- Report                                  2/2005

Informationsbrief der INTERNATIONALEN LIGA FÜR MENSCHENRECHTE

Berlin, im November 2005

 

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter!


Wenn das Kuratorium auch in diesem Jahr aus einer Reihe von verdienstvollen Kandidatinnen und Kandidaten auszuwählen hatte, die wegen ihres Engagements für Menschenrechte und Frieden für die Auszeichnung mit der Carl-von-Ossietzky Medaille nominiert wurden, so hat das zwei Seiten. Es deutet darauf hin, dass es in der Republik weit mehr Menschen gibt, die in der Tradition engagierter Humanität stehen, als der oft entmutigte Blick wahrnimmt. Ihr Wirken ist aber auch ein Anzeichen für das Bestehen nicht bloß peripherer, sondern die gesellschaftliche Verfassung der Republik in ihrem Kern angreifender Missstände und Fehlentwicklungen.

   Mit den Auszeichnungen der Lehrerinnen Frau Niesen-Bolm und Frau Wannagat auf der einen und „Der Arche“ auf der anderen Seite will die Liga dazu beitragen, dass ein besonders erschreckender Übelstand stärker in das öffentliche Bewusstsein gerückt wird: Die Vernachlässigung oder gar Nichtachtung der materiellen und geistigen Interessen von Kindern und Jugendlichen. Deren Interessen galt und gilt die Arbeit der Preisträger, so unterschiedlich ihr Engagement auch ist. Die Ereignisse in Frankreich akzentuieren im Nachhinein auf eine bedrängende Weise die Richtigkeit dieser Wahl.

   Die zunehmende Entsolidarisierung und die Marginalisierung von immer mehr Menschen ist selbstverständlich ein allgemeineres gesellschaft­liches Phänomen. Sie darf von den Akteuren der Zivilgesellschaft nicht hingenommen werden, und zwar umso weniger, als die Entwicklung im verflossenen Jahr leider kein Anlass zu der Hoffnung gibt, dass in naher Zukunft von der Politik progressive Impulse ausgehen. Der Liga-Vorstand hat deshalb beschlossen, dass die Liga künftig im Rahmen ihrer Möglichkeiten wieder stärker die Verteidigung der sozialen Menschenrechte zu ihrer Aufgabe machen will.

Im vorliegenden Liga-Report ist die Tätigkeit der Liga im letzten halben Jahr dokumentiert. Eine sehr zu wünschende noch ausgreifendere Tätigkeit der Liga hängt zum einen davon ab, dass neue Mitglieder gewonnen werden und die vorhandenen sich wieder stärker an der Arbeit beteiligen. Zum anderen wäre dafür eine Verbesserung der finanziellen Lage der Liga wichtig. Sie hat sich gegenüber dem vergangenen Jahr zwar stabilisiert, aber die zur Verfügung stehenden Mittel sind weiterhin gering. Die Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille ist für uns ein finanzieller Kraftakt. Unsere Mitglieder, Mitstreiter und Sympathisanten mögen es nachsehen, dass wir auch in diesem Jahr um Spenden bitten.

Ein Wort in eigener Sache. Der Vorstand betrachtet den Report als richtiges und prinzipiell auch geglücktes Unternehmen. Leider ist aber zu sagen, dass sich in ihm das intellektuelle Potential und die für die Liga relevanten Erfahrungen der Mitglieder nur unzureichend wiederspiegeln. Auch bei dieser Ausgabe sind einige zugesagte Beiträge ausgeblieben. Die Redaktion appelliert deshalb an die Mitglieder, mehr als bisher den Report auch als eine Möglichkeit eigener Publikation anzunehmen. Mit der Herausgabe des Reports ist nicht wenig Arbeit verbunden. Die beiden Redakteure würde es sehr begrüßen, wenn die oder der eine oder andere in die Redaktion eintreten würde.

Kilian Stein                      Berlin, November 2005

„Man muss das Unrecht auch mit schwachen Mitteln bekämpfen“

 (Bertold Brecht, Aufsätze über den Faschismus)

Diese Verpflichtung gilt - mit leider wieder zunehmender Dringlichkeit - nach wie vor. Die Liga versucht, ihr nachzukommen. Damit die Liga vielleicht etwas weniger schwach wird, braucht sie Eure/Ihre auch finanzielle Unterstützung. Die finanzielle Situation der Liga ist seit dem letzten Aufruf vor einem Jahr stabiler geworden. Aber nach wie vor sind wir sehr knapp dran. Insbesondere die Preisverleihung die weiterhin politisch höchst sinnvoll ist, kostet uns ziemlich viel Geld. Wir bitten Euch/Sie deshalb um Spenden.

Mit bestem Dank und herzlichen Grüßen

Spenden bitte an: Bank für Sozialwirtschaft,
Konto 33 17 100; BLZ 100 205 00



I n h a l t

Einleitung..................................................................1

Carl-v-Ossietzky-Medaillen-Verleihung 2005 ....... 2

Hintergrund-Themen

Bundesrepublik

Rot-Grüne Bürgerrechtsbilanz (Rolf Gössner)........ 3

FR:Menschenrechtsliga rügt „Überwachungsstaat“ 6

Brauchen wir „NS-Gedenkstätten“?
(Marianne Reiff-Hundt)....................................... 6

Biometrische Obsession (R. Gössner) .................... 7

International

George Bush – Agent des Weltgeistes (K. Stein).... 9

Italiens Flüchtlingslager (Marco Benzi)................ 10

Iran I: Fälle von Menschenrechtsverletzungen...... 12

Iran II: Menschenrechtslage
und Atompolitik (Mila Mossafer) .........................
15

BigBrotherAward 2005

Verleihung der BigBrotherAwards 2005............... 17

Liste der Gewinner (Kurzbegründung).................. 18

BBA-Laudatio auf Otto Schily (Rolf Gössner)….. 19

Liga-Presseerklärungen

Der Fall Öcalan vor dem EuGMR......................... 22

Historische Aufarbeitung in Ministerien............... 23

Präventiven Sicherungshaft................................... 24

Verfahren gg kurdische Anwältin Esren Keskin .. 24

Interview

"Der Fall Öcalan -
Gradmesser für die türkische Menschenrechtspolitik"
(Deutsche Welle).............................................. 25

Liga-Intervention

Kritik an «Bild» wg Wahlkampf-Vergleichs......... 27

«Bild»-Vergleich «politisch geschmacklos»......... 27

Kooperationen & Aufrufe

Für Frieden+Dialog im türk-kurdischen Konflikt.. 28

Solidarität mit Kindern ohne Aufenthaltsstatus..... 30

Appell „Freiheitsrechte achten statt ächten“.......... 31

Nachrufe

Annemarie Friedrich, Jürgen Seifert...................... 32

Termine/Literatur/Hinweise ab........................... 32

Darin: Republikanische Vespern (Kilian Stein) ...  32  
Topografie des Terrors (M. Reiff-Hundt) ..............
33
 „Menschenrecht auf Entwicklung“ (Rezension)
.. 36

Impressum ............................................................. 38

Öffentliche Verleihung der
Carl-von-Ossietzky-Medaille

 

an die Lehrerinnen Mechthild Niesen-Bolm und Inge Wannagat und das Freizeit- und Beratungszentrum „Die Arche“ in Berlin

Sonntag, 11. Dezember 2005, 11.00 Uhr
- Einlass ab 10.00 Uhr -

Haus der Kulturen der Welt
(Kongresshalle), John-Foster-Dulles-Allee 10, Berlin-Tiergarten (Bus 100)

Eröffnung und Einführung: Dr. Rolf Gössner
Präsident der Internat. Liga für Menschenrechte

Laudatio: Percy MacLean

Kulturelles Begleitprogramm:
GRIPS-Theater, Kinder der „Arche“, Percussion-Group der Fritz-Karsen-Schule, Berlin

Beitrag 5,- €, (erm. 3,- €) Karten: Tageskasse

Int. Liga für Menschenrechte verleiht

Carl-v.-Ossietzky-Medaillen 2005

an die Lehrerinnen Mechthild Niesen-Bolm und Inge Wannagat sowie
an das Freizeit- und Beratungszentrum „Die Arche“ Berlin

Wie jedes Jahr verleiht die Internationale Liga für Menschenrechte anlässlich des Tages der Menschenrechte im Dezember die Carl-von-Os­sietzky-Medaille an Personen und Gruppen, die sich um Verteidigung, Durchsetzung und Fortentwicklung der Menschen- und Bürger­rechte und den Frieden besonders verdient gemacht haben sowie an Menschen, die sich in diesem Rahmen durch ihre Zivilcourage und ihr soziales Engagement vorbildlich verhalten.

In diesem Jahr erhalten die Carl-von-Ossietzky-Medaille die Berliner Lehrerinnen Mechthild Niesen-Bolm und Inge Wannagat sowie das Freizeit- und Beratungszentrum „Die Arche“ in Berlin.

Mit diesen Ehrungen macht die Internationale Liga für Menschenrechte, die nicht nur die klassisch-bürgerlichen, sondern auch die sozialen Menschenrechte einklagt, auf die soziale Kälte in unserer Gesellschaft und den fortschreitenden Abbau des Sozialstaates aufmerksam. Frau Niesen-Bolm und Frau Wannagat werden für ihr entschlossenes und mutiges Handeln ausgezeichnet, durch das sie die Abschiebung einer seit 1995 in Berlin lebenden 13jährigen Schülerin nach Bosnien verhindern konnten. „Die Arche“ wird für das umfassende ehrenamtliche Engagement zur Bekämpfung der Armut von Kindern und Jugendlichen in sozial benachteiligten Berliner Stadtteilen geehrt, mit dem die „Arche“-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter die Menschenwürde von Familien am Rande unserer Gesellschaft stärken.

Mit der Preisverleihung stellt die Liga das Verhalten der Preisträgerinnen als vorbildlich und


jeder Unterstützung wert heraus. Sie will aber auch das Bewusstsein dafür schärfen, dass die Bundesrepublik noch weit davon entfernt ist, die Standards zu erfüllen, die sich für sehr junge Menschen aus dem Grundgesetz und dem internationalen Übereinkommen über die Rechte der Kinder von 1989 ergeben – in Abwandlung eines Satzes von Berthold Brecht: „Wehe dem Land, das für seine Kinder solche Helfer braucht.“

Für den Vorstand der Liga

Dr. Rolf Gössner,    Kilian Stein,   Yonas Endrias


 


Hintergrund-Themen: Bundesrepublik

SIEBEN MAGERE JAHRE FüR DIE BüRGERRECHTE

Rot-Grün: Um den Überwachungsstaat verdient gemacht

Von Rolf Gössner

 


Das Misstrauensvotum gegen Kanzler Schröder kam eigentlich zu spät. Einen wirklichen Sinn ergeben hätte ein solcher Schritt vor der deutschen Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien oder wegen Hartz IV oder nicht zuletzt wegen der "Antiterrorgesetze". Dabei hatten doch im Herbst 1998 die angehenden Koalitionäre vollmundig eine neue Bürgerrechtspolitik versprochen. Besonders die Bündnisgrünen empfahlen sich als Bürgerrechtspartei, die nach 16 Jahren Kohl & Kanther den Bürgerrechten endlich wieder zum Durchbruch verhelfen wollte.

Doch anders als von vielen erhofft, kam es schon mit dem Koalitionsvertrag zu keinem wirklichen Umdenken und Umsteuern in der Innenpolitik. Zu keiner Zeit sah sich die prekäre Hinterlassenschaft der schwarz-gelben Vorgänger wirklich zur Disposition gestellt. Mit Ausnahme der Kronzeugen-Regelung wurde kein einziges noch so bürgerrechtsschädliches Repressionsinstrument revidiert. Auf eine wirklich liberalere Kriminalpolitik hoffte man ebenso vergeblich wie auf eine demokratische Polizeireform oder ein humanes Asyl- und Ausländerrecht. Unter Rot-Grün gab es keinen Ausstieg aus dem autoritär-präventiven Sicherheitsstaat - im Gegenteil.

Schon bei Halbzeit dieser Regierung war klar: die erhoffte Wende in Sachen Bürgerrechte unterblieb - abgesehen von respektablen Ausnahmen wie der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts oder dem überfälligen Zuwanderungsgesetz. Doch selbst da sind die Erwartungen kaum erfüllt worden: Das Staatsbürgerrecht ist nur recht eingeschränkt reformiert worden, und das neue Zuwanderungsgesetz verdient seinen Namen nicht - es müsste Zuwanderungsbegrenzungsgesetz heißen, wie die Praxis zeigt. Auch andere rot-grüne Aktivposten haben einen entscheidenden Haken: Sowohl das Informationsfreiheitsgesetz als auch das Antidiskriminierungsgesetz sind zu spät auf den parlamentarischen Weg gebracht worden, so dass letzteres gar dem vorzeitigen Ende von Rot-Grün zum Opfer fallen dürfte. Zwei andere Großprojekte hatten hingegen durchschlagende Wirkung: Das NPD-Verbotsverfahren und die "Antiterror"-Gesetzespakete.

Erinnern wir uns, im Herbst 2000 hatten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat im Sinne des "Aufstands der Anständigen" einen politisch unverantwortlichen Antrag auf Verbot der rechtsextremen NPD gestellt. Unverant­wortlich deshalb, weil vor allem die Regierung diesen Antrag ungeachtet einer Unterwanderung der NPD durch V-Leute auf den Weg brachte. Schließlich war der Verfassungsschutz seit langem über ein Netz von bezahlten V-Leuten in die NPD und ihre rassistisch-kriminel­len Machenschaften verstrickt. Etwa 30 der 200 Vorstandsmitglieder standen zuletzt als V-Leute im Sold des Geheimdienstes - allein diese Zahl an staatlich bezahlten Neonazis dürfte prägenden Einfluss auf die NPD gehabt haben. Der eigentliche Skandal bestand darin, dass die Exekutive diese Infiltration gegenüber den Verfassungsrichtern vertuschen wollte, obwohl wesentliche Teile des Verbotsantrags gerade auf den Zeugenaussagen dubioser V-Leute basierten, die dem Quellenschutz unterlagen. Das hätte ein rechtsstaatlich-faires Verbotsverfahren letztlich verhindert und zu einem verfassungswidrigen Geheimprozess geführt. Deshalb war es nur konsequent, dass das Bundesverfassungsgericht dieses geheimdienstlich verseuchte Verfahren im März 2003 einstellte.

Nach dem 11. September 2001 war es besonders Innenminister Schily, der mit seinem "Antiterror"-Aktionismus selbst die Hardliner von CDU/CSU verblüffte. Er werde "alle poli­zeilichen und militärischen Mittel aufbieten, über die die freiheitlich-demokratische Staats­ordnung... verfügt" - mit dieser martialischen Ankündigung trug Schily der damaligen Stim­mungslage Rechnung, ließ langgehegte Pläne aus den Schubladen der Macht kramen, zu voluminösen "Otto-Katalogen" schnüren und mit Antiterror-Etiketten bekleben.

Selbstverständlich gehört es zu den Aufgaben von Regierung und Sicherheitsbehörden, die Mittäter und Hintermänner von Anschlägen zu ermitteln und mit geeigneten, aber auch angemessenen Maßnahmen für die Sicherheit der Bürger zu sorgen. Die rot-grüne Bundesregierung jedoch tat weit mehr: Sie unterhöhlte verfassungsrechtlich verbriefte Grundrechte, obwohl es gerade in einer solch prekären Lage der Unsicherheit und Angst, wie sie nach dem 11. September 2001 zu spüren waren, Pflicht einer souveränen Exekutive gewesen wäre, Realitätssinn und Augenmaß zu bewahren, statt dem Ruf nach dem "starken Staat" mit weitgehend symbolischer Politik zu folgen. Anstatt der Bevölkerung die Wahrheit über Unsicherheitsfaktoren in einer Risikogesellschaft zuzumuten, wurden ihr unhaltbare Sicherheitsversprechen gemacht. Man bediente das Sicherheitsbedürfnis der Bürger und nutzte es, um (zumeist) längst geplante staatliche Nachrüstungsmaßnahmen zu legitimieren.

Es war eine rot-grüne Regierung, die mit den Antiterror-Paketen die umfangreichsten "Sicherheitsgesetze" zu verantworten hatte, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind - ohne auch nur die Frage zu stellen, ob nicht die bereits geltenden Gesetze ausreichen, um die Gefahren einzudämmen. Es existierte längst ein ausdifferenziertes System von Antiterror-Rege­lungen mit Sonderbefugnissen für Polizei, Justiz und Geheimdienste - es gab verdeckte Ermittler, die Raster- und Schleppnetzfahndung, die verdachtsunabhängige "Schleierfahndungen" sowie eine Fülle von Abhör- und Kontrollmöglichkeiten. Mit den neuen Antiterror-Gesetzen wurde draufgesattelt und ein fataler Trend bedient: die weitere Erhöhung der Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft - im Namen der Sicherheit und auf Kosten der Freiheitsrechte, sozusagen für den ganz normalen Ausnahmezustand.

Nur wenige Beispiele aus der Fülle neuer Befugnisse, die 2002 und später in Kraft getreten sind: Zwar gehörten Migranten schon zuvor zu der am intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe, nun aber stehen sie per Antiterror-Gesetz unter Generalverdacht und sehen sich einer noch rigideren Überwachung unterworfen. Ohne konkreten Anlass ist es möglich, in Ermittlungen zu geraten, die existenzielle Folgen haben konnten. Migranten - unter ihnen besonders Muslime, vielfach als "Islamisten" stigmatisiert und zu innenpolitischen Feinden gestempelt - waren die Hauptleidtragenden ausufernder Rasterfahndungen. Doch kein einziger "Schläfer" konnte mit dieser hochgelobten elektronischen Abgleichsmethode anhand unauffälliger Suchkriterien entdeckt werden.

Ausgerechnet die Geheimdienste, deren Versagen am 11. September 2001 offenkundig wurde, erlebten nach den Terroranschlägen einen wahren Boom. Sie wurden aufgerüstet und erhielten neue Befugnisse, die tief in die Grundrechte eingreifen. So dürfen sie inzwischen mit so genannten IMSI-Catchern Handys orten, wo­mit sich Bewegungsprofile ihrer Besitzer er­stell­en lassen, auch wenn die Geräte nur stand by geschaltet sind. Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst dürfen darüber hinaus von Banken, Post, Telekommunikationsanbietern und Fluglinien Auskünfte verlangen über Geldanlagen, Konten, Reisen oder andere Daten ihrer Kunden. Mit dem Automatisierten Kontenabrufverfahren kann die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zur Bekämpfung des Terrorismus und der Geldwäsche heimlich Kontostammdaten (Name, Geburtsdatum, Anschrift des Inhabers, Verfügungsberechtigungen) bei allen Kreditinstituten abrufen. Alle 2.200 Geldinstitute müssen über eine Computer-Schnittstelle jederzeit derartige Informationen über sämtliche Konten und Depots (noch nicht über die Inhalte) von allen Kunden zum Abruf bereithalten, ohne dass diese oder die Banken selbst von den Online-Abfragen etwas bemerken. Niemand weiß genau, was mit den Daten später geschieht.

Künftig werden biometrische Daten wie digitale Gesichtsbilder und Fingerabdrücke in die Ausweispapiere aufgenommen. Beide Merkmale sollen auf Chips gespeichert werden; die parallele Speicherung in (zunächst) dezentralen Hintergrunddateien würde einen automatischen Abgleich mit den Fingerabdruckdateien von Straftätern und Verdächtigen technisch ebenso möglich machen wie mit Fingerabdrücken, die an Tatorten krimineller Handlungen gefunden werden. Auch die digitalisierten Gesichtsbilder könnten mit Video-Aufnahmen aus dem öffentlichen Raum abgeglichen werden, um eine verdächtige oder gesuchte Person herauszufiltern.

Schließlich erlaubt es der neue § 129b Strafgesetzbuch, dass hierzulande mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer auch ausländischer "terroristischer Vereinigungen" (§ 129a) strafrechtlich verfolgt werden, selbst wenn sie sich in Deutschland völlig legal verhalten - eine Ermächtigung durch das Bundesjustizministerium reicht aus. Ein Novum in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte, mit dem das politische Strafrecht auf die Spitze getrieben und das Ministerium zum Richter über politische Bewegungen im Ausland erhoben wird - und zwar weltweit.

Die meisten Antiterrormaßnahmen folgen einer seit Jahrzehnten forcierten Präventionsstrategie, die mit jedem neuen Überwachungsinstrument immer mehr zur Maßlosigkeit neigt: Die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, verliert ihre machtbegrenzende Bedeutung - der Bürger mutiert zum potentiellen Sicherheitsrisiko, der seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muss; und die "Sicherheit" wird zum Supergrundrecht, das die Grundrechte der Bürger als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates in den Schatten zu stellen droht.

Längst ist von Otto Schily ein neues "Sicherheitspaket" geschnürt worden, und auch die CDU/CSU rüstet auf. Dabei geht es nicht mehr nur um Einzelmaßnahmen wie die abermalige Verschärfung des Ausländerrechts, noch mehr Videoüberwachung im öffentlichen Raum, die geheimdienstliche Beobachtung und Infiltration von Moscheen, die langfristige Speicherung von Telefon- und Internetdaten sowie die präventive Sicherungshaft für "gefährliche Personen". Inzwischen steht die Umkrempelung der gesamten "Sicherheitsarchitektur" und die Entkernung des demokratischen Rechtsstaats auf der Agenda.

