liga fordert, dass diese systematischen Menschenrechtsverletzungen, aber auch die nach wie vor ungelöste kurdische Frage während der EU-Beitrittsverhandlungen umgehend zur Sprache gebracht werden – und zwar solange, bis jene Gesetze abgeschafft sind, die die „Beleidigung des Militärs“ und die „Herabwürdigung des Türkentums“ mit Haftstrafen bedrohen, bis der Gebrauch der kurdischen Sprache und die kurdische Kultur legalisiert werden und bis die Folterer strafrechtlich verfolgt werden, und nicht diejenigen, die Folterungen dokumentieren.
Als Vorsitzende des
Menschenrechtsvereins IHD deckt Eren Keskin seit vielen Jahren Menschenrechtsverletzungen
auf, die von türkischen Sicherheitskräften begangen werden. Wegen ihrer
konsequenten Menschenrechtsarbeit und als engagierte Anwältin in politischen
Strafverfahren ist sie den türkischen Behörden schon lange ein Dorn im Auge.
Seit Jahren überzieht sie die Justiz mit Prozessen. Auch Morddrohungen ist sie
immer wieder ausgesetzt. 2004 ist Eren Keskin mit dem Aachener Friedenspreis
ausgezeichnet worden, 2005 mit dem „Theodor-Haecker-Preis für politischen Mut
und Aufrichtigkeit“. 2.11.2005
Interview
Menschenrechtsliga:
Umsetzung des Gerichtshof-Urteils zu Öcalan Gradmesser für Glaubwürdigkeit der
Türkei
Rolf Gössner, Präsident der
Internationalen Liga
für Menschenrechte, im Interview mit
DEUTSCHE WELLE: DW-WORLD.DE 11.05.2005
"Der
Umgang mit diesem Fall Öcalan ist ein Gradmesser für die Glaubwürdigkeit der Menschenrechtsentwicklung
in der Türkei. Ich gehe davon aus, dass die Türkei verurteilt wird, weil es
kein faires Verfahren war, das 1999 in der Türkei stattgefunden hat." Das
sagte der Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte (Berlin), Rolf
Gössner, in einem Interview von DW-WORLD.DE.
Einen
Tag vor dem erwarteten Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
in Straßburg im Berufungsverfahren "Öcalan gegen die Türkei" erklärte
Gössner, im Fall einer Verurteilung der Türkei werde es "harte Auseinandersetzungen
um eine Neuverhandlung in der Türkei geben, insbesondere mit den nationalistischen
Kräften". Er gehe davon aus, dass der Gerichtshof das Verfahren aufgrund
schwerer Verstöße gegen das Völkerrecht und die europäische
Menschenrechtskonvention für rechtswidrig erklären und für eine Neuansetzung plädieren
werde. Entscheidend dafür, ob das Straßburger Urteil umgesetzt werde oder
nicht, "wird letztlich das Verhalten der EU im Vorfeld der
Beitrittsverhandlungen sein. Es muss deutlich gemacht werden", so Gössner
weiter, "dass ein solcher Spruch des höchsten europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte in der Türkei umzusetzen ist".
Seine Organisation fordere die sofortige Aufhebung der Isolationshaft sowie die Unterlassung aller Willkürhandlungen, die den Kontakt mit Familienangehörigen und Anwälten schwer beeinträchtige. Öcalan sei auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali nach wie vor der einzige Häftling. Nach Beobachtungen seiner Organisation, so Gössner, habe sich die Menschenrechtslage in der Türkei bislang nicht wesentlich verbessert. Den Kurden würden weiterhin Grundrechte vorenthalten.
11. Mai 2005, 122/05
"Der Fall Öcalan
ist ein Gradmesser
für die türkische Menschenrechtspolitik"
Der
Prozess gegen PKK-Chef Öcalan war unfair, sagt der Präsident der Liga für
Menschenrechte Rolf Gössner im DW-WORLD-Interview. Er hofft, dass der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dies nun genauso sieht.
DW-WORLD: Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte in Straßburg will am Donnerstag sein definitives Urteil über
die Klage des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan gegen die Türkei bekannt
geben. Die Richter haben darüber zu entscheiden, ob Öcalan 1999 in der Türkei
ein fairer Prozess gemacht worden war. Mit welchem Richterspruch rechnen Sie?
Rolf
Gössner: Ich gehe
davon aus, dass die Türkei verurteilt wird, weil es kein faires Verfahren war,
das 1999 in der Türkei stattgefunden hat. Das hat der Europäische Gerichtshof
bereits im vorherigen Verfahrensabchnitt 2003 festgestellt. Ich hoffe, dass er
sich in seinem Urteil auch zu zwei wesentlichen Punkten äußert, die er 2003
offen gelassen hatte. Zum einen zu den dubiosen Umständen der Entführung
Öcalans im Februar 1999 aus Kenia und zum anderen zu den Vorwürfen der Isolationshaft,
der Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali ausgesetzt ist, wo er als einziger
Gefangener einsitzt. Bei beiden Punkten handelt es sich um mutmaßlich schwere
Verstöße gegen das Völkerrecht und die europäische Menschenrechtskonvention.
Inwiefern
war das Verfahren in der Türkei 1999 unfair?
Dieser
Hochverratsprozess, der als "Jahrhundertprozess" bezeichnet wurde,
ist in erstaunlicher Schnelligkeit über die Bühne gegangen - nicht gerade ein
Indiz für Gründlichkeit. Geführt wurde der Prozess zudem von einem Gericht, das
nicht als unabhängig bezeichnet werden kann, da ein Militärrichter daran
beteiligt war. Durch die massive Einschränkung seiner Verteidigung und durch
die Verhängung der Todesstrafe wurde Öcalan inhuman behandelt. Inzwischen ist
die Todesstrafe ja in lebenslange Haft umgewandelt worden, aber die anderen
Rechtstaatswidrigkeiten sind geblieben.
Sie
waren als Beobachter des Öcalan-Revisionsverfahrens in Straßburg. Warum?
Das
Revisionsverfahren im Juni 2004 (Das Urteil der kleinen Kammer des
Gerichtshofes 2003, das Verfahren gegen Öcalan sei unfair, wurde von Öcalans
Rechtsanwälte positiv gewertet, wenn auch als ungenügend. Deshalb legten sie
2004 Revision ein. Anmerkung d. Red.) ist von einer ganzen Reihe von Persönlichkeiten
und Menschenrechtsorganisationen aus Europa und Südafrika beobachtet worden.
Ich war für die "Internationale Liga für Menschenrechte" dabei. Es
ging darum, auf internationaler Bühne deutlich zu machen, dass der Fall Öcalan
nicht etwa Geschichte ist, sondern weit in die Gegenwart und Zukunft der Türkei
und Europas hineinragt. Der Umgang mit diesem Fall ist ein Gradmesser für die
Glaubwürdigkeit der türkischen Menschenrechtsentwicklung. Da die Türkei nicht
von sich aus die notwendigen Bedingungen schafft, war der Weg nach Straßburg
für die Verteidiger zwingend.
Sollte
der Gerichtshof die Türkei verurteilen - wie wird sich Ihrer Meinung nach die
türkische Regierung verhalten?
Prinzipiell
ist die Türkei verpflichtet, Urteile des Europäischen Gerichtshofs umzusetzen.
Allerdings gibt es für den Fall der Wiederaufnahme von Verfahren eine
Einschränkung: Strafverfahren, die vor Anfang 2003 in letzter Instanz in der
Türkei abgeschlossen worden sind - und Öcalan wurde ja bereits 1999 verurteilt
- , sind davon ausgenommen. Hier spricht man sogar von einer "Lex
Öcalan". Es wird harte Auseinandersetzungen um eine Neuverhandlung in der
Türkei geben, insbesondere mit den nationalistischen Kräften. Entscheidend
dafür, ob das Straßburger Urteil umgesetzt wird oder nicht, wird letztlich das
Verhalten der EU im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen sein. Es muss deutlich
gemacht werden, dass ein solcher Spruch des höchsten europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte in der Türkei umzusetzen ist. Es muss eine Neuverhandlung
angesetzt werden unter Bedingungen, die einem fairen Verfahren entsprechen.
Inwiefern
muss die EU auch weiterhin Druck ausüben?
Der
Fall Öcalan muss bei den EU-Beitrittsverhandlungen berücksichtigt werden, insbesondere
was die Haftbedingungen angeht. Nach gegenwärtigem Recht könnte Öcalan bis zu
neun Jahre unter erschwerten Bedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali in
Einzelhaft gehalten werden. Und die lebenslange Haft wird laut Gesetz bis zum
Tode vollstreckt. Streng genommen ist das ja eine Hinrichtung auf Raten. Und
Isolationshaft ist eine Methode, die dazu geeignet ist, Persönlichkeit und
Willen von Gefangenen zu brechen. Deshalb wird diese Methode auch als weiße
Folter bezeichnet.
Welche
Forderungen stellen Sie an die Türkei?
Ich
fordere im Namen der "Internationalen Liga für Menschenrechte" die
sofortige Aufhebung der Isolationshaft, zweitens die Unterlassung aller
Willkürhandlungen, die den Kontakt mit Familienangehörigen und Rechtsanwälten
nach wie vor schwer beeinträchtigen. Darüber hinaus die Entsendung einer unabhängigen
Ärztekommission, die sich um den schlechten Gesundheitszustand Öcalans kümmern
sollte. Es geht aber nicht nur um den Fall Öcalan. Bei den Verhandlungen über
den Beitritt der Türkei zur EU muss die Lösung der Kurdenfrage insgesamt einen
ganz zentralen Platz einnehmen. Das ist nach wie vor ein brennendes Problem.
Sie
haben kürzlich mit einer internationalen Delegation von Juristen die Türkei
besucht, auch um sich über die Situation Öcalans zu informieren. Welche
Eindrücke konnten Sie gewinnen?
Wir wollten uns einen persönlichen Eindruck von den Haftbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali verschaffen. Unser Besuchsantrag wurde aber vom Justizminister aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Die Insel und die Zufahrtswege sind militärisches Sperrgebiet. Da gibt es kein Durchkommen. Wir konnten aber mit den Anwälten und Familienangehörigen Öcalans sprechen. Wir haben uns außerdem bei offiziellen Stellen und Nichtregierungsorganisationen über die Menschenrechtslage insgesamt informiert.
Und,
hat die Situation sich verbessert?
Es
gibt da viel Propaganda von Seiten der türkischen Regierung und auch eine
gewisse Leichtgläubigkeit auf Seiten mancher Europäer. Leider hat sich nach
unseren Erkenntnissen die Menschenrechtslage bislang noch nicht wesentlich
verbessert. Es gibt zwar Anstrengungen, aber auch eine erhebliche Diskrepanz
zwischen den Gesetzesreformen und der Umsetzung in der Praxis. Mentalität und
Denken der türkischen Regierung und Behörden haben sich unseres Erachtens nicht
grundlegend geändert. Die offizielle Politik ist weit davon entfernt, die Identität
der Kurden anzuerkennen und sie mit gleichen Rechten und Freiheiten
auszustatten. Nach wie vor werden Kurden unterdrückt, nach wie vor werden ihnen
Grundrechte vorenthalten. Hier will ich noch einmal die Rolle der EU betonen.
Die Menschenrechtsorganisationen in der Türkei sagen übereinstimmend, dass sie
die EU-Beitrittsverhandlungen als historische Chance werten, die
Menschenrechtslage zum Besseren zu wenden. Auch ich bin zu der Auffassung
gelangt, dass gerade der Einfluss der EU für eine Verbesserung der
Menschenrechtslage der wirksamste Faktor sein kann.
Liga-Intervention
Der Bremer Publizist Gössner kritisiert einen in «Bild» gezogenen Vergleich zwischen den Friedensnobelpreis- Nominierungen von Kanzler Schröder und Carl von Ossietzky. Das sei «politisch geschmacklos», schreibt Gössner in der „Netzeitung“.
Der Bremer Publizist und Präsident
der Internationalen Liga für Menschenrechte (ILMR), Rolf Gössner, hat die in
«Bild» gezogene Parallele zwischen den Friedensnobelpreis- Nominierungen der
Sozialdemokraten Gerhard Schröder und Carl von Ossietzky als «politische Geschmacklosigkeit»
kritisiert. Während Schröder einen Wahlkampf führe, habe Ossietzky, als er 1935
für die Ehrung vorgeschlagen worden sei, im Konzentrationslager gesessen, so
Gössner.
Zuvor hatte
«Bild»-Kolumnist Hugo Müller-Vogg die Nominierung Schröders für den Friedensnobelpreis
mit einer Nominierung Carl von Ossietzky in einen Zusammenhang gestellt. Der
Wahlkämpfer Schröder werde von dem Schriftsteller Günter Grass unterstützt, der
sich öffentlich dafür ausgesprochen habe, den Regierungschef mit dem
Friedensnobelpreis zu ehren, schrieb Müller Vogg. Für diese «Wahlkampfhilfe»
gebe es «ein historisches Vorbild».
Auch Ossietzky sei gefördert worden, so Gössner. Der Sozialdemokrat
und spätere Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) habe sich für seine Nominierung
eingesetzt, wie Brandt in einem später veröffentlichten Buch geschrieben habe.
Ossietzky war 1935 jedoch von den Nazis inhaftiert. Er saß im
Konzentrationslager.
Bei der Preiswürdigkeit Schröders und Ossietzkys bestünden
noch weitere Unterschiede, sagte Gössner, der als ILMR-Präsident auch die
jährliche Verleihung der Ossietzky-Medaille verantwortet. Im Gegensatz zum
deutschen Regierungschef sei Carl von Ossietzky ein «konsequenter
Friedensaktivist» gewesen, der kein Staatsamt innehatte, der «keinen Krieg mitführte
oder dazu Beihilfe leistete», schrieb Gössner unter Bezug auf das Engagement
Deutschlands im >völkerrechtswidrigen Angriffskrieg< gegen Jugoslawien,
im Anti-Terror-Krieg in Afghanistan oder die mit gewährten Überflugrechten
indirekte Unterstützung des Irak-Krieges. (nz)
Aus: Netzeitung 26.08.2005
http://www.netzeitung.de/deutschland/354850.html
«Bild»-Vergleich «politisch
geschmacklos»
«Bild»-Kolumnist Müller-Vogg stößt
mit einem Vergleich der Friedensnobelpreis-Nominierungen des Sozialdemokraten
Schröder und Carl von Ossietzky auf Kritik. Eine «politische Geschmacklosigkeit»,
nennt das Publizist Rolf Gössner in seinem Beitrag für die Netzeitung.
Angesichts der Nominierung von
Bundeskanzler Schröder (SPD) für den Friedensnobelpreis hat «Bild»-Kolumnist
Hugo Müller-Vogg eine Parallele zur Nominierung Carl von Ossietzkys im Jahr
1935 gezogen. Der Wahlkämpfer Schröder werde von dem Schriftsteller Günter
Grass unterstützt, der sich öffentlich dafür aussprach, den Regierungschef mit
dem Friedensnobelpreis zu ehren, so Müller-Vogg.
Diese
«Wahlkampfhilfe» habe «ihr historisches Vorbild». Auch Ossietzky sei gefördert
worden, schreibt der Kolumnist. Der Sozialdemokrat und spätere Bundeskanzler
Willy Brandt habe sich für seine Nominierung eingesetzt, wie Brandt in einem
später veröffentlichten Buch auch zugegeben habe. Jedoch war Ossietzky 1935 von
den Nationalsozialisten inhaftiert.
Müller-Voggs These von der
«Wahlkampfhilfe» für Schröder widerspricht in der Netzeitung Rolf Gössner,
Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, die auch die
Ossietzky-Medaille verleiht. Hier sein Beitrag:
„Die von
Hugo Müller-Vogg in der Bild-Zeitung gezogene Parallele zwischen der Nominierung
von Bundeskanzler Schröder für den Friedensnobelpreis 2005 und der des
Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky in den 30-er Jahren ist nicht nur
falsch, sondern an politischer Geschmacklosigkeit kaum zu übertreffen.
Gerhard
Schröder befindet sich tatsächlich im Wahlkampf – Carl von Ossietzky befand
sich während seiner Nominierung im KZ der Nazis. Hier von „Wahlkampf“ zu
sprechen ist purer Zynismus zu Wahlkampfzwecken.
Doch es gibt noch
weitere Unterschiede, was die Preiswürdigkeit betrifft: Auch wenn Bundeskanzler
Schröder und der rot-grünen Bundesregierung hoch anzurechnen ist, dass sie sich
weigerten, am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak teilzunehmen,
so hat er Deutschland doch zum ersten Mal nach 1945 in einen Krieg geführt –
1999 gegen Jugoslawien. Ein völkerrechts- und grundgesetzwidriger Angriffskrieg,
der bis heute ungesühnt blieb.
Während des Irak-Kriegs zählte Deutschland zur Koalition der
„Unwilligen“, war dann aber dennoch höchst willfährig: Mit Überflugrechten,
Awacs-Aufklärungsflügen und Logistikhilfe hat das von Schröder regierte Land
tatkräftige Unterstützung und damit Beihilfe zu diesem Angriffskrieg geleistet.
Ossietzky
war konsequent
Wenn man
so mutwillig wie Müller-Vogg eine Parallele zwischen dem SPD-Kanzler und Carl
von Ossietzky zieht, dann kann man zu dieser Art von „Friedensarbeit“ eines
Gerhard Schröder nicht schweigen. Im Gegensatz dazu war Carl von Ossietzky ein
konsequenter Pazifist, der kein Staatsamt bekleidet hatte, der keinen Krieg
mitführte oder dazu Beihilfe leistete, sondern der als Repräsentant der Deutschen
Liga für Menschenrechte und als Herausgeber der „Weltbühne“ für
seine friedenspolitische, anti-militaristische und antinazistische
Überzeugung kämpfte.
Er ist dafür noch in der Nacht des Reichstagsbrandes 1933 von den
Nazis verhaftet und ins Konzentrationslager verschleppt worden. Es waren unter
anderem die ins Exil geflüchteten Mitglieder der verbotenen Liga, die ein Jahr
später eine weltweite Kampagne zur Verleihung des Friedensnobelpreises an
Ossietzky führten.