Drei Tabubrüche sind absehbar: die Militarisierung der Inneren Sicherheit durch den erleichterten Einsatz der Bundeswehr im Inneren, der bereits möglich ist - etwa über Notstandsgesetze (1968) und Verteidigungspolitische Richtlinien. Dazu gehört auch die bereits gesetzlich geregelte Möglichkeit zum präventiven Abschuss gekaperter Passagierflugzeuge, um Anschläge aus der Luft zu verhindern - eine staatliche Lizenz zum gezielten Töten, würden doch im Falle eines solchen Abschusses auf Befehl des Verteidigungsministers mit Sicherheit Hunderte vollkommen unschuldiger Passagiere sterben.

Der zweite Tabubruch besteht in der Zentralisierung der Sicherheitsbehörden, allen voran der Polizei und des Verfassungsschutzes, obwohl diese nach dem Föderalprinzip grundsätzlich Ländersache sind - und der dritte in einer verstärkten Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten mit dem Ziel eines intensivierten Datenaustauschs (gemeinsame Lagezentren zur Terrorismusabwehr, zentrale "Islamisten"-Da­tei, europaweite Datenvernetzung ohne eine funktionierende demokratische Kontrolle).

Eine solche Verzahnung würde das verfassungsmäßige Gebot der Trennung von Polizei und Geheimdiensten unterlaufen - jener bedeutsamen Lehre, die ursprünglich aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo in der Nazizeit gezogen worden war. Doch lange schon wächst hier zusammen, was nicht zusammen gehört. Am Ende wird sich wohl alles in einer mächtigen Vereinigten Sicherheitsagentur zusammenfinden. Zur Erinnerung: Mit dem Trennungsgebot sollte ursprünglich verhindert werden, dass sich die Macht der Sicherheitsbehörden in einem zentralen Apparat konzentriert und sich so demokratischer Kontrolle entzieht.

Etliche der jetzt schon gültigen rot-grünen Antiterror-Maßnahmen zeigen Merkmale eines autoritären Präventionsstaates, der einen Überwachungsstaat heraufbeschwört, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen verloren gehen. Die meisten der Befugniserweiterungen sind wenig geeignet zur Bekämpfung eines religiös aufgeladenen, selbstmörderischen Terrors; sie schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Freiheitsrechte umso mehr. An dieser Entwicklung konnte auch die vom grünen Koalitionspartner durchgesetzte Evaluation und Befristung bestimmter Antiterror-Gesetze nichts ändern - zumal das Bundesinnenministerium selbst evaluiert und in seinem Bericht vom Mai 2005 erwartungsgemäß resümiert: Die Sicherheitsbehörden nutzten die neuen Befugnisse "erfolgreich, zurückhaltend und verantwortungsvoll". Die Gesetze hätten sich bewährt und müssten in Kraft bleiben - ja, es müsse unbedingt noch nachgelegt und ein drittes Sicherheitspaket geschnürt werden. Bei Gericht würde man wohl von einem Gefälligkeitsgutachten sprechen.

"Der Erfolg des rot-grünen Projektes wird nicht zuletzt entscheidend davon abhängen, ob diese Gesellschaft und dieser Staat im Verlaufe der anstehenden Regierungsperiode ein Stück men­schlicher, demokratischer, sozialer und bürgerrechtsverträglicher geworden sein wird", hieß es in einem Memorandum in Sachen Menschen- und Bürgerrechte, das acht Bürgerrechtsorganisationen unter dem Titel Umdenken und Umsteuern in der Politik der "Inneren Sicherheit" - Zumutungen an eine rot-grüne Bundesregierung im Herbst 1998 an die Koalitionäre gerichtet hatten. Zwischenzeitlich haben wir zwar die eingetragene Lebenspartnerschaft, einen verbesserten Opferschutz, das reformierte Staatsbürgerschaftsrecht, ein Einwanderungs- und Informationsfreiheitsgesetz als Positivposten zu verzeichnen - doch als struktureller Negativposten stellt sich ein Sicherheitsstaat dar, der in dem Maße aufgerüstet worden ist, wie der Sozialstaat abgetakelt wurde.

Aus: 19.08.2005

Zum selben Thema:Bürgerrechtliche Negativbilanz, in: OSSIETZKY 17/2005, S. 625 ff.

Eine Langversion des Textes findet sich in: SCHWARZBUCH ROT-GRÜN von Joachim Bischoff/Wolfram Burkhardt/Uli Cremer/Axel Gerntke/Rolf Gössner/Joachim Rock/Johannes Steffen/ Franz Walter. VSA-Verlag. Hamburg 2005, S. 52 ff.

 

Bürgerrechte

Menschenrechtsliga rügt „Überwachungsstaat

Berlin.· Die rot-grüne Bundesregierung hat nach Ansicht der Internationalen Liga für Menschenrechte in den vergangenen sieben Regierungsjahren Bürgerrechte entscheidend abgebaut. So zeigten etliche Anti-Terror-Maßnahmen "Merkmale eines autoritären Präventionsstaates, der einen Überwachungsstaat heraufbeschwört", kritisiert der Präsident der Liga, Rolf Gössner, in einem Gastbeitrag für die in Berlin erscheinende Wochenzeitung Freitag (Ausgabe vom 19. August 2005). Die meisten der Kompetenzerweiterungen für die Sicherheitsbehörden seien "wenig geeignet zur Bekämpfung eines religiös aufgeladenen, selbstmörderischen Terrors". Sie hätten kaum Sicherheit geschaffen, gefährdeten aber die Freiheitsrechte umso mehr", betonte Gössner.

Der Jurist warnte vor einer weiteren "Militarisierung" der inneren Sicherheit, Zentralisierung der Sicherheitsbehörden und Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten. Selbst die rot-grünen "Aktivposten" hätten Haken, unterstrich Gössner. Das Staatsbürgerrecht sei "nur recht eingeschränkt reformiert worden", und das neue Zuwanderungsgesetz müsse eigentlich "Zuwanderungsbegrenzungsgesetz heißen, wie die Praxis" zeige, kritisierte der Jurist ins seinem Gastbeitrag.

epd                                                20. August 2004

 

                      

Menschenrechts-Liga unzufrieden mit Rot-Grün

BERLIN. Die rot-grüne Bundesregierung hat nach Ansicht der Internationalen Liga für Menschenrechte in den vergangenen sieben Regierungsjahren Bürgerrechte entscheidend abgebaut. So zeigten etliche Antiterror-Maßnahmen "Merkmale eines autoritären Präventionsstaates, der einen Überwachungsstaat heraufbeschwört", kritisiert der Präsident der Liga, Rolf Gössner, in einem Gastbeitrag für die Wochenzeitung Freitag. (epd)                                           20. August 2005

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Brauchen wir etwa „NS-Gedenkstätten“?

FAZ und taz, Süddeutsche, Tagesspiegel, Zeit und Freitag, Die Mahnung, Nordberliner, Abendblatt, Innen- und Kultusminister, Staatssekretäre, Professoren und Geschichtsexperten, namhafte Zeitungsschreiber und Medienmacher – das NS geht flott von der Lippe. Keinem bleiben die fatalen zwei Buchstaben im Halse stecken.

Im Ernst: Machen Sie sich mal die Mühe, das NS ordentlich auszusprechen. Dann dämmert wohl der Unsinn, der Anti-Sinn des unverzeihlich schlampigen Sprachgebrauchs. Ich will keine „nationalsozialistische Gedenkstätte“, keine „nationalsozialistische Gedenklandschaft“, „nationalsozialistische Gedenkpädagogik“, oder was der Kombinationen mehr sind. Welch ein Alptraum. Wir gedenken nicht des Nationalsozialismus, sondern seiner Opfer, seiner Widersacher, der Auf-

klärer, der Kämpfer und Mahner gegen die rechtsbrechende, menschenverachtende, barbarische Mord- und Kriegsmaschinerie des deutschen Faschismus. Das trifft auf alle Gedenkorte jeglicher Art zu. Es ist absurd, wenn ausgerechnet Innenminister Otto Schily (SPD) das Denkmal für die ermordeten Juden Europas im Fernsehen als NS-Gedenkstätte bezeichnet.

Erschreckend und deprimierend, in welchem Aus-


 maß Nazi- und Militärjargon die öffentliche Sprache und das Politgeschwätz durchtränkt haben mit dem Gift von Vokabeln in den Denkstrukturen - unmerklich, Viren gleich, mit maulfaulen Abkürzungen im Dreibuchstabenformat. Oder wissen Sie, was BKM bedeutet? Victor Klemperer hätte in den vergangenen 60 Jahren sein Notizbuch Lingua Tertii Imperii verdreifachen können.

Marianne Reiff-Hundt


 


BIOMETRISCHE OBSESSION

Zur übereilten Einführung des neuen ePasses

Von Rolf Gössner


Noch-Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hat kürzlich den „BigBrotherAward“ für sein „Lebenswerk“ verliehen bekommen – hauptsächlich für seine „Verdienste“ um den Ausbau des deutschen und europäischen Überwachungssystems auf Kosten der Bürger- und Freiheitsrechte sowie für seine hartnäckigen Bemühungen, den Datenschutz und die grundgesetzlich garantierte Informationelle Selbstbestimmung auszuhöhlen – vermeintlich im Interesse von Sicherheit und Terrorbekämpfung.

Zu den großen Obsessionen des Preisträgers, für die er ebenfalls „ausgezeichnet“ wurde, gehört die digitale Erfassung biometrischer Merkmale für Ausweispapiere. Seit Anfang November werden in der Bundesrepublik als erstem EU-Land solche Merkmale im Reisepass digital vermerkt. Auf einem kontaktlos per Funk auslesbaren RFID-Mikrochip wird neben den Personalien zunächst ein digitalisiertes Gesichtsbild gespeichert, ab März 2007 kommen zwei digitale Fingerabdrücke hinzu. Die Speicherung weiterer Merkmale, etwa Irisscan oder genetischer Fingerabdruck, ist möglich. Der nächste Schritt: die Einführung des biometrischen Personalausweises.

Unter souveräner Missachtung von Parlamenten und Datenschützern und ohne gesellschaftliche Debatte boxte Schily sein Lieblingsprojekt auf EU-Ebene durch – am Bundestag vorbei, ohne demokratische Legitimation. Statt das Parlament über die Folgen für Datenschutz und Bürgerrechte entscheiden zu lassen, forcierte er eine EU-Verordnung, die unmittelbare Rechtswirkung in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union hat. So brachte es Schily fertig, das Pass-Gesetz zu umgehen, das zur Festlegung der biometrischen Daten ein neues, vom Bundestag zu beschließendes Gesetz fordert.

Nicht allein die Jury des BigBrotherAward hält Schilys selbstherrlichen Akt für zutiefst undemokratisch. Als der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar (Grüne) die übereilte Einführung des „ePasses“ durch die europäische Hintertür kritisierte und ein umfassendes Sicherheitskonzept zum Schutz der Daten forderte, bezichtigte ihn Schily des Amtsmissbrauchs. Es liege nicht in Schaars Kompetenz, über Sinn und Zeitpunkt der Einführung biometrischer Merkmale zu befinden, wies ihn Schily via Rundfunk zurecht und empfahl ihm gebieterisch „mehr Zurückhaltung“.

Mit diesem selbstgerechten Angriff auf die Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten wollte Schily offenbar einen fachkundigen Kritiker in seinem eigenen Verantwortungsbereich zum Schweigen bringen. Doch es gehört zu den Pflichten eines Datenschutzbeauftragten, die betroffene Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen, dass bis heute keine transparente Risikoanalyse existiert, um Missbrauch und Systemanfälligkeiten der Digital-Biometrie in Ausweisen überhaupt einschätzen zu können. Nach einer Studie des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik ist die neue Technologie weder praxistauglich noch ausgereift. So ist die Gesichtserkennung stark fehlerbehaftet, allein schon, weil sich Gesichter im Laufe der Jahre erheblich verändern. Es steht zu befürchten, daß täglich Tausende Menschen an Flughäfen zurückgewiesen und in ihrer Reisefreiheit beschränkt werden, weil ihre Fotos oder Fingerabdrücke von der Software nicht akzeptiert werden oder einem Vergleich mit dem leibhaftigen Original nicht standhalten. Solche Personen kommen in Rechtfertigungszwang, schlimmstenfalls geraten sie in einen bösen Verdacht.

Elektronische Ausweise sind zudem missbrauchsanfällig: Die biometrischen Daten können an allen Kontrollstellen im In- und Ausland ausgelesen und in Datenbanken gespeichert werden – ohne dass die Betroffenen wissen, wer auf die sensiblen Daten Zugriff hat und wofür er sie anschließend verwendet. Selbst das kontaktlose und daher unbemerkte Auslesen der RFID-Chips per Funk ist nicht ganz auszuschließen. Nicht nur Grenzkontrollstellen, sondern auch unbefugte Dritte könnten Bewegungsprofile argloser Passinhaber anfertigen.

Zwar konnten die Grünen im Bundestag Schilys ursprünglichen Plan, alle biometrischen Daten in einer Zentraldatei zu speichern, bislang noch verhindern. Doch auch dezentrale Speicherungen bergen Risiken: Mit geringem Mehraufwand könnten biometrische Passdaten aus dezentralen Dateien automatisch mit Fahndungsdateien und Fingerabdrücken von Straftätern und Verdächtigen abgeglichen werden, aber auch mit Fingerabdrücken, die an Tatorten gefunden werden. Und die digitalisierten Gesichtsbilder könnten etwa mit Video-Aufnahmen aus dem öffentlichen Raum abgeglichen werden, um eine verdächtige oder gesuchte Person herauszufiltern. Ein weiterer Schritt zum Generalverdacht gegen alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes – oder gleich ganz Europas, denn auf EU-Ebene gibt es bereits Pläne für eine biometrische Zentraldatei.

Im Zusammenhang mit elektronischen Ausweispapieren wird eine milliardenteure Überwachungsinfrastruktur mit hohem Missbrauchspotential aufgebaut. Für die Bürger steigen die Kosten eines Reisepasses um mehr als das Doppelte: von 26 auf 59 Euro; wie hoch die Infrastrukturkosten liegen, wagen wir nicht zu schätzen. Doch der riesige Kostenaufwand steht in keinem vernünftigen Verhältnis zum angeblichen Sicherheitsgewinn. Denn auch der „ePass“ mit seinen biometrischen Merkmalen kann manipuliert werden.

Die bisherigen bundesdeutschen Ausweispapiere gelten übrigens als die fälschungssichersten der Welt. Gleichwohl verkaufte Otto Schily sein biometrisches Projekt als großen Fortschritt für die Sicherheit, gegen organisierte Kriminalität und internationalen Terrorismus. Mit dieser Behauptung nährte Schily allenfalls eine riskante Sicherheitsillusion, denn der „ePass“ führt keineswegs automatisch zu mehr Sicherheit. Weder die Selbstmord-Anschläge in New York noch diejenigen in Madrid und London hätten mit der neuen Technologie verhindert werden können. Schließlich gibt es kein biometrisches Merkmal, das signalisiert: „Dieser Pass gehört einem potentiellen Terroristen – bitte vor jedem Anschlagsversuch kontrollieren.“

Schily nötigte uns den „ePass“ nicht nur als vermeintliches Sicherheitsinstrument auf, sondern auch als Innovationsprojekt zur Sicherung nationaler Standortvorteile: Die rasche Einführung der biometrischen Verfahren vor allen anderen EU-Staaten liege im ureigenen deutschen Interesse. Damit „bringen wir den Beweis“, so Schily in einer Rede am 2. Juni 2005, „wie rasch sich deutsche Firmen auf die neue Sicherheitstechnik und auf den zukunftsorientierten Wachstumsmarkt der Biometrie eingestellt haben“. Deutschland nehme so in Sachen Sicherheit eine Führungsrolle in der EU ein. Letztlich handelt es sich hier um verdeckte Wirtschaftsförderung, etwa zugunsten der privatisierten Bundesdruckerei GmbH und der Chiphersteller Philips und Infineon – aber auch um vorauseilenden Gehorsam gegenüber den USA, die auf die europäischen Regierungen Druck ausgeübt hatten.

Die biometrisch-digitale Erfassung der gesamten Bevölkerung ist nicht nur ein unverhältnismäßiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung, sondern auch eine Misstrauenserklärung an die Bevölkerung, die sich behandeln lassen muss wie bislang nur Tatverdächtige oder Kriminelle im Zuge einer erkennungsdienstlichen Behandlung. Mit Schilys biometrischer Obsession werden Menschen im Namen vermeintlicher Sicherheit zu bloßen Objekten staatlicher Macht degradiert – ohne dass dies auch nur durch „Gefahrennähe“ des Einzelnen gerechtfertigt wäre. Schily kontert mit dem zynischen Argument, „die Würde des Fingers“ sei auch nicht größer als die des Gesichts. Im übrigen beruft er sich gern auf spanische Ausweise, die schon seit Jahrzehnten nicht digitalisierte Fingerabdrücke enthalten. Allerdings verschweigt er, dass es sich dabei um ein Relikt aus faschistischen Franco-Zeiten handelt. Und er verschweigt, dass damit weder Attentate der baskischen ETA noch die Anschläge von Madrid verhindert werden konnten.

Jetzt wird selbst den hartnäckigsten Sicherheitsfanatikern das Lachen vergehen, denn ein solches ist auf den neuen Digitalfotos verboten. Offene Münder oder blitzende Zähne könnten nämlich die Hightech-Lesegeräte irritieren. Lediglich ein leichtes Grinsen mit geschlossenen Lippen und bei ansonsten neutralem Gesichtsausdruck, total frontal und mit der Nase auf einer senkrechten Mittellinie wird noch statthaft sein. Beim elektronischen Gesichtsabgleich werden wohl Vollbärte, dicke Brillen, aufgespritzte Lippen oder operierte Nasen genauso zum Sicherheitsproblem wie das unvermeidliche Älterwerden, das Falten ins Gesicht zeichnet.

 


Hintergrund-Themen: International

GEORGE W. BUSH – AGENT DES WELTGEISTES

Von Kilian Stein

Die Juristin Sybille Tönnies verleiht im Leib- und Magenblatt des Großbürgertums der Außenpolitik der USA metaphysische Weihen. („The Powers That Be“, FAZ vom 24.2.05). In der gegenwärtig dominierenden imperialistischen Apologie wird die alte Unterscheidung zwischen Zivilisierten und Unzivilisierten (nach Cecil Rhodes „Die Bürde des weißen Mannes“) noch mit dem Vokabular von Menschenrechten, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit umschrieben. Auf solchen Schnickschnack verzichtet die Autorin. Für sie steht historisch nichts anderes an, als die Errichtung eines unter Führung der USA stehenden Weltstaates. Dieses große Ziel kennt keine völkerrechtlichen Begrenzungen und keine Rücksichten auf Menschen. Seit dem Naziideologen Carl Schmitt hat es in Deutschland keine solch offene Geringschätzung positiven Rechts mehr gegeben. Zunächst eine Zusammenfassung ihrer Argumentation in den Grundzügen.

   “The Powers That Be“, die wirkliche Macht, das ist für die Autorin mit Hegel als ihrem Kronzeugen der Weltgeist, letztlich Gott, eine ungeheure überindividuelle Kraft des Geistes, die sich langsam und zäh durch die Geschichte arbeitet. Die bürgerliche Gesellschaft ist der Endpunkt seines Wirkens. Der Exekutor des Weltgeistes sind die großen historischen Individuen, die vollstrecken, was „not und an der Zeit ist“. Deren Zwecke, deren Moral und selbst deren Einsichtsfähigkeit in den höheren Sinn ihres Tuns sind ohne tieferes Interesse gegenüber dem Umstand, dass sie „dem Weltgeist die Kastanien aus dem Feuer holen“ (alles Hegel). Die Autorin übersetzt das so in die heutige geschichtliche Situation: „Jetzt macht sich die amerikanische Politik den Dammbruch zunutze [gemeint die Auflösung des Völkerrechts, die durch den Jugoslawienkrieg eingeleitet worden sei, wie sie mit Genugtuung schreibt; d.V.] und schreitet – mit fragwürdigen Motiven, mit Hilfe von Informationen, die aus fragwürdigen Quellen stammen – ohne Rücksicht auf staatliche Grenzen fort. Anstatt nun zu erörtern, ob die Monopolisierung der Gewalt in der Welt ansteht, unterhält man sich über die Bosheit und Dumm-heit des amerikanischen Präsidenten und die Hinterhältigkeit seiner Mannschaft.“ Der Weltgeist strebt nämlich mit Bush als seinem, leider bewusstlosen, Agenten in einer letzten Etappe geschichtlicher Entwicklung einem Weltstaat zu. Vor uns liegt in der Logik von Tönnies eine Kette von Begebenheiten, die Trümmer auf Trümmer häufen – bis die Zentralisierung der Gewalt in den Händen der Vereinigten Staaten durchgesetzt ist. Für die Machtanbeterin ist diese Entwicklung „ein ehrwürdiger Akt der Vernunft“.

   Ganz in der politischen Hauptlinie der FAZ weist die Autorin dabei allzu kecke Ambitionen der ein wenig zurückhaltenderen europäischen Partner zurück. „Die Kristallisierung einer effektiven Weltexekutive kann nur um den Punkt herum erfolgen, an dem schon die meiste Gewalt konzentriert ist.“ Die Vereinten Nationen vollends sind ein lästiges Hindernis, „wenn man die Unterwerfung aller Partikularmächte unter diejenige Gewalt, die die stärksten militärischen Mittel hat, als allgemeine Tendenz anerkennt“.

   Und wie sollen sich die betroffenen Völker gegenüber dieser Gewalt verhalten? Die Antwort der Autorin ist klar. Sie rät zur „Kapitulation, die Deutschland 1945 vorgenommen hat und die dem Rest der Welt zu empfehlen wäre“. Oder ethisch formuliert: „Pazifismus heißt ... Unterwerfungsbereitschaft.“ Unter Berufung auf eine berühmte Rede des Indianerhäuptlings Sitting Bull nennt Tönnies den betroffenen Völkern die Alternative zur Unterwerfung: ein Schicksal wie das der nordamerikanischen Indianer. Freilich weiß sie nur zu gut, dass das Kapitulationsangebot ausgeschlagen wird. Aber die Schuld an künftigen Kriegen ist gewissermaßen auf Vorrat den Opfern zugewiesen, die ihrer Pflicht zur kampflosen Übergabe nicht nachgekommen sind.

   Den Schlussstein ihrer Argumentation bilden drei Gründe für die Notwendigkeit einer US-amerikanisch dominierten Weltexekutive als dem „Vernünftigen“. Die Bedrohung der Ökologie des Globus (!). Die Atombombe, „die die militärische Entmachtung der Welt gebietet“. Schließlich, hierin offen anti-neoliberal, die wirtschaftliche Entwicklung. „In dieser nicht mehr durch eine innere Solidarität zusammengehaltenen [gemeint sozialökonomischen; d.V.] Struktur ist die zentrale, auf das Welt-Allgemeinwohl gerichtete staatliche Regelung unentbehrlich.“

   Was für die Autorin die Realisierung von Kants ewigem Frieden sein würde, stellt sich nach menschenrechtlichen Maßstäben als ein Alptraum dar. Die barbarischen Mittel denunzieren das Ziel als eine globale Hölle. Dieser Weltstaat ist aber nicht nur nicht erstrebenswert, er ist wohl auch nicht durchsetzbar. Er dürfte an der Gegengewalt aus der Dritten Welt scheitern, die, wie wir wissen, leider auch perfide sein kann und dem Gegner politisch in die Hände spielend. Dazu, so ist zu hoffen, an Gegenwehr aus dem Inneren der kapitalistischen Staaten selbst, eingeschlossen dem verschwindend kleinen Beitrag, den die Liga dazu beisteuern kann.

   Tönnies´ Einkleidung gegenwärtiger Politik in die Vollstreckung weltgeistiger Vorgaben ist Hirnweberei. Dennoch ist es keine durchge­knallte Geschichtsphilosophin, die da in der FAZ ihre Vorstellungen in aller Breite darlegen kann. Die sonst übliche ideologische Schminke über imperialistischer Politik – Verbreitung von Freiheit, Demokratie etc. – mag angesichts einer Katastrophe wie im Irak für viele unter den ökonomisch und politisch Mächtigen nicht mehr recht taugen. Es bedarf wohl einer schärferen ideologischen Mixtur, um die territoriale und rechtliche Entgrenzung militärischer Macht zu rechtfertigen, zum Beispiel, dass Deutschland am Hindukusch „verteidigt“ wird und dass das Einsatzgebiet der Bundeswehr die ganze Welt ist.

 


ITALIENS FLÜCHTLINGSLAGER
- EINE EUROPÄISCHE SCHANDE

Von Marco Benzi


Adam gehört zu einer Gruppe von Migranten aus dem Niger, die letzte Nacht nicht weit von der sizilianischen Küste von einem Fischerboot herausgefischt worden ist. Er ist seit einigen Monaten auf der Flucht, ist auf einem LKW über die Wüste von Tenerè gefahren und musste jeden Polizisten, der ihn kontrollierte, bezahlen. Bezahlen – und dies recht viel – musste er auch für einen Platz auf einem Boot, das ihn über das Mittelmeer nach Italien bringen sollte. Das Boot ist wenige Kilometer vor Sizilien gesunken. Viele Freunde von Adam haben es nicht geschafft, sind im Meer ertrunken oder in der Wüste verdurstet.

Diese gefährliche Reise wiederholt sich für Tausende von Migranten und Flüchtlingen, die im „Paradies Europa“ eine Hoffnung für ihr Leben sehen, immer in dem Bewusstsein, dass nur ganz wenige es schaffen.

Für die meisten, die es nach Italien schaffen, öffnen sich die Türen eines der Flüchtlingsauffanglager (CPT - Centri di Permanenza Temporanea), die die ehemalige linke Regierung 1998 eingerichtet hatte. Das CPT ist der Versuch, eine dramatischen Situation zu regulieren. Tausende von Migranten, die jedes Jahr an der italienischen Küste ankommen, werden hier untergebracht und identifiziert. Die entsprechenden Gesetze wurden im Jahr 2002 durch das von Berlusconis Regierung verfasste Immigrationsgesetz verschärft (Legge 189-02, s.g. Bossi-Fini).

Keiner der Flüchtlinge darf sich mehr als 60 Tage in diesen Lagern aufhalten. Während dieser Zeit ist es an sich die Pflicht der Behörden, für die notwendige Betreuung der Migranten und Flüchtlinge zu sorgen. Die Betreuung soll gerecht, würdig und neutral sein. Von den Behörden verlangt das Gesetz die Kenntnis der Flüchtlingsrechte (beschränkte Dauer der Inhaftierung, Betreuung durch einen Rechtsanwalt, Unterstützung durch einen Dolmetscher, psychologische Betreuung). Die Flüchtlinge haben das Recht, Asylanträge zu stellen. Es gibt “Sonderkategorien”, die das Recht auf eine privilegierte Behandlung haben: Flüchtlinge, denen  politische oder religiöse Verfolgung drohen, schwangere Frauen und Kinder, die nicht abgeschoben werden dürfen.. Die CPT sind offen zugängliche Gebäude und dürfen von UNO-Ver­tretern, italienischen Parlamentariern, NGO-Mitgliedern, Rechtsanwälten und Journalisten auf­gesucht werden. Trotz dieser Regelungen schaffen es aber nur wenige der Betroffenen, einen Asylantrag zu stellen.

Im Sommer 2005 haben zwölf italienische Parlamentarier das Lager in Lampedusa besucht. Lampedusa ist eine kleine Insel südlich von Sizilien, wo im Sommer täglich Hunderte von Menschen ankommen. Das Lager hat eine Kapazität von nur 186 Plätzen - die Medien und die NGOs kritisieren oft ihre Überbelegung. Die Delegation hat damals aber gerade mal elf Migranten in dem Lager vorgefunden.

Die Überfüllung ist nur eine von vielen Gründen, die zu Protesten und Kritik verschiedener Regierungen und internationaler Organisationen geführt haben. Am 15. März 2005 haben die Vereinten Nationen Italien und seine Immigrationspolitik in einem Bericht kritisiert, der der UN-Menschenrechtskommission präsentiert wurde. Ärzte ohne Grenzen und Amnesty International haben wichtige Untersuchungen veröffentlicht, in denen die Funktionstüchtigkeit und strukturellen Mängel deutlich herausgestellt werden. In ihnen wird über mangelnde rechtliche Aufklärung der Flüchtlinge, physische Misshandlungen durch Polizisten und Überwachungspersonal, Missbrauch bei der Verabreichung von Psychopharmaka, schlechte hygienische Verhältnisse, fehlende Kommunikationsmöglichkeiten mit der Außenwelt, fehlender Zugang zu Rechtsanwälten, keine Möglichkeit zur rechtlichen Gegenwehr für diejenigen, die trotz Asylantrag abgeschoben werden sollen. Daraus resultieren Abschiebungen in Länder, in denen Verfolgung und Folter drohen.

Im Juli 2004 übte die UN-Flüchtlingskommission im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsdrama auf der Cap Anamur heftige Kritik. Die italienische Regierung hatte die gesamte Crew unter der Beschuldigung verhaftet, 37 Menschen illegal auf italienisches Gebiet gebracht zu haben. Diese, die sich als Flüchtlinge aus Darfur erklärten, wurden aus der offenen See gerettet. In Italien angekommen, stellten sie sofort Asylantrag: Aber das Innenministerium billigte ihnen den Flüchtlingsstatus nicht zu, weil sie die dramatische Situation in Darfur zum Vorwand genommen hätten, um Asyl zu erhalten; sie wurden nach Ghana abgeschoben. Nach vollzogener Abschiebung haben italienische Gerichte ihre Asylanträge jedoch angenommen. Diese Geschichte demonstriert die mangelhafte Urteilsfähigkeit italienischer Behörden – es zeigt sich hierin die fatale Tendenz, quasi sämtliche Antragsteller als Illegale einzustufen, die die Asylgesetze missbrauchen, oder sogar als vermutliche Terroristen. Die neuen Anti-Terror-Gesetze verstärken diese Tendenz noch. 90 Prozent der Asylanträge werden abgelehnt, oft aufgrund zu schneller und oberflächlicher Untersuchungen.

Zwei wichtige Untersuchungen über die Flüchtlingslager wurden von der italienischen Presse veröffentlicht: Im April 2004 sendete das öffentlich-rechtliche Fernsehen RAI 3 einen Report über die Konditionen in den Lagern, in denen Menschen sediert wurden und in denen es häufig zu Selbstmordversuchen kommt. Am 28. Dezember 1999 starben in Trapani sechs Menschen aufgrund eines Brandes, der von einigen Flüchtlingen entfacht worden war, um zu flüchten. Das Gebäude verfügte noch nicht einmal über minimale Sicherheitsstandards.

In Lecce sind verschiedene Behörden-Bedien­stete, u.a. der Direktor des Flüchtlingscamps vor Gericht gestellt worden - wegen schwerer Körperverletzungen, Gewalt und Verprügeln von Immigranten, die am 22. November 2003 einen Fluchtversuch aus dem Camp unternommen hatten. Menschen, die Batterien oder Rasierklingen schluckten oder die sich verletzten, als sie, wie es offiziell heißt, „zufällig hingefallen“ waren, müssen stationär behandelt werden. In italienischen Lagern fällt man sehr oft zufällig.

Ein außergewöhnlicher Bericht erschien im Oktober 2005 in einer bekannten italienischen Wochenzeitung. Ein Journalist gab sich als Flüchtling aus und wurde in das Lager auf der Insel Lampedusa gebracht, wo Menschen „animalische Lebenskonditionen“ erleben, wo Flüchtlinge auf schmutzigen Fluren schlafen müssen, von Carabinieri und Polizei verprügelt und erniedrigt, dazu gezwungen werden, zwischen ihren Exkrementen zu schlafen. Der Journalist sprang ins Meer, wurde gerettet, ins Krankenhaus gebracht und danach von den Carabinieri ins Lager zurückgeführt. Nach acht Tagen wurde er freigelassen, mit einem Abschiebungsdokument in der Hand, das ihn verpflichtete, innerhalb von fünf Tagen Italien zu verlassen.

Es gibt einen Bericht über ungeheuerliche Vorfälle: Menschen müssen nackt durch ein Spalier von Polizisten laufen und werden von diesen geschlagen; Muslime werden gezwungen, Pornos anzugucken; Sanitäranlagen spucken nur Salzwasser aus, Toiletten spülen nicht; Leute müssen sich mit bloßen Händen säubern, weil es kein Toilettenpapier gibt.

Es gibt rassistisches und faschistisches Personal, das für solche psychischen Erniedrigungen und physischen Gewaltakte verantwortlich ist; hier kommt ein alter italienischer Autoritarismus zum Tragen, der von einer nachsichtigen Europäischen Union offenbar geduldet wird.

 



I r a n :

Nach Amtsantritt des neuen Staatspräsidenten
gehen Menschenrechtsverletzungen unvermindert weiter

Liga nennt Fälle systematischer Menschenrechtsverletzungen im Iran
und fordert unverzügliche Konsequenzen von Seiten der Bundesregierung und der EU


Die Islamische Republik Iran missachtet und verletzt die Menschenrechte nach wie vor systematisch. Der neue iranische Staatspräsident, Mahmoud Ahmadinejad, gilt als Vertreter des iranischen Staatsterrorismus, wie er sich seit Gründung dieses Regimes etabliert und entwickelt hat. Der religiöse Hardliner soll persönlich für Menschenrechtsverletzungen und mehrere Hinrichtungen verantwortlich sein. Und er soll im Jahr 1989 auch in die Ermordung von drei iranisch-kurdischen Oppositionellen in Wien verwickelt gewesen sein.

Besonders in der "Kurdenfrage" des Iran ist in letzter Zeit eine Eskalation zu verzeichnen. Im Iran leben über sechs Millionen Kurden. Seit Monaten gehen viele von ihnen auf die Straße, um ihrer Forderung nach demokratischen Rechten und Freiheiten Ausdruck zu verleihen. Die kurdische Bevölkerung ist in besonderem Maße der staatlichen Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt, von Folterungen und politischen Morden betroffen. Unter dem neuen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad droht sich die Situation, die in der Bundesrepublik kaum zur Kenntnis genommen wird, noch zu verschärfen. Außer Kurden sind insbesondere Regimekritiker, Menschenrechtsaktivisten, Rechtsanwälte, Jour­nalisten, Frauenrechtlerinnen, Frauen und Homosexuelle der Repression des iranischen Regimes ausgeliefert, wie die Fälle aus letzter Zeit eindrucksvoll bestätigen (s. Fallschilderungen im Anhang).

Die „Internationale Liga für Menschenrechte“ hat sich zum Iran des Öfteren zu Wort gemeldet und die dortige Menschenrechtssituation nachdrücklich verurteilt; das gilt auch für die aktuellen Menschenrechtsverletzungen. Die Liga verurteilt aber auch die bundesdeutsche Praxis, Asylberechtigungen von hier lebenden Iranern vermehrt zu widerrufen und sie einer drohenden Abschiebung in den Iran auszusetzen (vgl. Liga-Pressemitteilung vom 28.01. 2005: „Liga hält Welle von Widerrufsverfahren gegen Asylberechtigte für einen Skandal“). Die Liga hält diese Praxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge weiterhin für einen Skandal, denn der Widerruf von Asylberechtigungen verstößt in vielen dieser Fälle gegen völkerrechtliche Standards und gefährdet die betroffenen Flüchtlinge. Der Entzug des Asylstatus’ beschädigt die soziale Existenz der Betroffenen und schwächt ihren Schutz vor Auslieferung an Verfolgerstaaten, wo sie der Gefahr von Folter, Misshandlung und Mord ausgesetzt wären.

Dass iranische Flüchtlinge - trotz der katastrophalen Menschenrechtssituation und enormer Gefährdung - tatsächlich in den Iran abgeschoben werden können, zeigte der Fall der nicht asylberechtigten Zahra Kameli, deren Abschiebung Anfang dieses Jahres erst in allerletzter Minute verhindert werden konnte – dank des öffentlichen Protests und der Zivilcourage eines Flugkapitäns, der sich weigerte, die gesundheitlich angeschlagene Zahra Kameli gegen ihren Willen nach Teheran auszufliegen. Kameli wäre als „Ehebrecherin“ und zum Christentum konvertierte ehemalige Muslima im Iran akut mit Folter, Steinigung und Tod bedroht gewesen.

Die „Internationale Liga für Menschenrechte“ fordert die zuständigen Bundes- und Länderbehörden eindringlich auf, gefährdete Menschen nicht in den Iran abzuschieben – aber auch nicht in andere Länder, in denen die Menschenrechtslage prekär ist. Die Liga bedauert in diesem Zusammenhang, dass die Europäische Union während der diesjährigen Tagung der UN-Menschen­rechtskommission keine Resolution zu den staatlich angeordneten, systematischen und massiven Menschenrechtsverletzungen im Iran eingebracht hat. Die Liga hält es für einen internationalen Skandal, dass die Universalität der Menschenrechte offenbar unter die Räder des internationalen Antiterrorkampfes geraten ist und den (bislang eher erfolglosen) Verhandlungen der EU über das Nuklearprogramm des Iran zum Opfer zu fallen droht. Strategische Militär- und Wirtschaftsinteressen der europäischen und deutschen Außen­politik dürfen nach Auffassung der Liga den notwendigen Menschenrechtsdialog nicht weiter verdrängen.

Die „Internationale Liga für Menschenrechte“ sieht in Sachen Iran gerade nach dem Amtsantritt des neuen Staatspräsidenten akuten Handlungsbedarf für Bundesregierung und Europäische Union. Sie müssen verstärkt ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung nachkommen, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um Teheran zu veranlassen, die systematischen Menschenrechtsverletzungen abzustellen und unabhängige internatio­nale Untersuchungsdelegationen ins Land zu lassen.       (24.08.2005)

Dr. Rolf Gössner                                   Mila Mossafer
Liga-Präsident                           Liga-Vorstandsmitglied

 

***

Die Liga möchte im Folgenden auf einige wenige aktuelle Fälle hinweisen:

Repression gegen Kurden

Mitte Juli wurde in der Stadt Mahabad der politische Aktivist Kamal Asfarum ermordet. Er hatte sich aktiv für die Rechte der Kurden im Iran eingesetzt. Die Regierung in Teheran hingegen bezeichnet den Getöteten, der im Iran auch unter dem Namen Shwane Seyed-Ghaderi bekannt ist, als Unruhestifter und rückt ihn in die Nähe eines Kriminellen. Seine offensichtliche Ermordung durch Sicherheitsagenten des Regimes in Teheran (so die Deutsche Welle, 21.08.05) hat einen wütenden Aufstand in der iranischen Provinz Kurdistan provoziert.

Aus Protest gegen das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte befinden sich ganze kurdische Städte im Streik und ihre Bevölkerung leistet zivilen Widerstand gegen tägliche Attacken von Seiten der iranischen Sicherheitskräfte. Während der Protestaktionen sind Dutzende von Menschen getötet, Hunderte verletzt und verhaftet worden.

Am 2. August 2005 wurden die „Ashti-Zeitung“ und die Wochenzeitung „Asu“ in iranisch Kurdistan verboten. Die Frauen- und Menschenrechtsaktivistin Dr. Roya Toloui wurde in ihrer Heimatstadt Sanandaj mit der Begründung verhaftet, sie habe "Friedenstörung" und "Handlungen gegen die nationale Sicherheit" begangen. Sie beklagt eine anhaltende Diskriminierung der Kurden, obwohl diese sich durchaus als iranische Staatsbürger verstünden.

Auch in einem UN-Bericht ist dem Teheraner Regime unlängst Diskriminierung der von kurdischen und anderen ethnischen Minderheiten besiedelten Gebiete vorgeworfen worden: In den Kurden-Regionen sei die Wasser- und Stromversorgung besonders schlecht, hieß es in dem UN-Bericht, und auch der Aufbau der Infrastruktur dort sei völlig unzureichend.

Die Liga fordert eine unabhängige Aufklärung sämtlicher Todesfälle und die Bestrafung der Täter. Die Liga fordert darüber hinaus eine unverzügliche Freilassung von Dr. Roya Toloui, eine Wiederzulassung der verbotenen Zeitungen und die Beendigung der Diskriminierung der kurdischen Bevölkerung.

Repression gegen Journalisten

Akbar Ganji ist einer der bekanntesten Journalisten im Iran und einer der schärfsten Kritiker des herrschenden islamischen Regime. Er sitzt im Gefängnis und schwebt in Lebensgefahr. Er war wegen seiner unmenschlichen Behandlung in Haft mehr als 60 Tage lang in den Hungerstreik getreten. Er musste wegen akuter Lebensgefahr ins Krankenhaus eingeliefert werden, wo ihn seine Familie und Anwälte nicht besuchen durften. Laut BBC hat Akbar Ganji inzwischen seinen Hungerstreik beendet. Gesundheitlich befindet er sich in einer kritischen Lage, auch wenn sich sein Zustand stabilisiert. Weiterhin ist er einem enormen politischen Druck seitens der Revolutionsführer und Justizbeamten ausgesetzt.

Die Liga fordert, Akbar Ganji bedingungslos freizulassen, weil er lediglich von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht hat.

... gegen Rechtsanwälte

Rechtsanwalt Abdolfattah Soltani, Mitbegründer des Forums für Menschenrechtsanwälte (zu denen auch die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi zählt) wurde am 30. Juli 2005 auf Befehl des Teheraner Generalstaatsanwalts Said Mortazavi verhaftet. Dieser Staatsanwalt ist verantwortlich für den Tod der iranisch-kanadi­schen Foto-Journalistin Zahra Kazemi, die während ihrer Gefangenschaft im Juni 2003 gestorben ist. Der inhaftierte Soltani gehört zu jenen Anwälten, die sich um die Aufklärung dieses Todesfalls kümmern. Seine Verhaftung, die sich einige Tage vor Beendigung des Gerichtsverfahrens in diesem Fall ereignete, soll offenbar all jene Anwälte einschüchtern, die die Todesumstände Kazemis aufzudecken versuchen. Soltani ist an einen unbekannten Ort verbracht worden. Die Iranische Justiz behauptet, dass Soltani aus ganz anderen Gründen verhaftet worden sei. Er wird beschuldigt, „vertrauliche Informationen über Nuklear-Spione innerhalb und außerhalb des Landes zu verbreiten“.