Gegen den wütenden Widerstand der
Nazis wurde ihm schließlich 1936 diese internationale Auszeichnung für seine
Friedensarbeit zuerkannt. Ossietzky blieb inhaftiert, konnte die Ehrung also
nicht persönlich entgegennehmen. Er starb 1938 an den Folgen der erlittenen Misshandlungen
in der KZ-Haft.“
Aus: Netzeitung 26.08.2005
Kooperationen
& Aufrufe
Die Liga hat sich folgendem Appell
aus Europa angeschlossen:
Für Frieden und Dialog im türkisch-kurdischen
Konflikt
Immer noch harrt die kurdische
Frage einer gerechten und demokratischen Lösung. Sie würde auch wesentlich zum
Frieden im Mittleren Osten beitragen. Die wieder aufgeflammten Kämpfe in
kurdischen Gebieten in der Türkei haben zu einer weiteren Verschärfung der
gesellschaftlichen Probleme des Landes geführt. Es besteht die Gefahr einer
weiteren Eskalation.
In dieser kritischen Situation
übernahm eine Gruppe von türkischen Intellektuellen die Initiative und
appellierte an die Konfliktparteien, sämtliche militärischen
Auseinandersetzungen einzustellen und für eine vollständige Beendigung der
Atmosphäre der Gewalt zu sorgen. Die türkische Regierung wurde des Weiteren
aufgefordert, demokratische Schritte zur Lösung der kurdischen Frage zu
unternehmen.
Inzwischen erkannte der türkische
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in einer Rede, die er am 12. August in
Diyarbakir nach einem Gespräch mit türkischen Intellektuellen hielt, die
Existenz der kurdischen Frage an. In dieser Rede gestand er erstmals Fehler in
der türkischen Politik und sprach sich dafür aus, eine Lösung der kurdischen
Frage im Rahmen einer Ausweitung des demokratischen Reformprozesses anzustreben.
Diesen Vorschlag halten wir für konstruktiv, da er die Chance bietet, eine Basis
für eine Lösung zu schaffen.
Auch die kürzlich ausgerufene
einmonatige Waffenruhe von Kongra-Gel ist in diesem Sinne als konstruktiver Beitrag
zu einer friedlichen Lösung zu werten. Die vergangenen Jahre der blutigen
Kämpfe und der Tränen haben gezeigt, dass sich die kurdische Frage nicht mit
Gewalt lösen lässt. Diese Einsicht ist für eine Vertiefung des jetzigen
Prozesses von Nöten, um letztendlich auf demokratischem Wege zu einem dauerhaften
Frieden zu kommen.
Die genannten Entwicklungen in der
Türkei geben Anlass zu der Hoffnung, die kurdische Frage in der Türkei könne in
absehbarer Zeit gelöst werden. Damit dies nicht bei Worten bleibt wie oftmals
in der Vergangenheit, bedarf es weiterer Schritte, die der Vertrauensbildung
dienen müssen. Deshalb fordern wir als europäische Intellektuelle, Künstler,
politisch aktive Menschen und Vertreter von zivilgesellschaftlichen
Organisationen von beiden Konfliktparteien, dass diese alle notwendigen
Schritte unternehmen, damit der sich anbahnende Friedensprozess nicht ins
Stocken gerät. Die internationale Gemeinschaft bitten wir, solche Bemühungen
unterstützend zu begleiten.
·
Wir
rufen die Konfliktparteien auf, den jetzigen Prozess im Geiste des Friedens,
der Demokratie und der Menschenrechte zu entwickeln, damit aus der jetzigen
Situation ein dauerhafter Frieden erwächst.
·
Die
Europäische Union bitten wir, eine aktive Rolle zu übernehmen, um den für einen
Friedensprozess notwendigen Dialog zu fördern,
und
die internationalen Institutionen fordern wir zur Unterstützung aller der
Kräfte und Institutionen in der Türkei auf, die mit ihrem Wirken zum Frieden
und zur Demokratie beitragen.
Erschienen in „Le Monde“ vom 14.09.2005.
V.i.S.d.PG Prof.
Dr. Andreas Buro, c/o Dialog-Kreis, Postf. 90 31 70, in 51124 Köln, Tel.
02203-126 76, e-mail: dialogkreis@t-online.de
Auszug aus der
internationalen Unterstützerliste:
… Danielle Mitterand, José Bové, Mahfoudh
Romdhani, Vice- President of Brussels Parliament, Imre Kertesz Nobel Prize Winner; Hans Branscheidt,
Mezopotamian Development, Dr. Norbert Blüm former Employment
Minister, Prof. Andreas Buro Coordinator, Dialog-Kreis, Prof. Frank
Deppe, German Peace Society; Manfred Coppik, Rechtsanwalt und Notar, ehem. MdB, Hans-Peter
Dürr Emeritus Professor, Max-Planck-Institut, Gabriele Gillen
Author, Ulrich Gottstein Honorary Member, International Physicians for
the Prevention of Nuclear War, Dr. Rolf Gössner President, International
League for Human Rights, Günter Grass, Schriftsteller/Nobelpreisträger, Nina
Hagen Singer/Artist, Dieter Hildebrandt, Kabarettist, Prof. Joachim Hirsch, Dr. Inge Jens, Prof. Dr. Walter Jens, Heiko
Kauffmann Pro Asyl/Aktion Courage, Dietrich Kittner Cabaret
Artist; Hans Koschnik Former Mayor, Felicia Langer Author and Lawyer,
Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr, Prof. Dr. Oskar
Negt, Prof. Norman Paech, Peggy Parnass Journalist;
Prof. Dr. Horst-Eberhard Richter, Prof. Dr. Roland Roth, Dr. h.c. Herbert Schmalstieg, Oberbürgermeister von
Hannover, Thomas Schmidt General Secretary, European
Association of Lawyers for Democracy and Human Rights, Dr Herbert
Schnoor Former Vice-President and Interior Minister of
Nordrhein-Westphalia, Prof. Dr. Eva Senghaas-Knobloch, Christa Stolle,
Terre des Femmes e.V., Prof. Dr. Klaus Traube,
Günter Wallraff Author u.v.a.
Pressemitteilung vom 9. November
2005
In einem „Appell aus Europa für Frieden und Dialog im türkisch-kurdischen Konflikt“ setzten sich prominente Europäer für eine friedliche politische Lösung im Rahmen der Türkei ein. Seit September hat die Europa-Ausgabe der türkischen Zeitung Hürriyet eine regelrechte Kampagne gegen die Unterzeichner begonnen und ihnen die „Legalisierung des Terrors“ vorgeworfen.
Der
‚Dialog-Kreis‘ auf den der „Appell aus Europa“ zurückgeht, tritt nun in einem
offenen Brief den Vorwürfen entgegen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
den „Appell aus Europa für Frieden
und Dialog im türkisch-kurdischen Konflikt“ begleiten Sie in Ihrer Zeitung Hürriyet,
bisher in 6 Ausgaben, mit der Herabsetzung der etwa 140 prominenten
UnterzeichnerInnen aus vielen EU-Ländern.
Sie unterstellen den
Unterzeichnern des Appells, „unter dem Begriff Dialog die Legalisierung des
Terrors“ zu unterstützen. In Ihren Fragen an die UnterzeichnerInnen des Appells
setzen sie die Kurden mit El Qaida gleich. Noch einmal fordern Sie die
Unterzeichner auf nachzudenken, ob sie nicht mit oder ohne Wissen den Terror unterstützten.
Sie diffamieren in ihrer Ausgabe
vom 2.11.2005 die Unterzeichner insgesamt unter der Überschrift „Schock-Namen“.
Sie nennen unter anderen Danielle Mitterand, die Frau des früheren
französischen Präsidenten, „die beste Freundin der Kurden(!)“, verunglimpfen
den früheren Arbeitsminister Norbert Blüm, der es sich nach einem menschenrechtlichen
Engagement in der Türkei in Deutschland gemütlich gemacht habe, nennen – wohl
um bei Männern Gruseln zu erzeugen – Frau Christa Stolle von ‚Terre des
Femmes‘, erwähnen den Nobelpreisträger Günter Grass und behaupten schließlich,
die Mehrheit der Unterzeichner seien Priester, obwohl nur eine Handvoll Pfarrer
unterschrieben haben. Vielleicht wollen Sie mit dieser falschen Behauptung den
türkisch-stämmigen LeserInnen Ihrer Zeitung suggerieren, es handele sich bei
dem Friedens-Appell um einen Angriff des christlichen Abendlandes. Eine
eindeutige Falschmeldung (...).
Unser Appell ist eine
Unterstützung für eine friedliche Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts.
Dafür sahen wir neue Hoffnungen nach einer Rede des türkischen
Ministerpräsidenten in Diyarbakir und der Reaktion der kurdischen Guerilla
durch einen begrenzten Waffenstillstand. Die EU fordern wir auf, den für den
Friedensprozess notwendigen Dialog zu fördern und internationale Institutionen
bitten wir um Unterstützung für alle, die in der Türkei zu Frieden und
Demokratie beitragen. Wir fragen Sie. Warum sind Sie gegen Frieden in diesem
Konflikt?
Sie glauben doch nicht ernsthaft,
die Türkei könne EU-Mitglied werden, ehe sie nicht zu einer friedlichen Lösung
im türkisch-kurdischen Konflikt gekommen ist. Wenn Sie also solche Bemühungen
diffamieren, arbeiten Sie gegen den Beitrittswunsch der meisten Menschen in der
Türkei.
Sie unterstellen den
Unterzeichnern, unter ihnen auch Hans Koschnick, der in Mostar Hervorragendes
für die Aussöhnung verfeindeter Bevölkerungsteile geleistet hat, sie wollten
die „Legalisierung des Terrors“ unterstützen. Wie aber wollen Sie den blutigen
Kampf in der Türkei und seine terroristische Verbreiterung verhindern, wenn
nicht durch eine friedliche politische Lösung? Dazu müssen dann allerdings diejenigen,
die mit einander kämpfen, einen Weg finden, gegenseitiges Vertrauen
herzustellen und zu verstehen, welche Motive zum Kampf treiben. Das ist, wie
das Beispiel Irland eindringlich zeigt, ein sehr mühsamer und schwieriger Weg.
Ihn zu gehen ist allerdings unerlässlich, wenn dem eigenen Land nicht schwerer
und dauerhafter Schaden zugefügt werden soll. Die Presse könnte dabei eine sehr
wichtige Rolle zum Wohle der Türkei spielen. Sie verspielt jedoch ihre Chance
hierzu, wenn sie nur in argumentationsloser Diffamierung ihrer potentiellen
internationalen Friedenspartner verharrt (...).
Mit höflichen Grüßen Prof. Dr. Andreas Buro,
Koordinator des Dialog-Kreises
***
Auch in Bonn leben Kinder ohne Aufenthaltsstatus. Kinder, die zu einem
Leben in der Illegalität gezwungen sind. Kinder, die immer im Schatten leben
müssen und von den Eltern aus Angst versteckt werden. Kinder, die keinen
Kindergarten und keine Schule besuchen können, da die Eltern befürchten, der
illegale Aufenthalt der Familie könne über den Kindergarten- oder Schulbesuch
entdeckt und der Ausländerbehörde gemeldet werden. Kinder, die nicht die notwendigen
medizinischen Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfungen bekommen, weil Eltern
ohne Aufenthaltspapiere keine Krankenversicherung abschließen können.
Alle Kinder haben unabhängig vom Aufenthaltsstatus das Recht einen
Kindergarten und eine Schule besuchen zu können.
Alle Kinder haben unabhängig vom Aufenthaltsstatus das Recht auf
medizinische Versorgung.
Dieses Recht der Kinder auf Bildung und Gesundheit ungeachtet der
Herkunft wurde in verschiedenen internationalen Konventionen wie der
UN-Kinderrechtskonvention oder dem Haager Minderjährigenschutzabkommen verbrieft.
Wir fordern die Stadt Bonn auf, analog dem Beispiel von München und
Freiburg folgende Maßnahmen zu beschließen:
·
Die
Befreiung der Kindergartenträger und der Schulleiter nach dem Aufenthaltsstatus
der Kinder fragen zu müssen.
·
Die
Einrichtung eines Fonds für nichtversicherte Kinder, aus dem die Vorsorgeuntersuchungen,
die Schutzimpfungen und bei Krankheit die notwendigen Behandlungen bezahlt
werden.
·
Sich
dem „Manifest illegale Zuwanderung – für eine differenzierte und
lösungsorientierte Diskussion“ anzuschließen, das schon von fast 400 Personen,
Organisationen und Institutionen mitgetragen wird.
(Erst-)Unterzeichner:
Pfr. José Antonio Arzoz (Nationaldelegat für die spanischsprachige
katholische Seelsorge in Deutschland)
Sigrid Becker-Wirth, MediNetzBonn (Medizinische Vermittlungsstelle
für Flüchtlinge, MigrantInnen und Menschen ohne Papiere)
Dr. Hidir Celik, BIM e.V. (Bonner Institut für
Migrationsforschung und interkulturelles Lernen)
Bernhard „Felix“ von Grünberg, SPD
Jenny Dörnemann, Ärztin
Gert Eisenbürger, ila e.V. (InfoStelle Lateinamerika)
Dr. Rolf Gössner, Präsident der Internationalen Liga
für Menschenrechte, Berlin
Ulrich Hauke (Rechtshilfefonds für AusländerInnen)
Dieter Müller SJ (Leiter, Jesuiten-Flüchtlingsdienst)
Kai Pflaume (AKTION COURAGE e.V.)
Siegfried
Pater, Journalist
Lothar
Strunk (Migrationsdienste DRK-KV Bonn e.V.)
sowie weitere Bürgerinnen und Bürger
***
„Freiheitsrechte achten statt ächten“
Appel von
Bürgerrechtsorganisationen zur Bundestagswahl 2005
Wahlkampfzeiten laden
dazu ein, Grenzen des Bestehenden zu überschreiten und neue Lösungen zu
propagieren. Es ist aber zutiefst beunruhigend, dass Politikerinnen und
Politiker fast aller Parteien in Deutschland mit Forderungen Pluspunkte zu
sammeln versuchen, die auf den Abbau von Grundrechten zielen. Offenbar sind
unter dem Eindruck der jüngsten Terrorakte jegliche Maßnahmen diskutabel, die
der verunsicherten Bevölkerung ein trügerisches Gefühl von Sicherheit geben
sollen. Doch zu welchem Preis?
So wird z.B. die von
der CDU schon seit der Debatte um das Zuwanderungsgesetz geforderte präentive
Sicherungshaft mit Beginn des Wahlkampfes auch in der SPD befürwortet. Sicherungshaft
bedeutet eine monatelange Inhaftierung von Menschen, die nicht unter dem Verdacht
stehen, eine Straftat begangen zu haben, sondern eine solche irgendwann
eventuell zu begehen. Nicht nur, dass derartige Maßnahmen eklatant
verfassungswidrig sind. Bemerkenswert ist auch der Anlass dieser Forderung. Ausgerechnet
die Londoner Anschläge im Juli 2005 sollen hierfür als Rechtfertigung dienen,
obwohl doch die Existenz der Vorbeugehaft in Großbritannien diese Anschläge
gerade nicht verhindern konnte. Das u.a. aus den Erfahrungen mit der
Schutzhaftpraxis der Gestapo gewonnene verfassungsrechtliche Minimum, dass
Freiheitsentziehungen gerichtlich überprüfbar sein müssen, versucht der
Bundesinnenminister dabei als besonders rechtsstaatliches Zugeständnis zu
verkaufen. Tatsächlich wird eine gerichtliche Kontrolle aber umso wertloser, je
unbestimmter die gesetzlichen Voraussetzungen sind.
Auch die Erschießung
eines vermeintlichen Terrorverdächtigen in London, der sich nach der Tötung
durch fünf Kopfschüsse aus nächster Nähe als vollkommen unschuldiger Bürger entpuppte,
hat nicht zu der Erkenntnis geführt, dass Erschießungen auf Verdacht mit dem untragbaren
Risiko verbunden sind, dass Unschuldige sterben. Im Gegenteil wurde dieser
Vorfall zum Anlass genommen, eine derartige Praxis auch in Deutschland
einführen zu wollen. Anstatt aber einen Zuwachs an Sicherheit zu bringen, wird
durch die Erschießungsbefugnis Angst und Schrecken verbreitet. Denn jeden, der
sich „verdächtig“ verhält, könnte es treffen.
Ein weiterer
„Klassiker“ aus dem Bereich der markigen Forderungen ist der Ruf nach einem
Einsatz der Bundeswehr im Inland. Soll diese z.Z. „nur“ als Objektschutz und
als Antiterroreinheit aktiv werden, könnte die dafür notwendige
Grundgesetzänderung einen weiten Einsatzrahmen eröffnen. Darüber hinaus bleibt
unklar, wie eine auf die Vernichtung eines militärischen Gegners ausgerichtete
Armee im zivilen Bereich polizeiliche Aufgaben – wie das Verhindern von
Straftaten – übernehmen soll, ohne der Bevölkerung das Gefühl zu geben, im permanenten
Kriegszustand zu leben.
Im Gegensatz zur
Militarisierung des Alltags nimmt sich der Vorschlag, die Kompetenzen des
Bundeskriminalamtes in der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung zu erweitern,
auf den ersten Blick harmlos aus. Im Kontext der verstärkten Zusammenarbeit von
Geheimdiensten und Polizei kann dies jedoch zu einer Machtkonzentration führen,
die der Grundgesetzgeber aus triftigen historischen Gründen verhindern wollte.
Diese Beispiele aus
der letzten Zeit verdeutlichen eine fatale Politik, die mit immer neuen
Vorschlägen immer weiter gehende Grundrechtseinschränkungen propagiert, ohne
dass damit ein Sicherheitsgewinn tatsächlich zu erreichen wäre. Beunruhigend
ist dabei vor allem, dass derart intensive Eingriffe in die Freiheit jedes und
jeder Einzelnen keine nennenswerte Ablehnung in der Bevölkerung hervorrufen. Es
ist zu vermuten, dass eine breite Mehrheit der Menschen solche Maßnahmen nicht
als Bedrohung empfindet, weil sie scheinbar nur Minderheiten treffen. Doch
Ideen wie die vorsorgliche Speicherung sämtlicher Daten von Telefon- und
Internetverbindungen zeigen, dass alle Menschen Ziel von Überwachungs- und
„Antiterrormaßnahmen“ werden können.