Der iranische Rechtsanwalt Nasser Zarafshan hatte nach den Serienmorden an Politikern und Schriftstellern im Jahr 1998 seine ganze Kraft dafür eingesetzt, die Drahtzieher für diese Morde dingfest zu machen. Er war Rechtsbeistand einiger Familien der Opfer dieser Morde. Er hatte sich kritisch zu diesem Fall und zu den Ermittlungen geäußert. Deshalb ist er verhaftet und nach einem unfairen, nichtöffentlichen Prozess von einem Militärgericht zu fünf Jahren Gefängnis und 50 Peitschenhieben verurteilt worden. Seit August 2002 ist er im berüchtigten Teheraner Ewin-Gefängnis inhaftiert. Im Juni 2005 trat er in einen unbefristeten Hungerstreik. Nachdem er wegen akuten Nierenversagens notoperiert werden musste, ist er unmittelbar nach dieser Operation wieder in das Gefängnis verlegt worden.

Die Liga fordert, die genannten Anwälte bedingungslos freizulassen, weil sie lediglich ihren Berufspflichten nachgekommen sind und von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht haben.

Hinrichtung von Jugendlichen, Frauen
und Homosexuellen

Am 20 Juli 2005 sind in der ostiranischen Stadt Meshed die beiden Jugendlichen Mahmoud Asgari und Ayaz Marhoni im Alter von 16 und 18 Jahren wegen homosexueller Handlungen nach 228 Peitschenhieben öffentlich durch den Galgen hingerichtet worden. Diese barbarischen Akte haben erneut gezeigt, dass das iranische Regime weiterhin gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und den Internationalen Pakt über Kinderrechte, zu dessen Vertragsstaaten der Iran gehört, verstößt. Auch hält sich das iranische Regime nicht an die EU-Vereinbarungen von 2004, in der es versprach, Hinrichtungen von Jugendlichen zu verbieten. Einen Tag nach den Hinrichtungen äußerten verschiedene Abgeordnete des iranischen islamischen Parlaments aus Mashad ihre Verärgerung – nicht etwa über diese staatlich verübten Morde, sondern über die kritische Berichterstattung der ausländischen Medien.

Zwei Homosexuelle, Farbod Mostear und Ahmad Chooka, beide 27 Jahre alt, sind von einem Gericht in der iranischen Stadt Arak zum Tode verurteilt worden. Die Todesurteil sind vom obersten iranischen Gerichtshof bestätigt worden. Die beiden können sich keinen Rechtsbeistand leisten. Sie sollen am 27. August 2005 öffentlich gehängt werden.

Eine Frau namens Fatemeh (es ist nur der Vorname bekannt) ist von einem Teheraner Gericht zur Steinigung verurteilt worden. Die iranische Zeitung „Iran“ hat das Urteil am 16. Mai 2005 bekannt gegeben.

Die Liga fordert, alle anstehenden bzw. beschlossenen Hinrichtungen/Steinigungen sofort zu stoppen, ebenso andere barbarische Strafen und Folterungen. Sie fordert die Freilassung politischer Gefangener und ordentliche Gerichtsverfahren gegen die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Personen.

 

Menschenrechte

Liga für Menschenrechte fordert mehr Druck auf Teheran

Berlin (epd). Die Internationale Liga für Menscherechte hat die Bundesregierung und die Europäische Union aufgefordert, gegen die Menschenrechtsverletzungen in Iran vorzugehen. In den Gesprächen um das Atomprogramm Irans müssten auch die zahlreichen Fälle von systematischen Menschenrechtsverletzungen zur Sprache gebracht werden, erklärte der Präsident der Liga, Rolf Gössner, am Mittwoch in Berlin.

Nach dem Amtsantritt des neuen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad gehe die Unterdrückung weiter. Vor allem Kurden, Journalisten, Rechtsanwälte, Frauen, Homosexuelle und Jugendliche seien in Iran Übergriffen ausgesetzt. Deutsche und europäische Militär- und Wirtschaftsinteressen dürften den notwendigen Menschenrechtsdialog mit Teheran nicht verdrängen, mahnte Gössner. Die Menschenrechte dürften nicht unter die Räder des Anti-Terror-Kampfes geraten. Berlin und Brüssel müssten Teheran drängen, internationale Untersuchungsdelegationen ins Land zu lassen. (Donnerstag, 25.08.2005)

 

Menschenrechtslage und Atompolitik im Iran

Zu den Präsidentschaftswahlen in der Islamischen Republik Iran
und über den neu gewählten Staatspräsidenten, Mahmud Ahmadinejad

Von Mila Mossafer

 


In einem Land, in dem den Bürgern die primären bürgerlichen Rechte und politischen Freiheiten entzogen werden und eine religiöse Diktatur herrscht, ist es irreführend, überhaupt von Wahlen zu reden. Die Wahlen im islamischen iranischen System sind betrügerisch, von Befehlen abhängig und werden daher von einem großen Teil der Bevölkerung boykottiert. In einigen Städten war die Zahl der angeblich abgegebenen Stimmen viel höher als die Zahl der Stimmberechtigten. Von mehr als 1014 Bewerbern für die Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen sind lediglich sechs Kandidaten zugelassen worden, die alle aus dem islamischen Lager kommen und zu den hochrangigen Staatsmännern gehören. Zu den abgelehnten Bewerbern gehören 93 Frauen. Sie wurden allein aufgrund ihres Geschlechtes ausgeschlossen. Seit der Gründung der Islamischen Republik Iran wurden unter Verweis auf die islamische Verfassung noch nie Frauen zu den Präsidentschaftswahlen zugelassen. Zu den Kandidaten gehören u. a. „Persönlichkeiten“, die seit Gründung dieses Regimes für Tausende von Hinrichtungen, brutale Menschenrechtsverletzungen und Staatsterrorismus verantwortlich sind.

Zwei Kandidaten aus dem Lager der Konservativen, Larijani und Qalibaf, stießen aufgrund ihrer Vergangenheit bei Militär und Geheimdienst auf die Ablehnung der Mehrheit der Bevölkerung. Ein weiterer Kandidat aus dem Lager des Ex-Staatspräsidenten ist auf Grund der  Erfahrungen mit der achtjährigen „Reformregierung“ von Chatami von der Bevölkerung abgelehnt worden. Der ehemalige Minister Moin, Vertreter des Flügels der religiösen „Reformer“, konnte außer der Wiederauflage des gescheiterten Programms von Chatami keine neuen Ideen vorweisen. Rafsandjani trat in der Wahl deutlich als Vertreter der Kapitalinhaber auf und hatte die Unterstützung des internationalen Kapitals hinter sich. Seine Wirtschaftspolitik war die Fortsetzung derselben Politik, die er selbst in der Zeit seiner Präsidentschaft begonnen hatte und die von seinem Nachfolger, Chatami, fortgesetzt wurde – nämlich Privatisierungen und Förderung der ausländischen Investoren. Unter den sechs Kandidaten, die zur Wahl zugelassen waren, konnte der bekannteste, Rafsandjani, keine Mehrheit erzielen, da er für die Mehrheit der Iraner als Symbol für institutionalisierte Korruption, Despotie, Inhaftierung von Oppositionellen und politische Morde gilt. Rafsandjani wurde im Mykonos-Prozess als Mitglied eines Sonderkomitees verantwortlich gemacht, das die Liquidierung von Oppositionellen in Auftrag gab. Ermordet wurden Dr. Sharafkandi, Generalsekretär der Demokratischen Partei Kurdistan-Iran, und zwei hochrangige Funktionäre dieser Partei und ihre Begleiter. Trotzdem genoss er internationale Unterstützung.

Mahmoud Ahmadinejad (Teheraner Ex-Bürgermei­ster), der schließlich zum neuen Präsidenten gewählt wurde, benutzte die institutionalisierte Korruption, die weit verbreitete Armut und Arbeitslosigkeit und die maßlosen Einkommensunterschiede als Propagandamittel für seine Wahlkampagne. Er erhielt von 47 Millionen Wahlberechtigten im Iran 17 Millionen Stimmen. Ein wichtiger Punkt bei der Wahl war der totale Wahlboykott von Seiten der StudentInnen. Auch die Frauen, die vorher Chatami unterstützt hatten, haben sich bei dieser Wahl zurückgehalten. Nach Angaben aus Regime-Kreisen selbst haben in Teheran 1,5 Millionen von 8,5 Millionen Stimmberechtigten ihre Stimme für Ahmadinejad abgegeben.

Die außenpolitische Zielsetzung der neuen Regierung "der reinen islamischen Kultur" - die den Frieden in Nahen bzw. im mittleren Osten gefährden kann - zeigte sich bereits an den ersten Gästen, die Ahmadinejad als neuer Staatspräsident empfing: Als erster Gast kam der Präsident Syriens und als zweiter der Führer der libanesischen Hisbollah, Scheich Hassan Nasrallah.

Wer ist Ahmadinejad?

Ahmadinejad gilt als ein Verfechter des Gottesstaates, der die Macht der Geistlichen festigen will. Die Einhaltung der Menschenrechte ist von ihm nicht zu erwarten. Er hat die soziale Unzufriedenheit der Bevölkerung für seine Wahlpropaganda ausgenutzt und das Wahlversprechung gemacht, die Korruption im Iran zu beenden. Er kommt aber selber aus den Reihen der Revolutionswächter, die die organisierte Korruptionen reproduzieren. Von den 21 Kabinettsmitgliedern, die er bestellte, sind 13 ehemalige Kommandanten der Revolutionswächter. Diese verfügen über ein Ministerium mit eigenem Budget, in das nicht einmal das Parlament Einblick hat und das ein entscheidender Machtfaktor ist. Es gibt Grenzübergänge, die nur sie kontrollieren dürfen. Dieses Ministerium ist auch aufs engste verbunden mit den religiösen Stiftungen, den Herren der iranischen Wirtschaft. Sie haben dadurch auch privilegierten Zugang zum iranischen Ölgeschäft. Die mit dem religiösen Führer oder anderen führenden Regierungsvertretern verbundenen machtvollen religiösen Stiftungen kontrollieren mehr als 60 Prozent der Wirtschaft.

Ahmadinejad werden auch kriminelle Taten vorgeworfen. Er soll als Scharfrichter im berüchtigten Evin-Gefängnis fungiert haben, als dort in den 80er Jahren Tausende Oppositionelle hingerichtet wurden. Er soll auch einer der Geiselnehmer gewesen sein, die am 4. November 1979 in die US-Botschaft in Teheran eingedrungen waren und dort alle Diplomaten, Geheimdienstler und Angestellten für 444 Tage als Geisel nahmen.

Ahmadinejad soll 1989 an den Kurdenmorden in Wien beteiligt gewesen sein. Nach Angaben von Peter Pilz, dem Sicherheitssprecher der Grünen in Österreich, müsste es strenggenommen gegen den neu gewählten iranischen Staatspräsidenten sofort einen Haftbefehl geben. "Der Mann steht dringend unter Verdacht, 1989 in die Ermordung des kurdischen Oppositionspolitikers Abdul Rahman Ghassemlou in Wien verwickelt gewesen zu sein“, sagt Pilz. Auch die tschechische Tageszeitung Pravo veröffentlichte diesen Vorwurf. Das Blatt berief sich auf Hossein Yazdan Panah, einen Vertreter der iranischen kurdischen Opposition, der im Irak im Exil lebt. Ahmadinejad reiste demnach wenige Tage vor dem Attentat nach Wien und übergab dem Mordkommando Waffen aus der iranischen Botschaft. Ghassemlou, der Generalsekretär der demokratischen Partei Kurdistan-Iran, wurde zusammen mit zwei weiteren Mitgliedern der Partei erschossen. Die mutmaßlichen Mörder tauchten in der iranischen Botschaft unter und konnten offenbar nach Druck Teherans auf die Regierung von Franz Vranitzky unbehelligt aus Österreich ausreisen. Dem österreichischen Innenministerium wurden die Unterlagen vorgelegt, die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen übernommen, die, so heißt es, auf Druck des Irans zurückgenommen wurden.

Iranische Atompolitik

Das abenteuerliche Streben des iranischen Regimes nach Herstellung atomarer Waffen passiert unter dem Deckmantel der Produktion von Atomenergie. Es ist offensichtlich, dass Iran über eines der größten Öl- und Gasvorkommen verfügt. Insofern ist die Rechtfertigung des Iran, er wolle nur friedlich Atomenergie produzieren, ein unglaub­haftes Argument. Iran kann aufgrund seiner geographischen Lage auch Alternativen wie Sonnenenergie nutzen. Die Atomenergie ist eine gefährliche und kostenaufwendige Energieform nicht nur für Iran. Das Beharren der Machthaber zeigt, dass es ihnen darum geht, den Uranbrennstoff selbst zu produzieren. Es geht darum, die Bedrohung von innen und außen für das System frühzeitig und mit allen Mitteln abzuwenden.

Die Atompolitik des Irans liefert den USA den notwendigen Vorwand, in der Region militärisch noch stärker präsent zu sein. Diese Politik des Iran führt auch dazu, dass sich EU und der USA in ihrer Iranpolitik annähern werden, was für die iranische Bevölkerung schlimme Konsequenzen haben kann. Sollte der Fall vor den UN-Sicherheitsrat kommen, wird die iranische Bevölkerung womöglich viel zu leiden haben. Die 12 Jahre langen Sanktionen gegen die Bevölkerung im Irak sind ein Beispiel dafür. Die einzige Kraft, die Iran von dieser aben­teuerlichen Politik abbringen kann, ist eine starke soziale Bewegung der iranischen Bevölkerung. Die Antwort der IranerInnen und der Weltgemein­schaft soll heute heißen: Abrüstung der Atomwaf­fen in der Region und weltweit. Es ist nicht akzep­tabel, dass Pakistan, Indien, Israel und andere Länder über atomare Waffen verfügen. Schließlich kommt das Material und das Know-how aus dem Ausland! Einen gegen die Urananreiche­rungsan­lagen des Iran oder gar einen allgemeinen militä­rischen Angriff der Atommacht USA oder Israels darf es unter keinen Umständen geben. Die Kon­sequenzen für die im Iran lebenden Menschen, für den Nahen und Mittleren Osten, für die ganze Welt wären noch furchtbarer als die des Irak-Krieges.

Die Menschenrechtslage im Iran

Seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Ahmadinejad geht die Unterdrückung weiter. Vor allem sind die ethnische Minderheiten, Araber und Kurden, sowie JournalistInnen, RechtsanwältInnen, Frauen, Homosexuelle und Jugendliche im Iran von den Repressalien betroffen. Der neue Präsident wurde am 6.08.2005 vereidigt, und hat sogleich angekündigt, er wolle nach seiner Vereidigung eine Regierung "der reinen islamischen Kultur" bilden. Eine erste Bilanz seiner Präsidentschaft geht genau in diese Richtung und ist mit einer weiteren Verschlechterung der Menschenrechtslage verbunden.

Nach der Wahl des Präsidenten sind in Iran Forderungen nach strikterer Anwendung der Kleidervorschriften für Frauen laut geworden. "Das Parlament erwartet, dass der Präsident Frauen entgegentritt, die sich unpassend kleiden", sagte der Abgeordnete Mohammed Taki Rahbar der Regierungszeitung "Iran". "Wir brauchen eine neue Kulturrevolution. Frauen im Iran müssen in der Öffentlichkeit Haare und Körper mit Kopftuch und Mantel verhüllen.“ Die Presseerklärung der „Internationalen Liga für Menschenrechte“ vom 24. August 2004 weist auf einige brutale Menschenrechtsverletzungen im Iran hin, die in dieser Ausgabe des Liga-Reports zu lesen sind.

Das Ausmaß, in dem politische Internet-Seiten zensiert werden, ist alarmierend. So haben die Iraner keinen oder nur begrenzten Zugang zu den Internet-Seiten der oppositionellen Dissidenten-Gruppen, die sich außerhalb des Landes formiert haben. Bei ihrer Zensur wird die iranische Regierung von den verschiedenen Internet-Providern des Landes unterstützt. Zum Filtern benutzen sie eine amerikanische Software: SmartFilter wird von der US-Firma Secure Computing produziert.

Trotz allem sind die Islamisten nicht mehr in der Lage, die Menschen im Iran, wie in den letzten 10 Jahren zum Schweigen zu bringen. Die Entwicklung des politischen Bewusstseins, die sich in den Kämpfen der Frauen, Jugendlichen, Studenten, Journalisten und politischen Aktivisten zeigen, macht Hoffnung.

 

 


 2005

Verleihung der BigBrother-Awards 2005 in Bielefeld

 


Rolf Gössner verleiht "Oscar für Datenkraken" an Bundesinnenminister Otto Schily

Die Internationale Liga für Menschenrechte verteilte am Freitag, 28.10.2005, in Bielefeld zusammen mit anderen Datenschutz- und Bürgerrechtsgruppen die BigBrotherAwards (BBA) 2005. Den Lifetime-Award verlieh BBA-Jurymit­glied und Präsident der Liga, Dr. Rolf Gössner, vor über zweihundert Gästen unter großem Beifall an Bundesinnenminister Otto Schily (SPD). Schily, der es vorzog, seiner „Ehrung“ fernzubleiben, erhält den Preis

- aktuell für die undemokratische Einführung des biometrischen Reisepasses, dessen Technik unausgereift und unsicher ist und der zu einer erkennungsdienstlichen Behandlung der gesamten Bevölkerung führt;

- Otto Schily erhält den Preis auch für sein "Lebenswerk", nämlich für den Ausbau des deutschen und europäischen Überwachungssystems auf Kosten der Bürger- und Freiheitsrechte und für seine hartnäckigen Bemühungen um die Aushöhlung des Datenschutzes unter dem Deckmantel von Sicherheit und Terrorbekämpfung.

Hauptpreisträger (Kategorie „Verbraucherschutz“) ist das Organisationskomitee des Deutschen Fußballbundes, vertreten durch Franz Beckenbauer «für die inquisitorischen Fragebögen zur Bestellung von WM-Tickets» und die geplante Ausstattung der Tickets mit RFID-Schnüffelchips.

Die weiteren Preisträger sind aus der anhängenden Zusammenstellung zu ersehen.

Die „Internationale Liga für Menschenrechte“ ist zusammen mit anderen Datenschutz- und Bürgerrechtsgruppen seit 2003 Mitträgerin des „BigBrotherAward“ (BBA). Die Preisträger des „Oscars für Überwachung“ (Le Monde) – Unternehmen, Organisationen und Politiker – verletzen nach Meinung der Jury erheblich die Privatsphäre der Bundesbürger. Vergeben wird der Preis, der sich zum sechsten Mal jährt, in verschiedenen Kategorien, darunter „Politik“, „Ver­braucherschutz“, „Wirtschaft“ und „Kommunikation“.

Mit den „Negativ-Preisen für Datenkraken“ möchte die Jury auf ausufernde Kontrolle, Manipulation und Überwachung hinweisen. In diesem Jahr wurden der Jury dazu fast 300 Vorschläge eingereicht. Für die Auswahl zeichnen neben der Internationalen Liga für Men­schenrechte der FoeBuD, der Chaos Computer Club (CCC), die Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD), die Humanistische Union, das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) sowie der Förderverein Informationstechnik und Gesell­schaft (FITUG) verantwortlich. Die Big BrotherAwards sind international vernetzt: 14 europäische Länder sind bereits dabei, u.a. die Schweiz, Österreich, England und Tschechien.

Der Name der Preise ist George Orwells Buch „1984“ entnommen, in dem er bereits Ende der vierziger Jahre seine Vision einer zukünftigen Gesellschaft entwarf, die unter totaler Überwachung steht. Durch die BigBrotherAwards soll das abstrakte Thema Datenschutz durch konkrete Beispiele anschaulich und allgemein verständlich gemacht werden. In den vergangenen fünf Jahren fanden die Preisverleihungen ein großes Echo in der Öffentlichkeit.

BigBrotherAwards erhielten u.a. der Metro-Konzern für den Einsatz von RFID-Schnüffel­chips, das Lkw-Mautsystem von TollCollect, Microsoft, die Payback-Kundenkarte, die GEZ für ihre Schnüffelmethoden sowie die Bundesagentur für Arbeit für ihren ALG-II-Fragebogen, das Bundeskriminalamt, das Bundesverwaltungsamt für das Ausländerzentralregister usw..

Die Jury des BigBrotherAwards 2005

Rena Tangens, padeluun - Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoeBuD e.V)

Karin Schuler, Deutsche Vereinigung für Datenschutz e.V. [DVD]

Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte [ILMR]

Dr. Fredrik Roggan, Humanistische Union [HU],

Frank Rosengart, Chaos Computer Club e.V.

Alvar C. H. Freude, Förderverein Informatik und Gesellschaft e.V. (Fitug)

Werner Hülsmann, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)

BigBrother Awards 2005
Liste der Gewinner (Kurzbegründung)

 

- Kategorie Lebenswerk

Laudator: Dr. Rolf Gössner

Otto Schily, Bundesminister des Inneren

aktuell für die undemokratische Einführung des biometrischen Reisepasses, dessen Technik unausgereift und unsicher ist und der zu einer erkennungsdienstlichen Behandlung der gesamten Bevölkerung führt.

Otto Schily erhält den Preis auch für sein "Lebenswerk", nämlich für den Ausbau des deutschen und europäischen Überwachungssystems auf Kosten der Bürger- und Freiheitsrechte und für seine hartnäckigen Bemühungen um die Aushöhlung des Datenschutzes unter dem Deckmantel von Sicherheit und Terrorbekämpfung.