Der Wert des Rechtsstaates liegt
gerade darin, dass er in Krisenzeiten seine Prinzipien bewahrt. Die unterzeichnenden
Organisationen rufen daher die Bürgerinnen und Bürger dazu auf, ihre Freiheiten
nicht einem vermeintlichen Sicherheitsgewinn zu opfern, sondern diese auch in
schwierigen Zeiten einzufordern.
Unterzeichnende
Organisationen:
Arbeitskreis kritischer juristinnen und juristen, Berlin (Michael Plöse) Humanistische Union,
Berlin (Martina Kant) Internationale Liga für Menschenrechte e.V., Berlin
(Rolf Gössner) Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V. (RAV), Berlin
(RA Hannes Honecker) Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen
e.V. (VDJ), Berlin (RA Christian Fraatz).
Nachrufe
Annemarie Friedrich
Die Liga trauert mit den Mitgliedern der Bürgerinitiative
Freie Heide um Annemarie Friedrich. Wir erinnern uns gut an die lebhafte Rede,
die Annemarie Friedrich als „Großmutter der FREIen HEIDe“ anlässlich der
Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille im Berliner Haus der Kulturen der
Welt gehalten hat. Es war im Dezember 2003 und die Zuhörer und Zuhörerinnen
konnten spüren, dass ihr Einsatz gegen die militärische Nutzung der
Kyritz-Ruppiner Heide, aber auch ihre Hoffnung auf Erfolg dieses Widerstands
ungebrochen waren.
In ihrem Sinne, so lesen wir in
den Nachrufen, will die Bürgerinitiative weiter kämpfen. Wir wünschen der
FREIen HEIDe – gerade in der gegenwärtig prekären Situation – weiterhin einen
langen Atem in ihrem Engagement für den Frieden und für eine ausschließlich
zivile Nutzung der Heide.
Jürgen Seifert
Ein herausragender Mitstreiter in Sachen Bürgerrechte ist
tot. Der Politologe Prof. Dr. Jürgen Seifert (Hannover) war eine der prägenden
Persönlichkeiten der Bürgerrechtsbewegung in der Bundesrepublik. Er stritt
gegen die atomare Aufrüstung, engagierte sich gegen die Notstandsgesetze, gegen
Berufsverbote, gegen eine neue Geheimpolizei und den Großen Lauschangriff. Er
gehörte zu den Gründern und Vorstandsmitgliedern einiger renommierter Bürgerrechts-
und Anwaltsvereinigungen, u.a. der Humanistischen Union und des RAV, und er
war Mitglied der G-10-Kommission des Bundestages zur Kontrolle der
Geheimdienste. Alle, die in seinem Sinne weiter für Bürger- und Menschenrechte
streiten, werden ihn vermissen. R.G.
Termine – Veranstaltungen
Jeden
letzten Donnerstag im Monat findet jeweils um 19 Uhr im Haus der Demokratie u.
Menschenrechte Berlin, Robert-Havemann-Saal, Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin,
eine
„Republikanische
Vesper“
statt
– mit Käse/Brot -Wein/Wasser.
Veranstalter:
„Ossietzky“
, Internationale Liga für Menschenrechte, Humanistische Union
Am
24. November 2005, 19 Uhr
zum Thema: Schulfach „Lebensgestaltung,
Ethik, Religionskunde“ (LER),
das 2006 an den Berliner Oberschulen eingeführt werden soll. Dadurch sehen die
Kirchen die Religionsfreiheit verletzt.
Republikanische
Vespern
Die Republikanische Vesper
war auch in den letzten Monaten ausgesprochen spannend. Ein Schwerpunkt war das
herrschende Privatisierungsunwesen. Seine Folgen wurden in zwei
Veranstaltungen beleuchtet, die eine über Privatisierung diverser
Sicherungsaufgaben, die andere zu der, weiter als von den meisten geahnt,
fortgeschrittenen Privatisierung der Knäste. Eine Vesper beleuchtete die
bestehende Praxis der Abschiebung und der Aberkennung des Asylstatus’ konkret
am Beispiel der in Deutschland lebenden afghanischen Staatsbürger und den
Zuständen in Afghanistan. Bei einer weiteren Vesper ging es um die Kinderarmut
in Berlin. Bei dieser Gelegenheit machten wir übrigens die Bekanntschaft mit
„Der Arche“, die zu deren Nominierung für die Carl-von-Ossietzky-Medaille
führte. Bei der letzten Vesper ging es um die Gefahr eines Krieges im Iran. Den
Abschluss in diesem Jahr bildet, im November, eine Veranstaltung über die Einführung
eines „Werteunterrichts“ neben dem Religionsunterricht an den Berliner Schulen.
Die mit den Einführungsbeiträgen
beauftragten Referenten besitzen immer eine besondere Sachkenntnis. Die ganz
besondere Qualität der Vesper macht für mich aber aus, dass ein jeweils
wechselnder Teil des Publikums eine berufliche oder sonstige enge Beziehung zu
der behandelten Thematik hat.
Zur Erinnerung: Die Republikanische Vesper ist eine
von der Redaktion von Ossietzky, der Humanistischen Union, dem
Republikanischen Anwaltsverein und der Liga getragene Veranstaltungsreihe, die
jeweils am letzten Donnerstag des Monats um 19 Uhr im Haus der Demokratie
stattfindet. Sie verdient weit größere Aufmerksamkeit.
Kilian Stein
Die
Topographie des Terrors
„Topographie des Terrors – verschleppt, vergessen, ignoriert“, „Das Elend der Berliner NS-Gedenkstätten“, „Streit um Berliner NS-Gedenkstätten“, „Beredte Brache“, „15 Millionen in den Berliner Sand gesetzt“, „Topographie verzögert sich“.
Die Schlagzeilen sind verklungen,
die Marmortürme sind gesprengt, Statements geschliffen, ein neuer Anlauf wird
versucht. Die Unterlagen der Neu-Ausschreibung wurden von rund 600
Interessenten angefordert, aus 300 Einsendungen wurden 25 durch die Jury
ausgewählt, eine Entscheidung soll im Frühjahr 2006 fallen. Das „BKM“ hat
zugesagt, dass keine Entscheidung gegen den Willen der „Topographie des
Terrors“ gefällt werden und das Mitspracherecht der Gremien respektiert werden
solle.
Es bleibt die Hoffnung, dass eine akzeptable Gedenkstätte
aus dem Vergangenheitsgeröll entstehen kann, nach den 25 Jahren, in denen die
Liga sich intensiv mit dem Thema Gestapogelände beschäftigt hat.
Die bisherige Ausstellung im Graben an der Niederkirchner Straße bleibt erhalten und weiterhin geöffnet (täglich 10 – 18 Uhr). Im Freien hinter dem Eingangsgebäude die neue Ausstellung „Das Hausgefängnis der Gestapo – Zentrale in Berlin. Terror und Widerstand 1933 – 1945.“ Am Bauzaun auf dem Gelände die gleichfalls neue Ausstellung „ Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß.“ Täglich 10 – 18 Uhr.
Marianne Reiff-Hundt
***
Sehenswerte Ausstellungen:
„Im Nationalsozialismus
verfolgte Berliner Stadtverordnete und Magistratsmitglieder 1933 - 1945“
Eine Ausstellung des Vereins Aktives Museum
30.9.- 30.11. Berliner Rathaus, Mo-Fr 9–18 Uhr
Diese Ausstellung dokumentiert anhand von 323 ausgewählten Biografien mit persönlichen Zeugnissen, Bildern und Dokumenten die Lebenswege von Parlamentariern, die aus ganz unterschiedlichen Gründen verfolgt wurden, ins Exil gingen oder haft und Tod erleiden mussten. Sie zeigt exemplarisch auch, wie die Parlamentarische Demokratie in Deutschland 1933 zerstört wurde.
Sonderausstellung in der
Gedenkstätte Deutscher
Widerstand
Der Warschauer Aufstand
August bis Oktober 1944“
Mo-Mi,
Sa 9–18 Uhr, Do 9-20 h, Sa, So 10-18 h
Bis 31.12.2005
Neue ständige Ausstellung im Deutschen Technikmuseum
Überlebende des Konzentrationslagers Sachsenhausen in der
Europ. Nachkriegspolitik
Ausstellung im Neuen Museum Sachsenhausen, tägl.
außer Montag von 8 Uhr 30 bis 16 Uhr 30
***
Veranstaltungen
mit Rolf Gössner
November/Dezember 2005
19.11., 13.30 h Stuttgart: Migranten unter Generalverdacht?
Arbeitskreis Asyl Baden-Württemberg
21.11., 20 h Frankfurt/M.: Zwischen Verharmlosung
und Überreaktion – Zum widersprüchlichen Umgang mit Neonazi-Aufmärschen und
Gegendemonstrationen, Club Voltaire, Kleine Hochstraße.
12.12., 19 h Hannover: Staatliche
Übergriffe auf Medien, dju-IG Medien, Cafe Konrad, Hannover
Literaturhinweise
Dokumentationen zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille 2003 an die BI „Freie Heide“ und Dr. Gerit von Leitner sowie 2004 an Percy MacLean, Esther Bejarano, Peter Gingold und Martin Löwenberg sind über das Liga-Büro zu erhalten - mit den Eröffnungsreden, den Laudationes und Dankesreden.
Zu beziehen über: Liga-Büro (ab Dezember).
Bürger-/Menschenrechte/Überwachungsgesellschaft
Fredrik
Roggan (Hg.),
Zu den
Konsequenzen des Urteils des Bundesverfassungsgericht zum großen Lauschangriff,
Gedächtnisschrift für Hans Lisken, BWV-Berliner
Wissenschafts-Verlag, Berlin 2004, 127 S., 14,80 €
Mit
Beiträge u.a. von Erhard Denninger, Burkhard Hirsch, Martin Kutscha, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Fredrik Roggan, Edda Wesslau.
Im
Jahre 2004 hat das Bundesverfassungsgericht den "Großen
Lauschangriff" - also das heimliche Lauschen mit elektronischen Wanzen in
Wohnungen - für weitgehend verfassungswidrig erklärt. Darauf musste der Gesetzgeber
reagieren - entweder, indem er diese umstrittene Möglichkeit aus
rechtsstaatlich-bürgerrechtlichen Gründen ganz fallen lässt, oder aber indem
er das Gesetz entsprechend den verfassungsrechtlichen Kriterien "nachbessert".
Die rot-grüne Bundesregierung hat auf eine "Nachbesserung" gesetzt,
die - so umstritten sie auch ist - inzwischen vom Bundestag verabschiedet
worden ist. Der CDU geht dieses Gesetz nicht weit genug; die FDP, die
ursprünglich für die verfassungswidrige Variante zusammen mit der CDU/CSU
mitverantwortlich war, möchte inzwischen völlig von diesem
Ermittlungsinstrument Abschied nehmen.
In dem vorliegenden Buch von Fredrik Roggan werden die Konsequenzen der Verfassungsgerichtsentscheidung von 2004 für das Recht der "Inneren Sicherheit" untersucht. Dabei zeigt sich nach Auffassung der Autorinnen und Autoren, dass die Bedeutung der Entscheidung in vielerlei Hinsicht über ihren Anlass, also über den Großen Lauschangriff, hinausreicht. Das Sicherheitsrecht insgesamt bedarf einer Anpassung an die Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts. Dafür liefern die Beiträge reichlich profunde Argumente.
AStA
Fachhochschule Münster (Hg.),
ALLE
REDEN VOM WETTER. WIR NICHT.
Beiträge zur Förderung der kritischen Vernunft,
Westfälisches Dampfboot, Münster 2005, 204 S.,
15,90 €
In diesem Buch wird eine Veranstaltungsreihe an der Fachhochschule Münster aus dem Jahre 2004 dokumentiert. Die Beiträge "zur Förderung der kritischen Vernunft" beschäftigten sich mit höchst unterschiedlichen Themenstellungen. AutorInnen u.a.: Freek Huisken, Anne Jung, Ilka Schröder, Fritz Storim, Ingrid Strobl. Rolf Gössner: Überwachung ohne Grenzen - Zur Entwicklung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems.
Müller-Heidelberg/Finckh/Steven/Habbe/
Micksch/Kaleck/Kutscha/Gössner/Schreiber (hg)
GRUNDRECHTE-REPORT
2005 -
Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in
Deutschland
Fischer Taschenbuch Verlag in der S. Fischer Verlag
GmbH, Frankfurt/M. 2005
255
Seiten, ISBN: 3-596-16695-0; 9,90 €
www.grundrechte-report.de
Am 23. Mai, dem Tag des Grundgesetzes, erschien der neue „Grundrechte-Report 2005“ im Fischer-Verlag, Frankfurt/M. Diese jährlich erscheinende Buchpublikation wird von renommierten Bürgerrechtsorganisationen (Humanistische Union, Gustav-Heinemann-Initiative, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, Pro Asyl, Republikanischer Anwältinnen- und Anwaltsverein, Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen) herausgegeben. Inzwischen gehören auch die Internationale Liga für Menschenrechte und die Neue Richtervereinigung zum Herausgeberkreis.
Der Report ist erstmals 1997 als eine Art „alternativer
Verfassungsschutzbericht“ erschienen. Er spiegelt ein breites Spektrum der
deutschen Bürgerrechtsbewegung wider und gibt einen guten Überblick über die
„Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“. In diesem Jahrbuch wird
anhand zahlreicher aktueller Fälle dokumentiert, wie im Namen des
Anti-Terror-Kampfes, im Namen der Sicherheit und umstrittener Sparzwänge Menschenwürde
und Menschenrechte zur Disposition stehen. Auch in diesem Jahr berichtet der
Report von Grundrechtsverstößen durch die Polizei und andere Behörden, er macht
aufmerksam auf Fälle der Missachtung der Verfassung durch das Parlament und
informiert über Defizite im gerichtlichen Grundrechtsschutz.
Ein Schwerpunkt dieses Bandes ist neben der
expandierenden Überwachung die kritische Auseinandersetzung mit dem Abbau des
Sozialstaates durch „Hartz IV“ und andere Arbeitsmarktgesetze.
Gesellschaftliche Solidarität ist kein Luxus für die Zeiten des Überflusses, sondern
Verpflichtung, die aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde jedes und jeder
Einzelnen folgt. Die Entwicklung des Sozialstaats, aber auch die Asyl- und
Ausländerpolitik in unserem Land machen eines ganz deutlich: Wie die staatlichen
Institutionen den Schwächsten –
asylsuchenden, armen, aber auch alten Menschen – gegenübertreten, bleibt
wichtiger Gradmesser für den Zustand von Menschenwürde, Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit in Deutschland.
Videoüberwachung am Arbeitsplatz, der „große
Lauschangriff“ auf die Privatwohnung und im Straßenverkehr die automatische
Erkennung von Autokennzeichen – geht die Privatsphäre in allen Lebensbereichen
Stück für Stück verloren? Wie viel Sozialstaat bleibt, wo „Hartz IV“ Arbeitszwang
verordnet und die neue Sozialhilfeberechnung die Existenzsicherung
erschwert? Gilt der Schutz der
Menschenwürde noch absolut, wenn das Abschießen entführter Passagierflugzeuge
erlaubt ist und das Folterverbot gelockert werden soll?
Diesen und anderen Fragen geht dieses Buch nach. In Zeiten, die geprägt sind von terroristischer Bedrohung und wirtschaftlicher Krise, ist der wachsame und kritische Blick auf die Lage der Grund- und Menschenrechte in Deutschland nötiger denn je. Indem das Buch Demokratiedefizite deutlich herausstellt und Maßnahmen zu ihrer Beseitigung vorschlägt, liefert es einen engagierten Beitrag zur Demokratisierung.
Pär
Ström, DIE ÜBERWACHUNGSMAFIA.
Das gute Geschäft mit unseren Daten,
Hanser-Verlag, München 2005, 340 S.
Dieses Buch des schwedischen Informationstechnologen Pär Ström zeichnet den Weg in die Kontrollgesellschaft und den Überwachungsstaat nach und gibt Anregungen, wie die Betroffenen sich dagegen wehren können.
Ver.di
(Hg.),
DIE VERGESSENEN OPFER des Kalten Kriegs
Begleitheft zur Ausstellung: Hier besteht Handlungsbedarf!
Die vergessenen Opfer des Kalten Krieges. Erinnerungsarbeit gegen den Trend.
Hrg.
ver.di Fachbereich Medien, Kunst und Industrie Berlin-Brandenburg, Berlin 2005
Bezug
(2,50 €): Medien Galerie, Dudenstr. 10, 10965 Berlin,
galerierat@mediengalerie.org; www.mediengalerie.org
In der Ausstellung und dem vorliegenden Begleitheft geht es um die Justizopfer der Kommunistenverfolgung in den 50er und 60er Jahren der alten Bundesrepublik. Es werden einzelne Schicksale vorgestellt (Porträts), ebenso Anwälte, die in Kommunistenverfahren verteidigten sowie die Initiativgruppe für die Rehabilitierung der Opfer des Kalten Kriegs. Das Begleitheft enthält auch drei Vorträge von Heinrich Hannover, Rolf Gössner und Franz Kersjes.
Bischoff/Burkhardt/Cremer/Gerntke/Gössner/
Rock/Steffen/Walter,
Von der sozial-ökologischen Erneuerung zur Agenda
2010
144
Seiten; 11,80 Euro; sFr 21,40
http://www.vsa-verlag.de/books.php?kat=ap&isbn=3-89965-137-5
In
diesem Buch wird Bilanz gezogen – eines gescheiterten Projekts auf den
Politikfeldern:
Innen & Recht,
Außen & Militär, Wirtschaft & Steuern, Arbeitsmarkt, Gesundheit &
Soziales, Renten. Darin auch ein Aufsatz von Rolf Gössner: >Sieben magere
Jahre für die Bürgerrechte Rot-Grün hat sich um den Ausbau des Kontrollstaates
"verdient" gemacht<.
Migration/Asyl
„Hier geblieben! Es gibt keinen Weg zurück.”
Infoblatt von PRO ASYL zur Kampagne von GRIPS Theater Berlin, PRO
ASYL, GEW Berlin und Flüchtlingsrat Berlin. Hrsg. PRO ASYL; Frankfurt Main,
September 2005, Tel.: 069/ 23 06 88, Fax: -50, www.proasyl.de,
proasyl@proasyl.de, www.hier.geblieben.net
Fortsetzung
der Kampagne „Hier geblieben!“
GRIPS–Theater, Flüchtlingsrat
Berlin und PRO ASYL haben sich entschlossen, die Kampagne weiter fortzusetzen.