- Kategorie Politik

Laudator: Dr. Fredrik Roggan

Der Hessische Minister des Inneren, Volker Bouffier

für das präventive Orten und Abhören von Mobiltelefonen; für die DNA-Analyse bei Kindern unter 14 Jahren, die eine Straftat begangen haben zu deren zukünftiger Strafverfolgung; für die Befugnis der hessischen Polizei, Kfz-Kennzeichen auch ohne Straftatverdacht zu scannen und für den Einsatz von Videoüberwachung bei Personenkontrollen.

- Kategorie Behörden und Verwaltung

Laudator: Werner Hülsmann

Der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, Herrn Christian Wulff

für die Zerschlagung der Datenschutzaufsicht in Niedersachsen. Die Aufsicht über den Datenschutz in der Wirtschaft soll ab 1.1.2006 dem niedersächsischen Innenministerium zugeordnet werden. Dies konterkariert den aktuellen Beschluss der EU, der die völlige Unabhängigkeit der Datenschutzaufsicht fordert.

- Kategorie Technik

Laudatorin: Karin Schuler

Sammelpreis Videoüberwachung

Der BBA 05 in der Kategorie Technik geht an eine Sammlung ganz eifriger Überwachungsfetischisten für die schleichende Degradierung von Menschen zu überwachten Objekten und der Verharmlosung der Folgen von flächendeckender Überwachung. Einen einzelnen Preisträger nennen wir deswegen nicht.

- Kategorie Kommunikation

Laudator: Alvar Freude

Generalstaatsanwaltschaft von Schleswig-Holstein, Herrn Erhard Rex als Leiter der Staatsanwaltschaften Kiel und Lübeck

für die großflächige Fahndung nach Zeugen (die wie Verdächtige behandelt wurden) mittels Handy-Ortung. Es handelt sich um die erste Funkzellen-Massenabfrage -- Mobilfunkunternehmen wurden zur Herausgabe sämtlicher Verbindungsdaten einer Region gezwungen. Die Einsicht in die zugehörigen Akten wurde den Datenschützern des Landes Schleswig-Holstein, die den Fall prüfen wollten, verweigert.

- Kategorie Verbraucherschutz

Laudator: Rena Tangens

WM-Organisationskomittee des Deutschen Fußballbundes (DFB), Franz Beckenbauer

für die inquisitorischen Fragenbögen zur Bestellung von WM-Tickets, für die geplante Weitergabe der Adressen an die FIFA und deren Sponsoren und für die Nutzung von RFID-Schnüffelchips in den WM-Tickets und damit den Versuch, eine Kontrolltechnik salonfähig zu machen zum Nutzen eines WM-Sponsors (RFID-Hersteller Philips).

- Kategorie Wirtschaft

Laudatorin: Rena Tangens

Saatgut Treuhand VerwaltungsGmbH, vertr. durch Geschäftsführer Dirk Otten

für zentrale Datensammlung über Bauern, Verklagen von mehreren tausend Landwirten, die die Auskunft verweigern; Beschaffung der Kundendaten von Genossenschaften und verdeckte Testeinkäufe bei Bauern, die die Saatgut Treuhand verdächtigt, Kartoffeln oder andere Feldfrüchte aus ihrer eigenen Ernte zur Aussaat im nächsten Jahr zu verwenden.

Für den Aufbau einer zentralen Kontrollstruktur zum Eintreiben der sogenannten Nachbaugebühren im Dienste der Saatgutindustrie.

- Kategorie Regional

Laudator: padeluun

Grundschule Ennigloh bei Bünde sowie die

Volksbank Bad Oeynhausen Herford eG und die Sparkasse Herford

für die Weitergabe der Namen von Schulanfängern an die genannten Geldinstitute zum Zwecke der Werbung ("Startkonto") ohne Einwilligung der Eltern.

                                            29.10.2005

Schnüffelpreis für Innenminister Schily

Big-Brother-Awards-Verleiher kritisieren "Verletzung der Privatsphäre der Bundesbürger"

Von unserem Redakteur Rainer Kabbert

BIELEFELD·BREMEN. Zum Ende seiner politischen Karriere wird Bundesinnenminister Otto Schily mit einer Auszeichnung "geehrt", auf die er wohl gern verzichtet hätte. In Bielefeld wurde ihm gestern der Deutsche Big-Brother-Award verliehen, weil er nach Ansicht der Jury die Privatsphäre der Bundesbürger erheblich verletzt hat. Die Jury, in der unter anderem die Internationale Liga für Menschenrechte, die Humanistische Union und die Deutsche Vereinigung für Datenschutz vertreten sind, hat ihm die Auszeichnung in der Kategorie "Lifetime" für "langjährige Verdienste" gegeben. Der Bremer Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner, Präsident der Liga für Menschenrechte, begründete den Jury-Entscheid in seiner Laudatio mit der Politik Schilys in den letzten Jahren:

·         Einführung des biometrischen Passes mit unausgereifter Technologie und ohne parlamentarische Legitimation

·         Ausbau des deutschen und europäischen Überwachungssystems auf Kosten der Bürger- und Freiheitsrechte

·         Aushöhlung des Datenschutzes und der Informationellen Selbstbestimmung durch die so genannten Anti-Terrorgesetze

·         Mitwirkung am Großen Lauschangriff

·         Angriffe auf die Unabhängigkeit des Bundesbeauftragten für den Datenschutz

Gössner sieht insbesondere in der digitalen Erfassung von biometrischen Merkmalen im Pass Gefahren für den Bürger. Er beruft sich auf das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, das die neue Technologie als nicht praxistauglich und unausgereift abwertet. Gössner: "Es steht zu befürchten, dass täglich Tausende Menschen an Flughäfen zurückgewiesen und in ihrer Reisefreiheit beschränkt werden, weil ihre digitalen Fotos oder Fingerabdrücke von der Software nicht akzeptiert werden."Zudem, so der Anwalt, seien die elektronischen Ausweise anfällig für Missbrauch. Biometrische Daten könnten an Kontrollstellen im In- und Ausland ausgelesen werden, unbefugte Dritte so Bewegungsprofile von arglosen Passinhabern anfertigen.In den sieben anderen Kategorien sind weitere Politiker, Behörden und Unternehmen ins Visier der Jury geraten. So hat der Hessische Minister des Inneren Volker Bouffier nach Erkenntnissen der Juroren das präventive Abhören von Mobiltelefonen angeordnet. Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff wird vorgeworfen, die Datenschutzaufsicht in der Wirtschaft zerschlagen zu haben - entgegen einem aktuellen EU-Beschluss, der die Unabhängigkeit der Datenschutzaufsicht fordert.Auch Franz Beckenbauer bekommt sein Fett weg. In der Kategorie Verbraucherschutz werden dem WM-Organisa­tionskomitee des DFB unter anderem "inquisitorische Fragebögen zur Bestellung von WM-Tickets" zur Last gelegt.Der Big-Brother-Award wird seit sechs Jahren in 14 europäischen Ländern vergeben, so auch in England, der Schweiz und Österreich. Ob er hilft, die Privatsphäre der Bürger sicherer zu gestalten? Gössner glaubt nicht, dass Schily das Gespräch mit ihm suchen werde. Doch als Microsoft wegen Sicherheitslücken in seinen Produkten "ausgezeichnet" wurde, erschien der Deutschlandvertreter der Firma zur Preisverleihung - und gelobte Besserung.

© Bremer Tageszeitungen AG

 


Er hat die SICHERHEIT ZUM GRUNDRECHT gekürt

Der BigBrotherAward 2005 in der Kategorie "Lifetime" geht an Otto Schily

Auszüge aus der Laudatio von Rolf Gössner (Mitglied der Jury)


Für sein "Lebenswerk" - den Ausbau des deutschen und europäischen Überwachungssystems auf Kosten der Bürger - erhielt der noch amtierende Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) am 28. Oktober 2005 den BigBrotherAward.

 


Otto Schily erhielt in diesem Jahr mit Abstand die meisten Nominierungen - wie übrigens schon im Jahr 2001, als er für seine "Otto-Kataloge" den "Big BrotherAward" in der Kategorie "Politik" verliehen bekam. In der Jury bestand große Einigkeit, dass Schily in diesem Jahr, zum mutmaßlichen Ende seiner politischen Karriere, der "Lifetime-Award" für langjährige "Verdienste" gebührt - wohlwissend, dass wir mit unserer Würdigung im Rahmen der Verleihung eines Negativpreises einer so schillernden Persönlichkeit wie Otto Schily und seiner gesamten Lebensleistung bei Weitem nicht gerecht werden können. Leider können wir hier und heute nur eine Auswahl aus der Fülle seiner beeindruckendsten Projekte und Initiativen würdigen.

Otto Schily erhält den BigBrother-Lifetime-Award 2005

• ganz aktuell für die übereilte Einführung des biometrischen ePasses mit unausgereifter Tech­nologie und ohne parlamentarische Legitimation,

• darüber hinaus für seine "Verdienste" um den Ausbau des deutschen und europäischen Überwachungssystems auf Kosten der Bürger- und Freiheitsrechte,

• für seine hartnäckigen Bemühungen um die Aushöhlung des Datenschutzes und der Informationellen Selbstbestimmung unter dem Deckmantel von Sicherheit und Terrorbekämpfung - Stichwort: "Antiterror"-Gesetze (auch "Otto-Kataloge" genannt),

• für seine maßgebliche Mitwirkung am Großen Lauschangriff sowie

• für seine Angriffe auf die Unabhängigkeit des Bundesdatenschutzbeauftragten. (...)

Mit dem "BigBrother-Lifetime-Award" würdigen wir die Wandlung des anthroposophisch geprägten Preisträgers Otto Schily vom linksliberalen Anwalt über den realo-grünen Oppositionspolitiker zum staatsautoritären SPD-Polizeiminister - eine Metamorphose, die viele Menschen nur schwer nachvollziehen können. Vor vielen, vielen Jahren stand Schily als herausragender Strafverteidiger der außerparlamentarischen Linken und besonders im Stammheimer RAF-Prozess für den Kampf gegen Deformationen des Rechtsstaates, die dieser damals im Zuge der Terrorismusbekämpfung erleiden musste. Es war jene Zeit, in der Schily noch die mahnenden Worte einer Erklärung der "Humanistischen Union" unterschrieben hatte: "Man bekämpft die Feinde des demokratischen Rechtsstaats nicht mit dessen Abbau, und man verteidigt die Freiheit nicht mit deren Einschränkung" (1978).

So ändern sich die Zeiten - dennoch will Schily von biografischen Brüchen nichts wissen: Vom "Terroristenprozess" in Stammheim bis zu seinen "Antiterror"-Gesetzen - kontinuierlich wähnte er sich im Einsatz für den Rechtsstaat, wenn auch in unterschiedlichen Rollen. Doch Schily hat nicht nur die Rollen, sondern die Seiten gewechselt - und zwar kompromisslos: Aus dem eloquenten Strafverteidiger, der im Interesse seiner Mandanten rechtsstaatliche Prinzipien gegen staatsautoritäre Übergriffe verteidigte, wurde spätestens in seiner Funktion als Bundesinnenminister ein autoritärer Staats-Anwalt, der die Macht des Staates zu Lasten der individuellen Freiheitsrechte ausgebaut hat. Schily machte den Staat zu seinem Mandanten, für dessen Autorität und Stärke er sich auf geradezu fundamentalistische Weise eingesetzt hat. Schon länger hält er die Angst vor dem Leviathan, also vor einer entfesselten Staatsmacht, für ein Problem von vorgestern. Der Einzelne müsse heute nicht mehr vor dem Staat geschützt werden, nur noch vor Kriminalität und Terror. Jedes Misstrauen gegen staatliche Maßnahmen ist im Schily-Staat demnach unangebracht, ja verwerflich, zumindest verdächtig.

Schon als Oppositionspolitiker hatte der von den Grünen zur SPD konvertierte Schily die spätere rot-grüne Koalition mit schweren Hypotheken belastet - so mit dem Großen Lauschangriff. Schily, der in Stammheim selbst Opfer von Lauschangriffen geworden war, hatte an der dafür nötigen Verfassungsänderung, die ohne die SPD nicht zustande gekommen wäre, maßgeblich mitgewirkt - und damit an der Aushöhlung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Jahre später hat das Bundesverfassungsgericht dieses Machwerk für weitgehend verfassungswidrig erklärt. Verfassungswidrige Betätigung - strenggenommen ein Fall für den "Verfas­sungs­schutz", im Fall Schily offenbar eine höchst paradoxe Empfehlung für den Posten des Innenministers, der schließlich auch als Verfassungs(schutz)mi­nister fungiert.

Als Geburtshelfer des Großen Lauschangriffs hatte Schily ursprünglich sogar für eine noch weit schärfere Fassung gefochten: Wäre es nach ihm gegangen, wären elektronische Wanzen auch gegen Berufsgeheimnisträger wie Journalisten oder Ärzte einsetzbar gewesen. Seit jener Zeit sind zumindest erhebliche Zweifel an seiner Verfassungstreue angebracht, zumal er zuvor schon die faktische Abschaffung des Asylgrundrechts betrieben hatte. Man muss sich seitdem fragen: Ist Schily bereit, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten, wie es von jedem Beamten gefordert wird, oder neigt er dazu, diese vermehrt zugunsten der Staatsräson und zu Lasten der Bürgerrechte einzuschränken?

Unser Preisträger hat mit seiner Law-and-order-Politik einen gehörigen Beitrag dazu geleistet, dass bürgerrechtliche Grundwerte in der herrschenden Sicherheitspolitik mehr und mehr verdrängt worden sind - ganz besonders nach den Terroranschlägen vom 11. 9. 2001 in den USA. Damals verkündete Schily als Bundesinnenminister, die rot-grüne Koalition werde "alle polizeilichen und militärischen Mittel aufbieten, über die die freiheitlich-demokratische Staatsordnung, die wehrhafte Demokratie verfügt". Mit dieser martialischen Androhung trat Schily einen fatalen Gesetzesaktionismus los, bediente das ohnehin schier grenzenlose Sicherheitsverlangen der Bürger und nutzte es zur Legitimierung langgehegter Nachrüstungspläne, ließ sie aus den Schubladen der Macht kramen, zu voluminösen "Otto-Katalogen" schnüren und mit Antiterror-Etiketten bekleben. Anstatt der Bevölkerung die Wahrheit über Unsicherheitsfaktoren in einer Risikogesellschaft zuzumuten und deutlich zu machen, dass absolute Sicherheit leider nicht und nirgendwo zu erreichen ist, machen Schily und andere Regierungspolitiker mit symbolischer Politik bis heute unhaltbare Sicherheitsversprechen.

Mit den so genannten Antiterror-Gesetzen, für die Otto Schily wie kein anderer steht, haben Polizei und Geheimdienste erweiterte Aufgaben und Befugnisse erhalten. Damit wurde die ohnehin hohe Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft noch weiter erhöht. Vermehrt können Beschäftigte in so genannten lebens- oder verteidigungswichtigen Einrichtungen geheimdienstlichen Sicherheitsüberprüfungen unterzogen werden - mitunter auch ihre Lebenspartner und ihr soziales Umfeld (...).

Migrantinnen und Migranten, unter ihnen besonders Muslime, werden praktisch per Gesetz unter Generalverdacht gestellt, zu gesteigerten Sicherheitsrisiken erklärt und einem rigiden Überwachungssystem unterworfen - denken wir nur an die biometrische Erfassung von Fingerabdrücken und Stimmprofilen, an geheim­dienstliche Regelanfragen, an erleichterte Auslieferungen und Abschiebungen. Ohne wirklichen Nachweis, dass von ihnen mehr Terror ausgehe als von Deutschen, werden Migranten oft - unter Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes - einer entwürdigenden Sonderbehandlung unterzogen, die für viele existentielle Folgen haben kann.

Die "Antiterror"-Gesetze bewirken eine verhängnisvolle Lockerung des Datenschutzes, ganz im Sinne Otto Schilys, der den Datenschutz ohnehin für "übertrieben" hielt- gerade so, als könnten selbstmörderische Terroranschläge mit weniger Datenschutz und mehr Eingriffen in die Privatsphäre der Bürger verhindert werden. Doch die meisten Gesetzesverschärfungen taugen nur wenig zur Bekämpfung eines religiös-aufgeladenen, selbstmörderischen Terrors; sie schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Freiheitsrechte um so mehr. Etliche der Antiterror-Maßnahmen sind unverhältnismäßig, ja maßlos - sie zeigen Merkmale eines nicht erklärten Ausnahmezustands und eines autoritären Präventionsstaates, in dem letztlich Rechtssicherheit und Vertrauen verloren gehen. Die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, verliert in dieser Sicherheitskonzeption ihre machtbegrenzende Funktion. Der Mensch wird zum potentiellen Sicherheitsrisiko, der seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muss - während Otto Schily die vermeintliche Sicherheit zum Supergrundrecht erklärt, das die wirklichen Grundrechte der Bürger - als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates - in den Schatten stellt.

In seinem missionarischen Eifer als Staatsschützer schreckte der Preisträger selbst vor extremistischen Forderungen aus dem Arsenal von Diktaturen nicht zurück: So würde er allzu gerne "gefährliche" Personen ohne konkreten Verdacht in präventive Sicherungshaft nehmen lassen. Otto Schilys zuweilen obrigkeitsstaatliche Interpretation des Rechtsstaats zeigt sich auch in folgenden Staatschutzprojekten:

Er hat mit einem gemeinsamen Antiterror-Lage­entrum und mit dem Plan einer zentralen "Islamistendatei" Grundsteine für einen Datenverbund aller Geheimdienste und des Bundeskriminalamts gelegt. Eine noch engere Vernetzung würde die Aufhebung des verfassungsmäßigen Gebots der Trennung von Polizei und Geheimdiensten bedeuten - immerhin eine Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo im Nationalsozialismus. Damit nimmt Schily eine Machtkonzentration in Kauf, die kaum noch wirksam kontrollierbar sein wird.

Schily hat sich mit Vehemenz dafür eingesetzt, dass alle Telekommunikationskontakte - ob per Telefon, SMS, Email oder Internet - zur Terror- und Kriminalitätsbekämpfung deutschland- und europaweit für mindestens zwölf Monate auf Vorrat gespeichert werden. Also: Wer hat mit wem, wann, wie oft und wie lange von wo nach wo fern-mündlich oder schriftlich kommuniziert, welche SMS- oder Internet-Verbindungen genutzt, welche Suchmaschinen mit welchen Begriffen benutzt, welche websites besucht und mit welchen Email-Empfängern kommuniziert? Mit dieser beispiellosen Vorratsdatensammlung ließe sich das Kommunikations- und Konsumverhalten einzelner Telekommunikationsnutzer heimlich ablesen - Verhaltens- und Kontaktprofile inklusive.

Auch die Pressefreiheit ist vor Otto Schily keineswegs sicher: So rechtfertigt er undifferenziert und hartnäckig die höchst umstrittene Durchsuchung der Redaktionsräume des Monatsmagazins Cicero und der Privatwohnung eines Journalisten durch das Bundeskriminalamt (BKA), zu der Schily die Ermächtigung erteilt hatte. Der Journalist hatte zulässigerweise aus einem geheimen BKA-Dossier zitiert. Weil die undichte Stelle im BKA, also der Lieferant des Geheimdossiers, nicht zu finden war, wurde gegen den Journalisten wegen "Beihilfe zum Geheimnisverrat" ermittelt - stundenlange Razzien und kistenweise Beschlagnahme von Recherchematerial inklusive. Das gesuchte Dokument wurde nicht gefunden, dafür "Zufallsfunde" zuhauf, die mit dem Durchsuchungsanlass nicht das Geringste zu tun haben, aber zu weiteren Ermittlungsverfahren führten. Mit dieser Verdächtigung, als Journalist am Verrat von Dienstgeheimnissen selbst beteiligt gewesen zu sein, lassen sich Informantenschutz und Zeugnisverweigerungsrecht praktisch aushebeln - und damit das hohe Gut der Pressefreiheit. Solche Praktiken können letztlich dazu führen, kritische Journalisten einzuschüchtern und von investigativen Recherchen abzuhalten.

So sehen die fatalen Folgen aus, wenn man, wie der Preisträger, die Sicherheit zum Grundrecht kürt, wenn man die Staatsräson zum Verfassungsgrundsatz erhebt, die alles andere dominiert: Dann herrscht partielle Willkür, dann werden Bürgerrechte zur Makulatur. Angesichts überzogener Antiterrormaßnahmen und einer eskalierenden Sicherheitsdebatte warnte der frühere Datenschutz­beauftragte und Vorsitzende des Nationalen Ethikrates, Spiros Simitis, eindringlich: "Jetzt ist der Punkt erreicht, wo wir am Grundbestand unserer verfassungs­rechtlichen Vorgaben angelangt sind - der Übergang in eine totalitäre Gesellschaft ist fließend". Und der Soziologe Ulrich Beck sieht mit der "Risikogesellschaft", in der wir leben, ohnehin eine "Tendenz zu einem ‚legitimen' Totalitarismus der Gefahrenabwehr" verbunden: Ausgestattet mit "dem Recht, das Schlimmste zu verhindern", schaffe sie in "nur allzu bekannter Manier das andere Noch-Schlimmere". Anstatt dieser fatalen Tendenz wirksam entge­genzutreten, betätigte sich Otto Schily als ihr missionarischer Vollstrecker. Selbst sein Ministerkollege Wolfgang Clement fand deutliche Worte für Otto Schilys freiheitsbegrenzendes Wirken, als er seine Zeit nach dem Ausstieg aus der Bundesregierung so skizzierte: "Ich bin ein freier Mensch und werde jetzt von meinen Freiheits­rechten Gebrauch machen - und zwar ausgiebig -, natürlich nur in dem Rahmen, den Otto Schily mir noch zur Verfügung stellt..." (WDR 10.10.2005).