Dazu werden die Unterrichtsmaterialien überarbeitet und ab Oktober über PRO
ASYL (gedruckt und auf CDROM) von interessierten Schulen zu bestellen sein.
Gleiches gilt für einen Film (DVD) über den bisherigen Verlauf der Kampagne
(ca. 25 min, Zeitraum April – Juni 2005). PRO ASYL hat einen aktuellen Flyer
zur Kampagne mit einer Bestellliste für die Unterrichtsmaterialien
herausgegeben.
Die Jugendlichen
der Bleiberechtsinitiative Junger Flüchtlinge bereiten mit Unterstützung des
GRIPS-Theaters, des Flüchtlingsrates und des BBZ einen Kongress von Kinder und
Jugendlichen vor, der parallel zur nächsten Innenministerkonferenz in Karlsruhe
(08./09. Dezember 2005) stattfinden soll. Kinder und Jugendliche aus den
einzelnen Bundesländern werden als „Botschafter“ dazu eingeladen.
Das Theaterstück „Hier geblieben“
geht Ende Oktober /Anfang November wieder auf Tournee und wird auch zur IMK in
Karlsruhe zu sehen sein. Außerdem kann die Ausstellung mit den Ansichtskarten
der Schülerinnen und Schüler bei Bedarf ausgeliehen werden. Die Ausstellung
wird weiter ergänzt, es gehen nach wie vor neue Karten im GRIPS – Theater ein.
Vor den Bundestagswahlen hat das Aktionsbüro im GRIPS – Theater eine Rundmail
an alle Kandidaten gesandt und um Unterstützung und Stellungnahme im Sinne der
Kampagne gebeten. Ca. 40 Bundestagskandidaten verschiedener Parteien sandten
eine Antwortmail zurück. Außer den Vertreter/innen der CDU/CSU stimmten die
Politiker im wesentlichen dem Anliegen der Bleiberechtsforderungen zu. Als
Gegenargument wurde u.a. aus der CDU – Geschäftsstelle der Vorwurf des „selbst
verschuldeten“ langen Aufenthalts gebracht. Weitere Infos: www.hier.geblieben.net
Memorandum zur derzeitigen
Situation des deutschen Asylverfahrens; Hrsg.: amnesty international, AWO Bundesverband, AG
Ausländerund Asylrecht im Deutschen Anwaltsverein, Paritätischer
Wohlfahrtsverband, Diakonisches Werk der EKD; Neue Richtervereinigung, PRO
ASYL, Republikanischer AnwaltInnenverein., Bezug über PRO ASYL, Frankfurt Main,
Juni 2005
Widerrufsverfahren:
Flüchtlingsschutz mit Verfallsdatum? Vom beschämenden Umgang deutscher Behörden mit verfolgten
Menschen. Zahlen, Fakten & Hintergründe, Rechtliche Grundlagen, Praktische
Erfahrungen. Broschüre, Hrsg. PRO ASYL, Frankfurt/Main, August 2005
Flüchtlingsrat, Sonderheft 110: Ausgelagert.
Exterritoriale Lager und der EU -Aufmarsch an den Mittelmeergrenzen, Hrsg.: Flüchtlingsrat Niedersachsachsen,
Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM), Komitee für Grundrechte und
Demokratie, Redaktionsanschrift und Bezug: Förderverein Niedersächsischer
Flüchtlingsrat e.V., Langer Garten 23b, 31137 Hildesheim, Tel.: 05121/ 316-00,
Fax: -09 redaktion@nds-fluerat.org, ISBN 1433-4488, September 2005
Flüchtlingsräte zur Bundestagswahl 2005. Flüchtlinge haben keine Wahl. Hrsg.:
Flüchtlingsräte Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen,
Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, NRW, Saarland, Sachsen,
Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und AK Asyl Rheinland-Pflalz, erscheint u.a.
als Heft 32 des Magazins “Der Schlepper”, Bezug über FR Schleswig-Holstein, Oldenburger
Strasse 25, 24143 Kiel, Tel.: 0431/ 735 000, office@frsh.de,
www.frsh.de/schlepp.htm, Sommer 2005
„Recht auf alles“?
Der Diplompolitologe
und Fernsehjournalist Oliver Neß hat mit seinem Buch „Das Menschenrecht auf
Entwicklung“ offenbar erfolgreiche Überzeugungsarbeit geleistet. Jedenfalls
konnte er einen „notorischen“ und international profilierten Kritiker
des „Rechts auf Entwicklung“ zum Überdenken seiner Position bringen:
Franz Nuscheler, Professor für Politische Wissenschaft an der Gesamthochschule
Duisburg und renommierter Entwicklungstheoretiker, bescheinigte Oliver Neß in
seinem einleitenden Beitrag, dass er klug und überzeugend argumentiere.
Nuscheler begrüßt ausdrücklich, dass es wieder einen Streit um ein umstrittenes
„Recht auf alles“ gebe, das Oliver Neß ganz anders deute. Gerade diese
Deutung macht neugierig.
Was ist das
eigentlich, ein „Menschenrecht auf Entwicklung“? Wenn wir von
Menschenrechten reden, dann denken wir in erster Linie an die klassischen
politischen Freiheitsrechte, die als Abwehrrechte des Einzelnen gegen Eingriffe
staatlicher Gewalten konzipiert sind. Doch diese Ursprungskonzeption der
Menschenrechte hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts erweitert – eine Antwort
auf die existentiellen sozialen Folgen der industriellen Revolution. Der
klassische Menschenrechtskatalog ist folgerichtig ergänzt worden durch
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Solidarrechte. Beide Menschenrechtsdimensionen
erfuhren längst universelle Anerkennung und mit den UNO-Pakten auch eine
Verankerung im internationalen Rechtssystem.
Allerdings konnte
die Durchsetzung dieser Rechte nicht mit der Normen-Entwicklung Schritt halten
– wir spüren dieses Missverhältnis immer wieder, tagtäglich zeugen die Nachrichten
aus aller Welt davon. Das gilt in besonderem Maße für die dritte Generation,
zumal deren Normqualität im bestehenden Völkerrecht überaus umstritten ist.
Jedenfalls sind die Rechte dieser Dimension nicht einklagbar. Sie umfasst
Forderungen nach Frieden, Entwicklung, Umweltschutz und Gesundheit sowie das
Recht auf Ernährung und Bildung, auf humane Arbeitsbedingungen und ein menschenwürdiges
Leben. Diese neue Menschenrechtsdimension ist als Reaktion zu verstehen auf die
immensen Herausforderungen, die mit der forcierten Globalisierung nahezu
sämtlicher Lebens- und Gesellschaftsbereiche einhergehen. Sie ist zu verstehen
als notwendige Konsequenz aus einem der zentralen Menschheitsprobleme: dem
Nord-Süd-Konflikt, der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich, einer sich
dramatisch verschlechternden ökonomischen und sozialen Lage in den meisten
Entwicklungsländern. Daraus leitet das Recht auf Entwicklung, so schreibt Oliver
Neß (S. 134), einen verbindlichen Anspruch für marginalisierte Menschen und
Völker ab, sich sozial, wirtschaftlich und kulturell entwickeln zu können und
an einer Entwicklung teilzuhaben, in der alle Menschenrechte und
Grundfreiheiten voll verwirklicht werden können. Das Konzept dieses „Rechts
auf Rechte“, das erstmals 1977 im Rahmen der UNO diskutiert wurde, ist
afrikanischen Ursprungs. Politischer Hintergrund: das Ringen der Entwicklungsländer
("Länder des Südens") um eine neue Weltwirtschaftsordnung.
„Wunschzettel auf alles Schöne und Gute“?
Über Sinn und Unsinn dieses Rechts
wird seitdem trefflich gestritten. Franz Nuscheler hat sich bereits in den 90er
Jahren dagegen ausgesprochen: „Ein ‚Recht auf alles’, das von keiner
Staatengruppe und von keiner Person, die von Entwicklung ausgeschlossen ist,
eingeklagt werden kann, ist wenig wert und sollte nicht mit dem hohen Anspruch
eines ‚unveräußerlichen Menschenrechts’ geschmückt werden.“ Auf diese Weise
würden Menschenrechte verwässert, zu einem „Wunschzettel auf alles Schöne
und Gute in der Welt“ entwertet. Eine durchaus bedenkenswerte Position.
Franz Nuscheler gibt auch zu
bedenken, dass die westlichen Industriestaaten dem Recht auf Entwicklung während
der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz 1993 nur zugestimmt haben, weil niemand
aus ihm rechtliche Verpflichtungen ableiten kann, weil alle jegliche Leistungsverpflichtung
jenseits der freiwilligen Entwicklungshilfe ablehnen. Nuscheler fragt daher
konsequenterweise: „Wie viel wert ist es dann?“
Demgegenüber begründet Oliver Neß
(S. 135 f.), dass dem Recht auf Entwicklung eine ganz besondere Bedeutung als „moralischer
Imperativ“ und ethisches Fundament einer kooperativen internationalen
Strukturpolitik zukomme. So gesehen könnte man diese Fundierung auch als
menschenrechtliche Begründung des Konzepts von Global Governance
auffassen. Damit sollen neue multilaterale Kooperationsformen und Netzwerke auf
regionaler, nationaler und internationaler Ebene entwickelt werden – ausgehend
von der Erkenntnis, dass vielfältige Probleme wie Armut, soziale Unsicherheit,
Umweltzerstörung und ökonomische Instabilität nicht mehr von Nationalstaaten im
Alleingang bewältigt werden können. Aber Neß geht noch weiter: Er versteht das
Recht auf Entwicklung als einen wesentlichen – weil zeitgemäßen – Beitrag zur „Vervollkommnung“
des internationalen Menschenrechtssystems, zur „normativen Verdichtung im
Völkerrecht“ und darüber hinaus als eine „adäquate Reaktion auf
zugespitzte Überlebensbedingungen“ (S. 141) sowie als notwendiges „sozialpolitisches
Korrektiv der neoliberalen Globalisierung“.
Wiederbelebung
einer notwendigen Debatte
Folgt man der Argumentation von
Oliver Neß, so ließe sich das Recht auf Entwicklung als materiell-rechtliche Fundierung
der sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte sowie der
klassisch-politischen Freiheitsrechte begreifen (S. 136). Denn tatsächlich
lassen sich systematische Menschenrechtsverletzungen, wo immer sie passieren,
nicht nachhaltig bekämpfen, wenn man sie nur als Symptome begreift und
behandelt, nicht aber die Ursachen und Bedingungen angreift und beseitigt, die
für solche Rechtsverletzungen verantwortlich sind. Hier könnte ein Menschenrecht
auf Entwicklung ursachenorientiert und nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit
ansetzen und den Staaten sowie der internationalen Gemeinschaft Verpflichtungen
auferlegen, die zu menschenwürdigen Bedingungen beitragen. Utopischer
Idealismus?
Die
vorliegende Studie ist schon deswegen verdienstvoll, weil sie die
eingeschlafene Debatte um die Menschenrechte der zweiten und dritten Generation
gerade in einer Zeit wieder zu beleben versucht, in der die Globalisierungsfolgen
immer deutlicher zu Tage treten, in der aggressive „Antiterrorkriege“ wider das
Völkerrecht geführt werden – Kriege, die im Namen der Sicherheit letztlich
globale Unsicherheit produzieren; und in einer Zeit, in der das Völkerrecht in
Frage gestellt, aufgeweicht, ja grob missachtet wird, in der die klassischen
Menschenrechte im Zuge der Terrorismusbekämpfung weltweit mehr und mehr unter
die Räder kommen. Da ist es hilfreich, wenn die Debatte über die rein
normqualitative rechtsdogmatische und politologische Betrachtung hinausgeht und
eben auch politisch geführt wird. Hier sind in verstärktem Maße
Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften gefordert, sich in diese
Debatte einzumischen. Neß liefert ihnen hierfür eine solide und anregende
Grundlage.
Rolf Gössner
Aus: Gewerkschaftliche Monatshefte 11-12/04.
Oliver Neß, Das Menschenrecht auf Entwicklung –
Sozialpolitisches Korrektiv der neoliberalen Globalisierung. Mit einleitenden
Beiträgen von Franz Nuscheler und Norman Paech, LIT-Verlag Münster u.a. 2004
(Politikwissenschaft Bd. 110), 180 S., 19,90 €.
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Veröffentlichungen/Interviews von Rolf Gössner (Auswahl seit April/Mai 2005)
Anschlagsrelevante Texte? Wie der Verfassungsschutz kritische
Kommentare zu geistiger Brandstiftung erklärt, in: GRUNDRECHTE-REPORT 2005, Fischer-Verlag,
Frankfurt/M. 2005
Aufstand der „Unanständigen“? Oder:
Zivilcourage gegen Nazis strafbar, in: GRUNDRECHTE-REPORT 2005,
Fischer-Verlag, Frankfurt/M. 2005
Sieben magere Jahre für die Bürgerrechte - Rot-Grün hat sich um den
Ausbau des Kontrollstaates "verdient" gemacht, in: Bischoff/
Burkhardt/Cremer/ Gerntke/Gössner/Rock/Steffen/Walter, Schwarzbuch Rot-Grün -
Von der sozial-ökologischen Erneuerung zur Agenda 2010, Hamburg 2005, S. 52 f
Die vergessenen Justizopfer des
Kalten Krieges, in: Ver.di (Hg.), Die vergessenen Opfer des Kalten Krieges.
Begleitheft zur Ausstellung, Berlin 2005.
“Große Diskrepanz
zwischen Gesetzesreformen und Umsetzung in der Praxis”. Bericht über die
Türkei-Reise einer internationalen Menschenrechtsdelegation vom 16. bis 20.
Januar 2005, in: BLÄTTER FÜR DEUTSCHE UND INTERNATIONALE POLITIK (Bonn) 4/2005,
S. 508 ff.
Migrant/inn/en unter Generalverdacht – Die fatalen Auswirkungen des
staatlichen „Anti-Terror-Kampfes“, in: AZADI-infodienst 29/2005, S. 1 ff.
Tabu-Themen des
8. Mai, in: OSSIETZKY 10/2005
Aufstand der
Unanständigen, in: FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 23.05.2005, S. 7
Dienstliche
Verrufserklärungen, in: OSSIETZKY 11/ 2005, S. 379 ff.
Unkontrollierbare
Kontrolleure, in: FREITAG 3.6.05
Bundesamt für
Verfassungsschutz: "Streng ideologische Verrufserklärungen. Zu einigen
erstaunlichen "Erkenntnissen" des neuen Verfassungsschutzberichts,
in: GEHEIM 2/2005, S. 3 f.
Sieben dunkle
Jahre überstehen. Viele Bürgerrechte haben die rot-grüne Ära nicht überlebt.
Ein Rückblick auf die Entwicklung der „Inneren Sicherheit“ unter Schily &
Co., in: JUNGLE WORLD v. 6.7.05
Um den Überwachungsstaat verdient
gemacht. Sieben magere Jahre für die Bürgerrechte, in: FREITAG vom 19.08.05, S.
4.
Bürgerrechtliche Negativbilanz, in:
OSSIETZKY 17/ 2005, S. 625 ff.
Wiederkehr der Berufsverbote. Jüngere
Disziplinierungsfälle aus Ost und West. Aus Gesinnungsgründen haben kürzlich
zwei Betroffene ihren Job verloren, die Dunkelziffer dürfte weit höher sein,
in: JUNGE WELT 7.09.2005 (antirepressionsbeilage).
Nach der
Bundestagswahl: Die Zukunft der Bürgerrechte, in: NEUE RHEINISCHE ZEITUNG v. 19. 09.2005, WDR 3
Resonanzen, 15.09.2005.
Bürgerrechte
chancenlos? In: NEUES DEUTSCHLAND vom 8.10.2005, S. 1.
Er hat die
Sicherheit zum Grundrecht gekürt. Der BigBrotherAward 2005 in der Kategorie
„Lifetime“ geht an Bundesinnenminister Otto Schily/Auszüge aus der Laudatio von
Rolf Gössner, in: FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 31.10.2005, S.7
„Eine große Gefahr liegt in der schleichenden Aushöhlung
der Grundrechte“. Rolf Gössner sieht schwere Verstöße im Brechmitteleinsatz und
der ausufernden Telekommunikationsüberwachung, BREMER NACHRICHTEN vom
24.05.2005
„Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss beachtet
werden“. Interview mit Rolf Gössner in: STADIONWELT 06/2005, S. 25.
Geheimdienste sind Fremdkörper in einer Demokratie, in:
WESER-KURIER v. 22.06.2005; DELMENHORSTER KREISBLATT v. 22.06.05
Bilanz rot-grüner Bürgerrechtspolitik, Telefoninterview,
RADIO LORA München, 24.08.2005
Sicherungshaft, Interview, FUNKHAUS EUROPA RADIO BREMEN/WDR
3.08.2005
Menschenrechte in der Türkei, in: ZAMAN (Türk. Zeitung)
v.10.08.2005
Abbau der Bürgerrechte nach dem 11.09.2005, Interview,
RADIO QUERFUNK Karlsruhe, 18.09.05
Terrorismusfahndung
in Hamburg, NORDWESTRADIO RB/WDR 26.08.2005
Strafverfolgung Eren Keskins in der Türkei, in: RADIO LORA
München, 7.11.2005.
Notizen und Hinweise
Unser Präsidiumsmitglied Yonas Endrias ist im Oktober 2005 als Migrantenvertreter in den Berliner Landesbeirates für Integrations- und Migrationsfragen gewählt worden. Er ist für die Region Fernost, Afrika, Süd-, Mittel- und Nordamerika zuständig. Informationen zum Landesbeirat für Integrations- und Migrationsfragen auf dessen Internetseiten:
www.berlin.de/sengsv/auslb/beirat/index.html
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Unsere Liga-Website ist derzeit im Umbau begriffen. Wir hoffen, sie bald aktualisiert zu haben.
Impressum
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Menschenrechte,
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22; Fax 030 – 396 21 47;
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Redaktion
2/2005: Dr. Rolf
Gössner, Kilian Stein. Mitarbeit: Marco Benzi, Marianne Reiff-Hundt,
Mila Mossafer, Kilian Stein. ViSdP: Kilian Stein.
Spenden bitte an: Bank für Sozialwirtschaft,
Konto 33 17 100; BLZ 100 205 00