Herzlichen Glückwunsch zum "BigBrother-Lifetime-Award", Herr Schily.

Aus:  31.20.05

Die Langfassung dieser Laudatio finden Sie unter:

www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/dokumentation/



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Liga-Pressemitteilungen

Mai 2005 – November 2005

„Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte im Fall Öcalan
muss Konsequenzen haben“

„Der weitere Umgang mit dem Fall Öcalan wird zu einem Gradmesser für die Glaubwürdigkeit
der türkischen Menschenrechtsentwicklung“

Mit dem heute ergangenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg wird die Türkei wegen rechtsstaatswidriger Bedingungen im Hochverratsprozess gegen den Kurdenführer Öcalan verurteilt. Der Angeklagte habe in der Türkei kein faires Verfahren erhalten und sei einer „menschenunwürdigen Behandlung“ unterzogen worden. Dies verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

Das Urteil zeige, so Liga-Präsident Dr. Rolf Gössner heute in Bremen, „dass der Fall Öcalan noch lange nicht Geschichte ist, sondern weit in Gegenwart und Zukunft der Türkei und Europas hineinragt. Der weitere Umgang mit diesem Fall in der Türkei wird ein Gradmesser für die Glaubwürdigkeit der türkischen Menschenrechtsentwicklung sein.“ Nun müsse die Türkei in einem Wiederaufnahme-Verfahren Bedingungen schaffen, die ein faires Verfahren zulassen – sonst hätten die alarmierenden Feststellungen des Europäischen Gerichtshof keine praktischen Auswirkungen. Auch die heftigen und noch zunehmenden Auseinandersetzungen über eine Neuverhandlung des Öcalan-Prozesses dürften die Türkei nicht davon abhalten.

Die Liga appelliert deshalb an die EU-Organe, gerade im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei darauf achten, dass der Straßburger Richterspruch tatsächlich umgesetzt wird, dass es also zu einer Neuverhandlung des Falles kommt und dass dieser unter fairen, menschenrechtlichen Bedingungen durchgeführt wird.

Darüber hinaus müsse der Fall Öcalan im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen angemessene Berücksichtigung finden, fordert Rolf Gössner, „insbesondere auch was die höchst bedenklichen Isolationshaftbedingungen angeht.“ Auch wenn der Europäische Gerichtshof hier keinen Verstoß gegen die Europäische Men­schenrechtskonvention angenommen hat, so müsse die Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali, wo Öcalan als einziger Gefangener festgehalten wird, doch als „äußerst besorgniserregend“ bezeichnet werden. Nach gegenwärtigem Recht könnte Öcalan bis zu neun Jahre unter diesen erschwerten Bedingungen in Einzelhaft gehalten werden. Und die lebenslange Haft wird laut Gesetz tatsächlich bis zum Tode vollstreckt – „streng genommen eine Hinrichtung auf Raten“.

Angesichts des schlechten Gesundheitszustands von Öcalan nach sechs Jahren Isolation fordert die „Internationale Liga für Menschenrechte“ die sofortige Aufhebung der Isolationshaft sowie die Unterlassung aller Will­kürhandlungen, die den Kontakt mit Familienangehörigen und Rechtsanwälten immer wieder schwer beeinträchtigen; darüber hinaus die Entsendung einer unabhängigen Ärztekommission, die sich um den schlechten Gesundheitszustand Öcalans kümmert.

Es geht aber nicht nur um den Fall Öcalan. Bei den EU-Beitrittsverhandlungen muss auch die Kurdenfrage insgesamt einen ganz zentralen Platz einnehmen – mit dem Ziel einer friedlichen und gerechten Lösung, die der kurdischen Bevölkerung endlich sämtliche Menschenrechte und politisch-kulturelle Gleichberechtigung garantiert.                                   (12. Mai 2005)

Liga fordert historische Aufarbeitung in allen Ministerien – auch dem Bundesverteidigungsministerium und den Innen- und Justizministerien in Bund und Ländern

„Bei der notwendigen Aufarbeitung der Ministerien-Geschichte dürfen auch nachgeordnete Behörden wie Bundeskriminalamt, Bundesnachrichtendienst und Bundesamt für Verfassungsschutz nicht ausgespart werden“

Die „Internationale Liga für Menschenrechte“ begrüßt die Initiative der Minister Joschka Fischer und Renate Künast, Historikerkommissionen zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und personeller Kontinuitäten im Außen- und Landwirtschaftsministerium einzusetzen. Eine solche systematische Aufarbeitung der Ministeriumsgeschichte ist überfällig.

Bundesinnenminister Otto Schily disqualifiziert sich selbst, wenn er sich im Namen der Bundesregierung weiterhin kategorisch weigert, die Bundesministerien einer solchen Aufarbeitung zu unterziehen – obwohl doch etwa ein Drittel der Bundesbeamten in der frühen Bundesrepublik ehemalige Mitglieder der NSDAP waren. Liga-Präsident Rolf Gössner: „Damit leugnet Schily personelle und mentale Kontinuitäten, die bis heute offiziell nicht wirklich systematisch aufgearbeitet worden sind. Das gilt in besonderem Maße auch für die dem Bundesinnenministerium nachgeordneten Behörden wie Bundeskriminalamt und Bundesamt für Verfassungsschutz. Denn selbst ehemalige Gestapo-Beamte und SS-Angehörige hatten in der Nachkriegszeit zum Teil hohe Posten bei Polizei und Geheimdiensten erklommen. Selbst die furchtbarsten Juristen der NS-Sonder­gerichte kehrten in Amt und Würden zurück und besetzten Schlüsselpositionen. Ausgerechnet diese ‚bewährten’ Fachleute hielt man damals für berufen, die neue bundesdeutsche Verfassung zu schützen.“

Diese personellen „Altlasten“ in den Ministerien, in Polizei, Geheimdiensten und Justiz wirkten bei der inneren Aufrüstung der Bundesrepublik im Kalten Krieg eifrig mit. Sie hatten prägenden Einfluss auf die „innere Sicherheit“ und die einseitige politische Ausrichtung und Feindbildpflege der Sicherheitsorgane gegen Links. So kam es in den 50er und 60 Jahren zu politischer Verfolgung großen Ausmaßes – gerichtet nicht etwa gegen Alt- und Neonazis, sondern gegen etwa 200.000 Antifaschisten, Kommunisten und andere Linke, und zwar zumeist wegen gewaltfreier Oppositionsarbeit. Die neuen Strafverfolger in Polizei und Justiz waren nicht selten die alten Nazi-Täter, die systematisch wieder in den Staatsdienst eingegliedert worden sind. Und auch die Opfer blieben oft die gleichen: nämlich Menschen, die am Widerstand gegen den Faschismus beteiligt und in der NS-Zeit mit äußerster Härte verfolgt worden waren. Vielen NS-Opfern sind in der Bundesrepublik sämtliche Wiedergutmachungsansprüche verweigert worden – unter anderem wegen politischer „Unwürdigkeit“.

Angesichts dieser Auswirkungen, die bis heute nachwirken, fordert die „Internationale Liga für Menschenrechte“, endlich die gesamte perso­nelle und mentale Kontinuität zwischen Naziregime und Bundesregierung, inklusive der nachgeordneten Behörden der Nachkriegszeit, offiziell und systematisch aufzuarbeiten. Auch die Landesregierungen sind aufgerufen, ihre Ministerien und nachgeordneten Behörden einer entsprechenden historischen Aufarbeitung zu unterziehen. Rolf Gössner: „Trotz jahrzehntelanger Verspätung: Nicht allein die Geschichte der DDR ist es wert, aufgearbeitet zu werden, auch die dunklen Flecken der westdeutschen Geschichte müssen auch auf höchster politischer Ebene endlich der Verdrängung entzogen werden.“   (17.05.2005)

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Schily-Vorschlag einer präventiven Sicherungshaft für „gefährliche“ Personen ohne konkreten Tatverdacht verfassungswidrig.

„Mit Vorbeugehaft wäre nicht mehr Sicherheit zu gewinnen, sondern Rechtsunsicherheit und Willkür. Menschen auf bloßen Verdacht wegzusperren, gehört zum Arsenal von Diktaturen.“

Die Debatte um immer extremere „Antiterror“-Maßnahmen nimmt kein Ende. Und Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) heizt sie im gerade begonnenen Wahlkampf noch weiter an: Er wirbt für die Einführung einer präventiven Sicherungshaft für „gefährliche“ Personen. Sie sollen ohne konkrete Beweise für eine möglicherweise bevorstehende Straftat oder Straftatbeteiligung eine (un-)gewisse Zeit lang weggesperrt werden dürfen.

Eine solche präventive Sicherungshaft auf bloßen Verdacht, also gegen prinzipiell Unschuldige, ist nach Auffassung der Liga verfassungswidrig und widerspricht rechtsstaatlichen Prinzipien. Liga-Präsident Dr. Rolf Gössner: „Damit wäre nicht mehr Sicherheit zu gewinnen, sondern Rechtsunsicherheit und Willkür verbunden. Eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, nämlich die Unschuldsvermutung, würde damit ausgehebelt.“

Im übrigen gibt es in den Polizeigesetzen schon lange die Möglichkeit der Präventivhaft zur Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Straftat (sog. polizeilicher Unterbindungsgewahrsam). Allerdings handelt es sich bei diesem Unterbindungsgewahrsam prinzipiell um eine kurzfristige und vorläufige Polizeimaßnahmen, deren richterliche Überprüfung unverzüglich herbeizuführen ist.

Bundesinnenminister Schily möchte mit seinem Vorschlag offenbar diese rechtlich schon zulässige Maßnahme wesentlich erleichtern, zeitlich verlängern und auf Personen ausdehnen, die als „hochgefährlich“ gelten, wer immer das definiert, gegen die ansonsten aber keinerlei Verdacht besteht, sie würden eine konkrete Straftat planen oder durchführen wollen. Rolf Gössner: „Ein solcher Vorschlag ist unverantwortlich und würde der Willkür Tür und Tor öffnen. Menschen auf bloßen Verdacht wegzusperren, gehört zum Arsenal von Diktaturen.“  (3.08.2004)

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Liga fordert Einstellung des Strafverfahrens gegen die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin

“Das Strafverfahren gegen E. Keskin ist ein internationaler Skandal, der bei den EU-Bei­trittsverhandlungen zur Sprache kommen muß“

Die „Internationale Liga für Menschenrechte“ ist empört über die zeitweise Festnahme der international bekannten türkisch-kurdischen Anwältin und Menschenrechtlerin Eren Keskin. Die Vorsitzende des angesehenen Menschenrechtsvereins IHD ist angeklagt wegen „Beleidigung (des moralischen Charakters) der türkischen Streitkräfte“ – ein Straftatbestand, der mit dem europäischen Grundrechte-Standard der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar ist. Es handelt sich um ein politisches Meinungsäußerungsdelikt, das gegen die Meinungs- und Pressefreiheit verstößt. Die Anklage stützt sich auf Keskins Äußerungen, die sie bei einer Diskussion in Köln zur Rolle des türkischen Militärs in Staat und Gesellschaft sowie zu Folterungen in der Türkei gemacht hatte. Ihr drohen dafür bis zu drei Jahren Haft.

Liga-Präsident Dr. Rolf Gössner – der Anfang des Jahres im Rahmen einer Menschenrechtsdelegation in der Türkei auch Eren Keskin getroffen hat, um sich über die dortige Menschenrechtslage zu informieren – fordert die Einstellung des Strafverfahrens. „Dieses Verfahren gegen Eren Keskin ist ein internationaler Skandal. Er reiht sich ein in weitere skandalöse Prozesse, die gegenwärtig von der türkischen Justiz gegen Kritiker des türkischen Staates und der türkischen Politik geführt werden – so etwa der Strafprozess gegen den international ausgezeichneten Romancier Orhan Pamuk oder die absurde Anklage gegen Kurden, weil sie den verbotenen Buchstaben ‚W’ gebraucht haben, den es im türkischen Alphabet nicht gibt, wohl aber in der kurdischen Sprache.“

In der Türkei werden nach wie vor Menschen kriminalisiert, denen nichts anderes vorgeworfen wird, als sich zu Themen wie der kurdischen Frage, dem Völkermord an den Armeniern, zu Foltermaßnahmen und zur Situation der Menschenrechte ihre kritische Meinung geäußert zu haben. Die Liga fordert, dass diese systematischen Menschenrechtsverletzungen, aber auch die nach wie vor ungelöste kurdische Frage während der EU-Beitrittsverhandlungen umgehend zur Sprache gebracht werden – und zwar solange, bis jene Gesetze abgeschafft sind, die die „Beleidigung des Militärs“ und die „Herabwürdigung des Türken­tums“ mit Haftstrafen bedrohen, bis der Gebrauch der kurdischen Sprache und die kurdische Kultur legalisiert werden und bis die Folterer strafrecht­lich verfolgt werden, und nicht diejenigen, die Folterungen dokumentieren.

Als Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD deckt Eren Keskin seit vielen Jahren Menschenrechtsverletzungen auf, die von türkischen Sicherheitskräften begangen werden. Wegen ihrer konsequenten Menschenrechtsarbeit und als engagierte Anwältin in politischen Strafverfahren ist sie den türkischen Behörden schon lange ein Dorn im Auge. Seit Jahren überzieht sie die Justiz mit Prozessen. Auch Morddrohungen ist sie immer wieder ausgesetzt. 2004 ist Eren Keskin mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet worden, 2005 mit dem „Theodor-Haecker-Preis für politischen Mut und Aufrichtigkeit“.                                 2.11.2005

Interview

Menschenrechtsliga: Umsetzung des Gerichtshof-Urteils zu Öcalan Gradmesser für Glaubwürdigkeit der Türkei

Rolf Gössner, Präsident der Internationalen Liga
für Menschenrechte, im Interview mit

DEUTSCHE WELLE: DW-WORLD.DE 11.05.2005

"Der Umgang mit diesem Fall Öcalan ist ein Gradmesser für die Glaubwürdigkeit der Menschenrechtsentwicklung in der Türkei. Ich gehe davon aus, dass die Türkei verurteilt wird, weil es kein faires Verfahren war, das 1999 in der Türkei stattgefunden hat." Das sagte der Präsident der Internationalen Liga für Menschen­rechte (Berlin), Rolf Gössner, in einem Interview von DW-WORLD.DE.

Einen Tag vor dem erwarteten Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg im Berufungsverfahren "Öcalan gegen die Türkei" erklärte Gössner, im Fall einer Verurteilung der Türkei werde es "harte Auseinandersetzungen um eine Neuverhandlung in der Türkei geben, insbesondere mit den nationalistischen Kräften". Er gehe davon aus, dass der Gerichtshof das Verfahren aufgrund schwerer Verstöße gegen das Völkerrecht und die europäische Menschenrechtskonvention für rechtswidrig erklären und für eine Neuansetzung plädieren werde. Entscheidend dafür, ob das Straßburger Urteil umgesetzt werde oder nicht, "wird letztlich das Verhalten der EU im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen sein. Es muss deutlich gemacht werden", so Gössner weiter, "dass ein solcher Spruch des höchsten europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in der Türkei umzusetzen ist".

Seine Organisation fordere die sofortige Aufhebung der Isolationshaft sowie die Unterlassung aller Willkürhandlungen, die den Kontakt mit Familienangehörigen und Anwälten schwer beeinträchtige. Öcalan sei auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali nach wie vor der einzige Häftling. Nach Beobachtungen seiner Organisation, so Gössner, habe sich die Menschenrechtslage in der Türkei bislang nicht wesentlich verbessert. Den Kurden würden weiterhin Grundrechte vorenthalten.

11. Mai 2005, 122/05

"Der Fall Öcalan ist ein Gradmesser
für die türkische Menschenrechtspolitik"

Der Prozess gegen PKK-Chef Öcalan war unfair, sagt der Präsident der Liga für Menschenrechte Rolf Gössner im DW-WORLD-Interview. Er hofft, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dies nun genauso sieht.

DW-WORLD: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg will am Donnerstag sein definitives Urteil über die Klage des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan gegen die Türkei bekannt geben. Die Richter haben darüber zu entscheiden, ob Öcalan 1999 in der Türkei ein fairer Prozess gemacht worden war. Mit welchem Richterspruch rechnen Sie?

Rolf Gössner: Ich gehe davon aus, dass die Türkei verurteilt wird, weil es kein faires Verfahren war, das 1999 in der Türkei stattgefunden hat. Das hat der Europäische Gerichtshof bereits im vorherigen Verfahrensab­chnitt 2003 festgestellt. Ich hoffe, dass er sich in seinem Urteil auch zu zwei wesentlichen Punkten äußert, die er 2003 offen gelassen hatte. Zum einen zu den dubiosen Umständen der Entführung Öcalans im Februar 1999 aus Kenia und zum anderen zu den Vorwürfen der Isolationshaft, der Öcalan auf der Gefängnis­insel Imrali ausgesetzt ist, wo er als einziger Gefangener einsitzt. Bei beiden Punkten handelt es sich um mutmaßlich schwere Verstöße gegen das Völkerrecht und die europäische Men­schenrechts­konvention.

Inwiefern war das Verfahren in der Türkei 1999 unfair?

Dieser Hochverratsprozess, der als "Jahrhundertprozess" bezeichnet wurde, ist in erstaunlicher Schnelligkeit über die Bühne gegangen - nicht gerade ein Indiz für Gründlichkeit. Geführt wurde der Prozess zudem von einem Gericht, das nicht als unabhängig bezeichnet werden kann, da ein Militärrichter daran beteiligt war. Durch die massive Einschränkung seiner Verteidigung und durch die Verhängung der Todesstrafe wurde Öcalan inhuman behandelt. Inzwischen ist die Todesstrafe ja in lebenslange Haft umgewandelt worden, aber die anderen Rechtstaatswidrigkeiten sind geblieben.

Sie waren als Beobachter des Öcalan-Revisions­verfahrens in Straßburg. Warum?

Das Revisionsverfahren im Juni 2004 (Das Urteil der kleinen Kammer des Gerichtshofes 2003, das Verfahren gegen Öcalan sei unfair, wurde von Öcalans Rechtsanwälte positiv gewertet, wenn auch als ungenügend. Deshalb legten sie 2004 Revision ein. Anmerkung d. Red.) ist von einer ganzen Reihe von Persönlichkeiten und Menschenrechtsorganisationen aus Europa und Südafrika beobachtet worden. Ich war für die "Internationale Liga für Menschenrechte" dabei. Es ging darum, auf internationaler Bühne deutlich zu machen, dass der Fall Öcalan nicht etwa Geschichte ist, sondern weit in die Gegenwart und Zukunft der Türkei und Europas hineinragt. Der Umgang mit diesem Fall ist ein Gradmesser für die Glaubwürdigkeit der türkischen Menschenrechtsentwicklung. Da die Türkei nicht von sich aus die notwendigen Bedingungen schafft, war der Weg nach Straßburg für die Verteidiger zwingend.

Sollte der Gerichtshof die Türkei verurteilen - wie wird sich Ihrer Meinung nach die türkische Regierung verhalten?

Prinzipiell ist die Türkei verpflichtet, Urteile des Europäischen Gerichtshofs umzusetzen. Allerdings gibt es für den Fall der Wiederaufnahme von Verfahren eine Einschränkung: Strafverfahren, die vor Anfang 2003 in letzter Instanz in der Türkei abgeschlossen worden sind - und Öcalan wurde ja bereits 1999 verurteilt - , sind davon ausgenommen. Hier spricht man sogar von einer "Lex Öcalan". Es wird harte Auseinandersetzungen um eine Neuverhandlung in der Türkei geben, insbesondere mit den nationalistischen Kräften. Entscheidend dafür, ob das Straßburger Urteil umgesetzt wird oder nicht, wird letztlich das Verhalten der EU im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen sein. Es muss deutlich gemacht werden, dass ein solcher Spruch des höchsten europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Türkei umzusetzen ist. Es muss eine Neuverhandlung angesetzt werden unter Bedingungen, die einem fairen Verfahren entsprechen.

Inwiefern muss die EU auch weiterhin Druck ausüben?

Der Fall Öcalan muss bei den EU-Beitritts­verhandlungen berücksichtigt werden, insbesondere was die Haftbedingungen angeht. Nach gegenwärtigem Recht könnte Öcalan bis zu neun Jahre unter erschwerten Bedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali in Einzelhaft gehalten werden. Und die lebenslange Haft wird laut Gesetz bis zum Tode vollstreckt. Streng genommen ist das ja eine Hinrichtung auf Raten. Und Isolationshaft ist eine Methode, die dazu geeignet ist, Persönlichkeit und Willen von Gefangenen zu brechen. Deshalb wird diese Methode auch als weiße Folter bezeichnet.

Welche Forderungen stellen Sie an die Türkei?

Ich fordere im Namen der "Internationalen Liga für Menschenrechte" die sofortige Aufhebung der Isolationshaft, zweitens die Unterlassung aller Willkürhandlungen, die den Kontakt mit Familienangehörigen und Rechtsanwälten nach wie vor schwer beeinträchtigen. Darüber hinaus die Entsendung einer unabhängigen Ärztekommission, die sich um den schlechten Gesundheitszustand Öcalans kümmern sollte. Es geht aber nicht nur um den Fall Öcalan. Bei den Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zur EU muss die Lösung der Kurdenfrage insgesamt einen ganz zentralen Platz einnehmen. Das ist nach wie vor ein brennendes Problem.

Sie haben kürzlich mit einer internationalen Delegation von Juristen die Türkei besucht, auch um sich über die Situation Öcalans zu informieren. Welche Eindrücke konnten Sie gewinnen?

Wir wollten uns einen persönlichen Eindruck von den Haftbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali verschaffen. Unser Besuchsantrag wurde aber vom Justizminister aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Die Insel und die Zufahrtswege sind militärisches Sperrgebiet. Da gibt es kein Durchkommen. Wir konnten aber mit den Anwälten und Familienangehörigen Öcalans sprechen. Wir haben uns außerdem bei offiziellen Stellen und Nichtregierungsorganisationen über die Menschenrechtslage insgesamt informiert.

Und, hat die Situation sich verbessert?

Es gibt da viel Propaganda von Seiten der türkischen Regierung und auch eine gewisse Leichtgläubigkeit auf Seiten mancher Europäer. Leider hat sich nach unseren Erkenntnissen die Menschenrechtslage bislang noch nicht wesentlich verbessert. Es gibt zwar Anstrengungen, aber auch eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Gesetzesreformen und der Umsetzung in der Praxis. Mentalität und Denken der türkischen Regierung und Behörden haben sich unseres Erachtens nicht grundlegend geändert. Die offizielle Politik ist weit davon entfernt, die Identität der Kurden anzuerkennen und sie mit gleichen Rechten und Freiheiten auszustatten. Nach wie vor werden Kurden unterdrückt, nach wie vor werden ihnen Grundrechte vorenthalten. Hier will ich noch einmal die Rolle der EU betonen. Die Menschenrechtsorganisationen in der Türkei sagen übereinstimmend, dass sie die EU-Beitrittsverhandlun­gen als historische Chance werten, die Menschenrechtslage zum Besseren zu wenden. Auch ich bin zu der Auffassung gelangt, dass gerade der Einfluss der EU für eine Verbesserung der Menschenrechtslage der wirksamste Faktor sein kann.

Das Gespräch führte Steffen Leidel

 

Liga-Intervention

Kritik an «Bild» wg Wahlkampf-Vergleichs

Der Bremer Publizist Gössner kritisiert einen in «Bild» gezogenen Vergleich zwischen den Friedensnobelpreis- Nominierungen von Kanzler Schröder und Carl von Ossietzky. Das sei «politisch geschmacklos», schreibt Gössner in der „Netzeitung“.

Der Bremer Publizist und Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte (ILMR), Rolf Gössner, hat die in «Bild» gezogene Parallele zwischen den Friedensnobelpreis- Nominierungen der Sozialdemokraten Gerhard Schröder und Carl von Ossietzky als «politische Geschmacklosigkeit» kritisiert. Während Schröder einen Wahlkampf führe, habe Ossietzky, als er 1935 für die Ehrung vorgeschlagen worden sei, im Konzentrationslager gesessen, so Gössner.

Zuvor hatte «Bild»-Kolumnist Hugo Müller-Vogg die Nominierung Schröders für den Friedensnobelpreis mit einer Nominierung Carl von Ossietzky in einen Zusammenhang gestellt. Der Wahlkämpfer Schröder werde von dem Schriftsteller Günter Grass unterstützt, der sich öf­fentlich dafür ausgesprochen habe, den Regierungschef mit dem Friedensnobelpreis zu ehren, schrieb Müller Vogg. Für diese «Wahlkampf­hilfe» gebe es «ein historisches Vorbild».

Noch weitere Unterschiede

Auch Ossietzky sei gefördert worden, so Gössner. Der Sozialdemokrat und spätere Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) habe sich für seine Nominierung eingesetzt, wie Brandt in einem später veröffentlichten Buch geschrieben habe. Ossietzky war 1935 jedoch von den Nazis inhaftiert. Er saß im Konzentrationslager.

Bei der Preiswürdigkeit Schröders und Ossietzkys bestünden noch weitere Unterschiede, sagte Gössner, der als ILMR-Präsident auch die jährliche Verleihung der Ossietzky-Medaille verantwortet. Im Gegensatz zum deutschen Regierungschef sei Carl von Ossietzky ein «konsequenter Friedensaktivist» gewesen, der kein Staatsamt innehatte, der «keinen Krieg mit­führte oder dazu Beihilfe leistete», schrieb Gössner unter Bezug auf das Engagement Deutschlands im >völkerrechtswidrigen Angriffskrieg< gegen Jugoslawien, im Anti-Terror-Krieg in Afghanistan oder die mit gewährten Überflugrechten indirekte Unterstützung des Irak-Krieges.          (nz)

Aus: Netzeitung       26.08.2005

http://www.netzeitung.de/medien/354852.html

http://www.netzeitung.de/deutschland/354850.html

«Bild»-Vergleich «politisch geschmacklos»

«Bild»-Kolumnist Müller-Vogg stößt mit einem Vergleich der Friedensnobelpreis-Nominierun­gen des Sozialdemokraten Schröder und Carl von Ossietzky auf Kritik. Eine «politische Geschmacklosigkeit», nennt das Publizist Rolf Gössner in seinem Beitrag für die Netzeitung.

Angesichts der Nominierung von Bundeskanzler Schröder (SPD) für den Friedensnobelpreis hat «Bild»-Kolumnist Hugo Müller-Vogg eine Parallele zur Nominierung Carl von Ossietzkys im Jahr 1935 gezogen. Der Wahlkämpfer Schröder werde von dem Schriftsteller Günter Grass unterstützt, der sich öffentlich dafür aussprach, den Regierungschef mit dem Friedensnobelpreis zu ehren, so Müller-Vogg.

Diese «Wahlkampfhilfe» habe «ihr historisches Vorbild». Auch Ossietzky sei gefördert worden, schreibt der Kolumnist. Der Sozialdemokrat und spätere Bundeskanzler Willy Brandt habe sich für seine Nominierung eingesetzt, wie Brandt in einem später veröffentlichten Buch auch zugegeben habe. Jedoch war Ossietzky 1935 von den Nationalsozialisten inhaftiert.

Müller-Voggs These von der «Wahlkampfhilfe» für Schröder widerspricht in der Netzeitung Rolf Gössner, Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, die auch die Ossietzky-Medail­le verleiht. Hier sein Beitrag:

„Die von Hugo Müller-Vogg in der Bild-Zeitung gezogene Parallele zwischen der Nominierung von Bundeskanzler Schröder für den Friedensnobelpreis 2005 und der des Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky in den 30-er Jahren ist nicht nur falsch, sondern an politischer Geschmacklosigkeit kaum zu übertreffen.

Gerhard Schröder befindet sich tatsächlich im Wahlkampf – Carl von Ossietzky befand sich während seiner Nominierung im KZ der Nazis. Hier von „Wahlkampf“ zu sprechen ist purer Zynismus zu Wahlkampfzwecken.

Deutschland war willfährig

Doch es gibt noch weitere Unterschiede, was die Preiswürdigkeit betrifft: Auch wenn Bundeskanzler Schröder und der rot-grünen Bundesregierung hoch anzurechnen ist, dass sie sich weigerten, am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak teilzunehmen, so hat er Deutschland doch zum ersten Mal nach 1945 in einen Krieg geführt – 1999 gegen Jugoslawien. Ein völkerrechts- und grundgesetzwidriger Angriffskrieg, der bis heute ungesühnt blieb.

Während des Irak-Kriegs zählte Deutschland zur Koalition der „Unwilligen“, war dann aber dennoch höchst willfährig: Mit Überflugrechten,
Awacs-Aufklärungsflügen und Logistikhilfe hat das von Schröder regierte Land tatkräftige Unterstützung und damit Beihilfe zu diesem Angriffskrieg geleistet.

Ossietzky war konsequent

Wenn man so mutwillig wie Müller-Vogg eine Parallele zwischen dem SPD-Kanzler und Carl von Ossietzky zieht, dann kann man zu dieser Art von „Friedensarbeit“ eines Gerhard Schröder nicht schweigen. Im Gegensatz dazu war Carl von Ossietzky ein konsequenter Pazifist, der kein Staatsamt bekleidet hatte, der keinen Krieg mitführte oder dazu Beihilfe leistete, sondern der als Repräsentant der Deutschen Liga für Menschenrechte und als Herausgeber der „Weltbühne“ für seine friedenspolitische, anti-mi­­litaristische und antinazistische Überzeugung kämpfte.

Kampagne aus dem Exil

Er ist dafür noch in der Nacht des Reichstagsbrandes 1933 von den Nazis verhaftet und ins Konzentrationslager verschleppt worden. Es waren unter anderem die ins Exil geflüchteten Mitglieder der verbotenen Liga, die ein Jahr später eine weltweite Kampagne zur Verleihung des Friedensnobelpreises an Ossietzky führten.

Gegen den wütenden Widerstand der Nazis wurde ihm schließlich 1936 diese internationale Auszeichnung für seine Friedensarbeit zuerkannt. Ossietzky blieb inhaftiert, konnte die Ehrung also nicht persönlich entgegennehmen. Er starb 1938 an den Folgen der erlittenen Misshandlungen in der KZ-Haft.“

Aus: Netzeitung             26.08.2005

Kooperationen & Aufrufe

Die Liga hat sich folgendem Appell aus Europa angeschlossen:

Für Frieden und Dialog im türkisch-kurdischen Konflikt

Immer noch harrt die kurdische Frage einer gerechten und demokratischen Lösung. Sie würde auch wesentlich zum Frieden im Mittleren Osten beitragen. Die wieder aufgeflammten Kämpfe in kurdischen Gebieten in der Türkei haben zu einer weiteren Verschärfung der gesellschaftlichen Probleme des Landes geführt. Es besteht die Gefahr einer weiteren Eskalation.

In dieser kritischen Situation übernahm eine Gruppe von türkischen Intellektuellen die Initia­tive und appellierte an die Konfliktparteien, sämtliche militärischen Auseinandersetzungen einzustellen und für eine vollständige Beendigung der Atmosphäre der Gewalt zu sorgen. Die türkische Regierung wurde des Weiteren aufgefordert, demokratische Schritte zur Lösung der kurdischen Frage zu unternehmen.

Inzwischen erkannte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in einer Rede, die er am 12. August in Diyarbakir nach einem Gespräch mit türkischen Intellektuellen hielt, die Existenz der kurdischen Frage an. In dieser Rede gestand er erstmals Fehler in der türkischen Politik und sprach sich dafür aus, eine Lösung der kurdischen Frage im Rahmen einer Ausweitung des demokratischen Reformprozesses anzustreben. Diesen Vorschlag halten wir für konstruktiv, da er die Chance bietet, eine Basis für eine Lösung zu schaffen.

Auch die kürzlich ausgerufene einmonatige Waffenruhe von Kongra-Gel ist in diesem Sinne als konstruktiver Beitrag zu einer friedlichen Lösung zu werten. Die vergangenen Jahre der blutigen Kämpfe und der Tränen haben gezeigt, dass sich die kurdische Frage nicht mit Gewalt lösen lässt. Diese Einsicht ist für eine Vertiefung des jetzigen Prozesses von Nöten, um letztendlich auf demokratischem Wege zu einem dauerhaften Frieden zu kommen.

Die genannten Entwicklungen in der Türkei geben Anlass zu der Hoffnung, die kurdische Frage in der Türkei könne in absehbarer Zeit gelöst werden. Damit dies nicht bei Worten bleibt wie oftmals in der Vergangenheit, bedarf es weiterer Schritte, die der Vertrauensbildung dienen müssen. Deshalb fordern wir als europäische Intellektuelle, Künstler, politisch aktive Menschen und Vertreter von zivilgesellschaftlichen Organisationen von beiden Konfliktparteien, dass diese alle notwendigen Schritte unternehmen, damit der sich anbahnende Friedensprozess nicht ins Stocken gerät. Die internationale Gemeinschaft bitten wir, solche Bemühungen unterstützend zu begleiten. 

·   Wir rufen die Konfliktparteien auf, den jetzigen Prozess im Geiste des Friedens, der Demokratie und der Menschenrechte zu entwickeln, damit aus der jetzigen Situation ein dauerhafter Frieden erwächst.

·   Die Europäische Union bitten wir, eine aktive Rolle zu übernehmen, um den für einen Friedensprozess notwendigen Dialog zu fördern,

und die internationalen Institutionen fordern wir zur Unterstützung aller der Kräfte und Institutionen in der Türkei auf, die mit ihrem Wirken zum Frieden und zur Demokratie beitragen.

Erschienen in „Le Monde“ vom 14.09.2005.

V.i.S.d.PG Prof. Dr. Andreas Buro, c/o Dialog-Kreis, Postf. 90 31 70, in 51124 Köln, Tel. 02203-126 76, e-mail: dialogkreis@t-online.de

Auszug aus der internationalen Unterstützerliste:

Danielle Mitterand, José Bové, Mahfoudh Romdhani, Vice- President of Brussels Parliament, Imre Kertesz  Nobel Prize Winner; Hans Branscheidt, Mezopotamian Development, Dr. Norbert Blüm former Employment Minister, Prof. Andreas Buro Coordinator, Dialog-Kreis, Prof. Frank Deppe, German Peace Society; Manfred Coppik, Rechtsanwalt und Notar, ehem. MdB, Hans-Peter Dürr Emeritus Professor, Max-Planck-Institut, Gabriele Gillen Author, Ulrich Gottstein Honorary Member, International Physicians for the Prevention of Nuclear War, Dr. Rolf Gössner President, International League for Human Rights, Günter Grass, Schriftsteller/Nobelpreisträger, Nina Hagen Singer/Artist, Dieter Hildebrandt, Kabarettist, Prof. Joachim Hirsch, Dr. Inge Jens, Prof. Dr. Walter Jens, Heiko Kauffmann Pro Asyl/Aktion Courage, Dietrich Kittner  Cabaret Artist; Hans Koschnik Former Mayor, Felicia Langer Author and Lawyer, Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr, Prof. Dr. Oskar Negt, Prof. Norman Paech, Peggy Parnass Journalist; Prof. Dr. Horst-Eberhard Richter, Prof. Dr. Roland Roth,  Dr. h.c. Herbert Schmalstieg, Oberbürgermeister von Hannover, Thomas Schmidt  General Secretary, European Association of Lawyers for Democracy and Human Rights, Dr Herbert Schnoor Former Vice-President and Interior Minister of Nordrhein-Westphalia, Prof. Dr. Eva Senghaas-Knobloch, Christa Stolle,  Terre des Femmes e.V., Prof. Dr. Klaus Traube, Günter Wallraff Author u.v.a.

 

Pressemitteilung vom 9. November 2005

Diffamierung europäischer Persönlichkeiten durch die türkische Zeitung Hürriyet

In einem „Appell aus Europa für Frieden und Dialog im türkisch-kurdischen Konflikt“ setzten sich  prominente Europäer für eine friedliche politische Lösung im Rahmen der Türkei ein. Seit September hat die Europa-Ausgabe der türkischen Zeitung Hürriyet eine regelrechte Kampagne gegen die Unterzeichner begonnen und ihnen die „Legalisierung des Terrors“ vorgeworfen.

Hürriyet – eine nationalistische Zeitung – hat schon in früheren Jahren – vergleichbare Diffamierungskampagnen gestartet u.a. gegen Gerhard Schröder, Dr. Herbert Schmalstieg (OB Hannover), Uta Zapf (MdB), die Grünen Chefin Claudia Roth und Dr. Klaus Bednarz. Erstaunlich ist, dass Hürriyet angesichts der Verhandlungen mit der EU auf solche Formen zurück greift.

Der ‚Dialog-Kreis‘ auf den der „Appell aus Europa“ zurückgeht, tritt nun in einem offenen Brief  den Vorwürfen entgegen.

Offener Brief an die Europa-Redaktion der Zeitung Hürriyet, 9. 11. 2005

Sehr geehrte Damen und Herren,

den „Appell aus Europa für Frieden und Dialog im türkisch-kurdischen Konflikt“ begleiten Sie in Ihrer Zeitung Hürriyet, bisher in 6 Ausgaben, mit der Herabsetzung der etwa 140 prominenten UnterzeichnerInnen aus vielen EU-Ländern.

Sie unterstellen den Unterzeichnern des Appells, „unter dem Begriff Dialog die Legalisierung des Terrors“ zu unterstützen. In Ihren Fragen an die UnterzeichnerInnen des Appells setzen sie die Kurden mit El Qaida gleich. Noch einmal fordern Sie die Unterzeichner auf nachzudenken, ob sie nicht mit oder ohne Wissen den Terror unterstützten.

Sie diffamieren in ihrer Ausgabe vom 2.11.2005 die Unterzeichner insgesamt unter der Überschrift „Schock-Namen“. Sie nennen unter anderen Danielle Mitterand, die Frau des früheren französischen Präsidenten, „die beste Freundin der Kurden(!)“, verunglimpfen den früheren Arbeitsminister Norbert Blüm, der es sich nach einem menschenrechtlichen Engagement in der Türkei in Deutschland gemütlich gemacht habe, nennen – wohl um bei Männern Gruseln zu erzeugen – Frau Christa Stolle von ‚Terre des Femmes‘, erwähnen den Nobelpreisträger Günter Grass und behaupten schließlich, die Mehrheit der Unterzeichner seien Priester, obwohl nur eine Handvoll Pfarrer unterschrieben haben. Vielleicht wollen Sie mit dieser falschen Behauptung den türkisch-stämmigen Leser­Innen Ihrer Zeitung suggerieren, es handele sich bei dem Friedens-Appell um einen Angriff des christlichen Abendlandes. Eine eindeutige Falschmeldung (...).

Unser Appell ist eine Unterstützung für eine friedliche Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts. Dafür sahen wir neue Hoffnungen nach einer Rede des türkischen Ministerpräsidenten in Diyarbakir und der Reaktion der kurdischen Guerilla durch einen begrenzten Waffenstillstand. Die EU fordern wir auf, den für den Friedensprozess notwendigen Dialog zu fördern und internationale Institutionen bitten wir um Unterstützung für alle, die in der Türkei zu Frieden und Demokratie beitragen. Wir fragen Sie. Warum sind Sie gegen Frieden in diesem Konflikt?

Sie glauben doch nicht ernsthaft, die Türkei könne EU-Mitglied werden, ehe sie nicht zu einer friedlichen Lösung im türkisch-kurdischen Konflikt gekommen ist. Wenn Sie also solche Bemühungen diffamieren, arbeiten Sie gegen den Beitrittswunsch der meisten Menschen in der Türkei.

Sie unterstellen den Unterzeichnern, unter ihnen auch Hans Koschnick, der in Mostar Hervorragendes für die Aussöhnung verfeindeter Bevölkerungsteile geleistet hat, sie wollten die „Legalisierung des Terrors“ unterstützen. Wie aber wollen Sie den blutigen Kampf in der Türkei und seine terroristische Verbreiterung verhindern, wenn nicht durch eine friedliche politische Lösung? Dazu müssen dann allerdings diejenigen, die mit einander kämpfen, einen Weg finden, gegenseitiges Vertrauen herzustellen und zu verstehen, welche Motive zum Kampf treiben. Das ist, wie das Beispiel Irland eindringlich zeigt, ein sehr mühsamer und schwieriger Weg. Ihn zu gehen ist allerdings unerlässlich, wenn dem eigenen Land nicht schwerer und dauerhafter Schaden zugefügt werden soll. Die Presse könnte dabei eine sehr wichtige Rolle zum Wohle der Türkei spielen. Sie verspielt jedoch ihre Chance hierzu, wenn sie nur in argumentationsloser Diffamierung ihrer potentiellen internationalen Friedenspartner verharrt (...).

Mit höflichen Grüßen     Prof. Dr. Andreas Buro,
Koordinator des Dialog-Kreises

***

Aufruf: Solidarität mit Kindern ohne Aufenthaltsstatus

Auch in Bonn leben Kinder ohne Aufenthaltsstatus. Kinder, die zu einem Leben in der Illegalität gezwungen sind. Kinder, die immer im Schatten leben müssen und von den Eltern aus Angst versteckt werden. Kinder, die keinen Kindergarten und keine Schule besuchen können, da die Eltern befürchten, der illegale Aufenthalt der Familie könne über den Kindergarten- oder Schulbesuch entdeckt und der Ausländerbehörde gemeldet werden. Kinder, die nicht die notwendigen medizinischen Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfungen bekommen, weil Eltern ohne Aufenthaltspapiere keine Krankenversicherung abschließen können.

Alle Kinder haben unabhängig vom Aufenthaltsstatus das Recht einen Kindergarten und eine Schule besuchen zu können.

Alle Kinder haben unabhängig vom Aufenthaltsstatus das Recht auf medizinische Versorgung.

Dieses Recht der Kinder auf Bildung und Gesundheit ungeachtet der Herkunft wurde in verschiedenen internationalen Konventionen wie der UN-Kinderrechtskonvention oder dem Haager Minderjährigenschutzabkommen verbrieft.

Wir fordern die Stadt Bonn auf, analog dem Beispiel von München und Freiburg folgende Maßnahmen zu beschließen:

·   Die Befreiung der Kindergartenträger und der Schulleiter nach dem Aufenthaltsstatus der Kinder fragen zu müssen.

·   Die Einrichtung eines Fonds für nichtversicherte Kinder, aus dem die Vorsorgeuntersuchungen, die Schutzimpfungen und bei Krankheit die notwendigen Behandlungen bezahlt werden.

·   Sich dem „Manifest illegale Zuwanderung – für eine differenzierte und lösungsorientierte Diskussion“ anzuschließen, das schon von fast 400 Personen, Organisationen und Institutionen mitgetragen wird.

(Erst-)Unterzeichner:

Pfr. José Antonio Arzoz (Nationaldelegat für die spanischsprachige katholische Seelsorge in Deutschland)

Sigrid Becker-Wirth, MediNetzBonn (Medizinische Vermittlungsstelle für Flüchtlinge, MigrantInnen und Menschen ohne Papiere)

Dr. Hidir Celik, BIM e.V. (Bonner Institut für Migrationsforschung und interkulturelles Lernen)

Bernhard „Felix“ von Grünberg, SPD

Jenny Dörnemann, Ärztin

Gert Eisenbürger, ila e.V. (InfoStelle Lateinamerika)

Dr. Rolf Gössner, Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Berlin

Ulrich Hauke (Rechtshilfefonds für AusländerInnen)

Dieter Müller SJ (Leiter, Jesuiten-Flüchtlingsdienst)

Kai Pflaume (AKTION COURAGE e.V.)

Siegfried Pater, Journalist

Lothar Strunk (Migrationsdienste DRK-KV Bonn e.V.)

sowie weitere Bürgerinnen und Bürger

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 „Freiheitsrechte achten statt ächten“

Appel von Bürgerrechtsorganisationen zur Bundestagswahl 2005

Wahlkampfzeiten laden dazu ein, Grenzen des Bestehenden zu überschreiten und neue Lösungen zu propagieren. Es ist aber zutiefst beunruhigend, dass Politikerinnen und Politiker fast aller Parteien in Deutschland mit Forderungen Pluspunkte zu sammeln versuchen, die auf den Abbau von Grundrechten zielen. Offenbar sind unter dem Eindruck der jüngsten Terrorakte jegliche Maßnahmen diskutabel, die der verunsicherten Bevölkerung ein trügerisches Gefühl von Sicherheit geben sollen. Doch zu welchem Preis?

So wird z.B. die von der CDU schon seit der Debatte um das Zuwanderungsgesetz geforderte prä­entive Sicherungshaft mit Beginn des Wahlkampfes auch in der SPD befürwortet. Sicherungshaft bedeutet eine monatelange Inhaftierung von Menschen, die nicht unter dem Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, sondern eine solche irgendwann eventuell zu begehen. Nicht nur, dass derartige Maßnahmen eklatant verfassungswidrig sind. Bemerkenswert ist auch der Anlass dieser Forderung. Ausgerechnet die Londoner Anschläge im Juli 2005 sollen hierfür als Rechtfertigung dienen, obwohl doch die Existenz der Vorbeugehaft in Großbritannien diese Anschläge gerade nicht verhindern konnte. Das u.a. aus den Erfahrungen mit der Schutzhaftpraxis der Gestapo gewonnene verfassungsrechtliche Minimum, dass Freiheitsentziehungen gerichtlich überprüfbar sein müssen, versucht der Bundesinnenminister dabei als besonders rechtsstaatliches Zugeständnis zu verkaufen. Tatsächlich wird eine gerichtliche Kontrolle aber umso wertloser, je unbestimmter die gesetzlichen Voraussetzungen sind.

Auch die Erschießung eines vermeintlichen Terrorverdächtigen in London, der sich nach der Tötung durch fünf Kopfschüsse aus nächster Nähe als vollkommen unschuldiger Bürger entpuppte, hat nicht zu der Erkenntnis geführt, dass Erschießungen auf Verdacht mit dem untragbaren Risiko verbunden sind, dass Unschuldige sterben. Im Gegenteil wurde dieser Vorfall zum Anlass genommen, eine derartige Praxis auch in Deutschland einführen zu wollen. Anstatt aber einen Zuwachs an Sicherheit zu bringen, wird durch die Erschießungsbefugnis Angst und Schrecken verbreitet. Denn jeden, der sich „verdächtig“ verhält, könnte es treffen.

Ein weiterer „Klassiker“ aus dem Bereich der markigen Forderungen ist der Ruf nach einem Einsatz der Bundeswehr im Inland. Soll diese z.Z. „nur“ als Objektschutz und als Antiterroreinheit aktiv werden, könnte die dafür notwendige Grundgesetzänderung einen weiten Ein­satzrahmen eröffnen. Darüber hinaus bleibt unklar, wie eine auf die Vernichtung eines militärischen Gegners ausgerichtete Armee im zivilen Bereich polizeiliche Aufgaben – wie das Verhindern von Straftaten – übernehmen soll, ohne der Bevölkerung das Gefühl zu geben, im permanenten Kriegszustand zu leben.

Im Gegensatz zur Militarisierung des Alltags nimmt sich der Vorschlag, die Kompetenzen des Bundeskriminalamtes in der vorbeugenden Ver­brechensbekämpfung zu erweitern, auf den ersten Blick harmlos aus. Im Kontext der verstärkten Zusammenarbeit von Geheimdiensten und Polizei kann dies jedoch zu einer Machtkonzentration führen, die der Grundgesetzgeber aus triftigen historischen Gründen verhindern wollte.

Diese Beispiele aus der letzten Zeit verdeutlichen eine fatale Politik, die mit immer neuen Vorschlägen immer weiter gehende Grundrechtseinschränkungen propagiert, ohne dass damit ein Sicherheitsgewinn tatsächlich zu erreichen wäre. Beunruhigend ist dabei vor allem, dass derart intensive Eingriffe in die Freiheit jedes und jeder Einzelnen keine nennenswerte Ablehnung in der Bevölkerung hervorrufen. Es ist zu vermuten, dass eine breite Mehrheit der Menschen solche Maßnahmen nicht als Bedrohung empfindet, weil sie scheinbar nur Minderheiten treffen. Doch Ideen wie die vorsorgliche Speicherung sämtlicher Daten von Telefon- und Internetverbindungen zeigen, dass alle Menschen Ziel von Überwachungs- und „Antiterrormaßnahmen“ werden können.

Der Wert des Rechtsstaates liegt gerade darin, dass er in Krisenzeiten seine Prinzipien bewahrt. Die unterzeichnenden Organisationen rufen daher die Bürgerinnen und Bürger dazu auf, ihre Freiheiten nicht einem vermeintlichen Sicherheitsgewinn zu opfern, sondern diese auch in schwierigen Zeiten einzufordern.

Unterzeichnende Organisationen:

Arbeitskreis kritischer juristinnen und juristen, Berlin (Michael Plöse) Humanistische Union, Berlin (Martina Kant) Internationale Liga für Menschenrechte e.V., Berlin (Rolf Gössner) Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V. (RAV), Berlin (RA Hannes Honecker) Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. (VDJ), Berlin (RA Christian Fraatz).

 

Nachrufe

 

Annemarie Friedrich

Die Liga trauert mit den Mitgliedern der Bürgerinitiative Freie Heide um Annemarie Friedrich. Wir erinnern uns gut an die lebhafte Rede, die Annemarie Friedrich als „Großmutter der FREIen HEIDe“ anlässlich der Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille im Berliner Haus der Kulturen der Welt gehalten hat. Es war im Dezember 2003 und die Zuhörer und Zuhörerinnen konnten spüren, dass ihr Einsatz gegen die militärische Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide, aber auch ihre Hoffnung auf Erfolg dieses Widerstands ungebrochen waren.

In ihrem Sinne, so lesen wir in den Nachrufen, will die Bürgerinitiative weiter kämpfen. Wir wünschen der FREIen HEIDe – gerade in der gegenwärtig prekären Situation – weiterhin einen langen Atem in ihrem Engagement für den Frieden und für eine ausschließlich zivile Nutzung der Heide.

Jürgen Seifert

Ein herausragender Mitstreiter in Sachen Bürgerrechte ist tot. Der Politologe Prof. Dr. Jürgen Seifert (Hannover) war eine der prägenden Persönlichkeiten der Bürgerrechtsbewegung in der Bundesrepublik. Er stritt gegen die atomare Aufrüstung, engagierte sich gegen die Notstandsgesetze, gegen Berufsverbote, gegen eine neue Geheimpolizei und den Großen Lauschangriff. Er gehörte zu den Gründern und Vorstandsmitgliedern einiger renommierter Bürgerrechts- und Anwaltsvereinigungen, u.a. der Hu­manistischen Union und des RAV, und er war Mitglied der G-10-Kommission des Bundestages zur Kontrolle der Geheimdienste. Alle, die in seinem Sinne weiter für Bürger- und Menschenrechte streiten, werden ihn vermissen.      R.G.

 

Termine – Veranstaltungen

Jeden letzten Donnerstag im Monat findet jeweils um 19 Uhr im Haus der Demokratie u. Menschenrechte Berlin, Robert-Havemann-Saal, Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin, eine

„Republikanische Vesper“

statt – mit Käse/Brot -Wein/Wasser.

Veranstalter:

Ossietzky“ , Internationale Liga für Menschenrechte, Humanistische Union

Am 24. November 2005, 19 Uhr

zum Thema: Schulfach „Lebensgestaltung,
Ethik, Religionskunde“ (LER),
das 2006 an den Berliner Oberschulen eingeführt werden soll. Dadurch sehen die Kirchen die Religionsfreiheit verletzt.

Republikanische Vespern

Die Republikanische Vesper war auch in den letzten Monaten ausgesprochen spannend. Ein Schwerpunkt war das herrschende Privatisie­rungsunwesen. Seine Folgen wurden in zwei Veranstaltungen beleuchtet, die eine über Privatisierung diverser Sicherungsaufgaben, die andere zu der, weiter als von den meisten geahnt, fortgeschrittenen Privatisierung der Knäste. Eine Vesper beleuchtete die bestehende Praxis der Abschiebung und der Aberkennung des Asylstatus’ konkret am Beispiel der in Deutschland lebenden afghanischen Staatsbürger und den Zuständen in Afghanistan. Bei einer weiteren Vesper ging es um die Kinderarmut in Berlin. Bei dieser Gelegenheit machten wir übrigens die Bekanntschaft mit „Der Arche“, die zu deren Nominierung für die Carl-von-Ossietzky-Medaille führte. Bei der letzten Vesper ging es um die Gefahr eines Krieges im Iran. Den Abschluss in diesem Jahr bildet, im November, eine Veranstaltung über die Einführung eines „Werteunterrichts“ neben dem Religionsunterricht an den Berliner Schulen.

Die mit den Einführungsbeiträgen beauftragten Referenten besitzen immer eine besondere Sachkenntnis. Die ganz besondere Qualität der Vesper macht für mich aber aus, dass ein jeweils wechselnder Teil des Publikums eine berufliche oder sonstige enge Beziehung zu der behandelten Thematik hat.

Zur Erinnerung: Die Republikanische Vesper ist eine von der Redaktion von Ossietzky, der Humanistischen Union, dem Republikanischen Anwaltsverein und der Liga getragene Veranstaltungsreihe, die jeweils am letzten Donnerstag des Monats um 19 Uhr im Haus der Demokratie stattfindet. Sie verdient weit größere Aufmerksamkeit.                                      

Kilian Stein

Die Topographie des Terrors

„Topographie des Terrors – verschleppt, vergessen, ignoriert“, „Das Elend der Berliner NS-Gedenkstätten“, „Streit um Berliner NS-Ge­denkstätten“, „Beredte Brache“, „15 Millionen in den Berliner Sand gesetzt“, „Topographie verzögert sich“.

Die Schlagzeilen sind verklungen, die Marmortürme sind gesprengt, Statements geschliffen, ein neuer Anlauf wird versucht. Die Unterlagen der Neu-Ausschreibung wurden von rund 600 Interessenten angefordert, aus 300 Einsendungen wurden 25 durch die Jury ausgewählt, eine Entscheidung soll im Frühjahr 2006 fallen. Das „BKM“ hat zugesagt, dass keine Entscheidung gegen den Willen der „Topographie des Terrors“ gefällt werden und das Mitspracherecht der Gremien respektiert werden solle.

Es bleibt die Hoffnung, dass eine akzeptable Gedenkstätte aus dem Vergangenheitsgeröll entstehen kann, nach den 25 Jahren, in denen die Liga sich intensiv mit dem Thema Gestapogelände beschäftigt hat.

Die bisherige Ausstellung im Graben an der Niederkirchner Straße bleibt erhalten und weiterhin geöffnet (täglich 10 – 18 Uhr). Im Freien hinter dem Eingangsgebäude die neue Ausstellung „Das Hausgefängnis der Gestapo – Zentrale in Berlin. Terror und Widerstand 1933 – 1945.“ Am Bauzaun auf dem Gelände die gleichfalls neue Ausstellung „ Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß.“ Täglich 10 – 18 Uhr.                                 

Marianne Reiff-Hundt

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Sehenswerte Ausstellungen:

Im Nationalsozialismus verfolgte Berliner Stadtverordnete und Magistratsmitglieder 1933 - 1945“

Eine Ausstellung des Vereins Aktives Museum

30.9.- 30.11. Berliner Rathaus, Mo-Fr 9–18 Uhr

Diese Ausstellung dokumentiert anhand von 323 ausgewählten Biografien mit persönlichen Zeugnissen, Bildern und Dokumenten die Lebenswege von Parlamentariern, die aus ganz unterschiedlichen Gründen verfolgt wurden, ins Exil gingen oder haft und Tod erleiden mussten. Sie zeigt exemplarisch auch, wie die Parlamentarische Demokratie in Deutschland 1933 zerstört wurde.

 

Sonderausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand

„Warschau – Hauptstadt der Freiheit“

Der Warschauer Aufstand
August bis Oktober 1944“

Mo-Mi, Sa 9–18 Uhr, Do 9-20 h, Sa, So 10-18 h

Bis 31.12.2005

“Judentransporte aus dem Deutschen Reich, eine Chronologie”

Neue ständige Ausstellung im Deutschen Technikmuseum

„Hier war das ganze Europa“

Überlebende des Konzentrationslagers Sachsenhausen in der Europ. Nachkriegspolitik

Ausstellung im Neuen Museum Sachsenhausen, tägl. außer Montag von 8 Uhr 30 bis 16 Uhr 30

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Veranstaltungen mit Rolf Gössner

November/Dezember 2005

19.11., 13.30 h Stuttgart: Migranten unter Generalverdacht? Arbeitskreis Asyl Baden-Württemberg

21.11., 20 h Frankfurt/M.: Zwischen Verharmlosung und Überreaktion – Zum widersprüchlichen Umgang mit Neonazi-Aufmärschen und Gegendemonstrationen, Club Voltaire, Kleine Hochstraße.

12.12., 19 h Hannover: Staatliche Übergriffe auf Medien, dju-IG Medien, Cafe Konrad, Hannover

 


Literaturhinweise

Dokumentationen zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille 2003 an die BI „Freie Heide“ und Dr. Gerit von Leitner sowie 2004 an Percy MacLean,  Esther Bejarano, Peter Gingold und Martin Löwenberg sind über das Liga-Büro zu erhalten - mit den Eröffnungsreden, den Laudationes und Dankesreden.

Zu beziehen über: Liga-Büro (ab Dezember).

Bürger-/Menschenrechte/Überwachungsgesellschaft

Fredrik Roggan (Hg.),

LAUSCHEN IM RECHTSSTAAT

Zu den Konsequenzen des Urteils des Bundesverfassungsgericht zum großen Lauschangriff,

Gedächtnisschrift für Hans Lisken, BWV-Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2004, 127 S., 14,80 €

Mit Beiträge u.a. von Erhard Denninger, Burkhard Hirsch, Martin Kutscha, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Fredrik Roggan, Edda Wesslau.

Im Jahre 2004 hat das Bundesverfassungsgericht den "Großen Lauschangriff" - also das heimliche Lauschen mit elektronischen Wanzen in Wohnungen - für weitgehend verfassungswidrig erklärt. Darauf musste der Gesetzgeber reagieren - entweder, indem er diese umstrittene Möglichkeit aus rechtsstaatlich-bürgerrecht­lichen Gründen ganz fallen lässt, oder aber indem er das Gesetz entsprechend den verfassungsrechtlichen Kriterien "nachbessert". Die rot-grüne Bundesregierung hat auf eine "Nachbesserung" gesetzt, die - so umstritten sie auch ist - inzwischen vom Bundestag verabschiedet worden ist. Der CDU geht dieses Gesetz nicht weit genug; die FDP, die ursprünglich für die verfassungswidrige Variante zusammen mit der CDU/CSU mitverantwortlich war, möchte inzwischen völlig von diesem Ermittlungsinstrument Abschied nehmen.

In dem vorliegenden Buch von Fredrik Roggan werden die Konsequenzen der Verfassungsgerichtsentscheidung von 2004 für das Recht der "Inneren Sicherheit" untersucht. Dabei zeigt sich nach Auffassung der Autorinnen und Autoren, dass die Bedeutung der Entscheidung in vielerlei Hinsicht über ihren Anlass, also über den Großen Lauschangriff, hinausreicht. Das Sicherheitsrecht insgesamt bedarf einer Anpassung an die Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts. Dafür liefern die Beiträge reichlich profunde Argumente.

AStA Fachhochschule Münster (Hg.),

ALLE REDEN VOM WETTER. WIR NICHT.

Beiträge zur Förderung der kritischen Vernunft,

Westfälisches Dampfboot, Münster 2005, 204 S., 15,90 €

In diesem Buch wird eine Veranstaltungsreihe an der Fachhochschule Münster aus dem Jahre 2004 dokumentiert. Die Beiträge "zur Förderung der kritischen Vernunft" beschäftigten sich mit höchst unterschiedlichen Themenstellungen. AutorInnen u.a.: Freek Huisken, Anne Jung, Ilka Schröder, Fritz Storim, Ingrid Strobl. Rolf Gössner: Überwachung ohne Grenzen - Zur Entwicklung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems.

Müller-Heidelberg/Finckh/Steven/Habbe/ Micksch/Kaleck/Kutscha/Gössner/Schreiber (hg)

GRUNDRECHTE-REPORT 2005 -

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

Fischer Taschenbuch Verlag in der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/M. 2005

255 Seiten, ISBN: 3-596-16695-0; 9,90 €

www.grundrechte-report.de

Am 23. Mai, dem Tag des Grundgesetzes, erschien der neue „Grundrechte-Report 2005“ im Fischer-Verlag, Frankfurt/M. Diese jährlich erscheinende Buchpublikation wird von renommierten Bürgerrechtsorganisationen (Humanistische Union, Gustav-Heinemann-Initiative, Ko­mitee für Grundrechte und Demokratie, Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, Pro Asyl, Republikanischer Anwältinnen- und Anwaltsverein, Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen) herausgegeben. Inzwischen gehören auch die Internationale Liga für Menschenrechte und die Neue Richtervereinigung zum Herausgeberkreis.

Der Report ist erstmals 1997 als eine Art „alternativer Verfassungsschutzbericht“ erschienen. Er spiegelt ein breites Spektrum der deutschen Bürgerrechtsbewegung wider und gibt einen guten Überblick über die „Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“. In diesem Jahrbuch wird anhand zahlreicher aktueller Fälle dokumentiert, wie im Namen des Anti-Terror-Kampfes, im Namen der Sicherheit und umstrittener Sparzwänge Menschenwürde und Menschenrechte zur Disposition stehen. Auch in diesem Jahr berichtet der Report von Grundrechtsverstößen durch die Polizei und andere Behörden, er macht aufmerksam auf Fälle der Missachtung der Verfassung durch das Parlament und informiert über Defizite im gerichtlichen Grundrechtsschutz.

Ein Schwerpunkt dieses Bandes ist neben der expandierenden Überwachung die kritische Auseinandersetzung mit dem Abbau des Sozialstaates durch „Hartz IV“ und andere Arbeitsmarktgesetze. Gesellschaftliche Solidarität ist kein Luxus für die Zeiten des Überflusses, sondern Verpflichtung, die aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde jedes und jeder Einzelnen folgt. Die Entwicklung des Sozialstaats, aber auch die Asyl- und Ausländerpolitik in unserem Land machen eines ganz deutlich: Wie die staatlichen Institutionen den Schwächsten –
asylsuchenden, armen, aber auch alten Menschen – gegenübertreten, bleibt wichtiger Grad­messer für den Zustand von Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland.

Videoüberwachung am Arbeitsplatz, der „große Lauschangriff“ auf die Privatwohnung und im Straßenverkehr die automatische Erkennung von Autokennzeichen – geht die Privatsphäre in allen Lebensbereichen Stück für Stück verloren? Wie viel Sozialstaat bleibt, wo „Hartz IV“ Arbeitszwang verordnet und die neue Sozialhilfeberechnung die Existenzsicherung erschwert?  Gilt der Schutz der Menschenwürde noch absolut, wenn das Abschießen entführter Passagierflugzeuge erlaubt ist und das Folterverbot gelockert werden soll?

Diesen und anderen Fragen geht dieses Buch nach. In Zeiten, die geprägt sind von terroristischer Bedrohung und wirtschaftlicher Krise, ist der wachsame und kritische Blick auf die Lage der Grund- und Menschenrechte in Deutschland nötiger denn je. Indem das Buch Demokra­tiedefizite deutlich herausstellt und Maßnahmen zu ihrer Beseitigung vorschlägt, liefert es einen engagierten Beitrag zur Demokratisierung.

Pär Ström, DIE ÜBERWACHUNGSMAFIA.
Das gute Geschäft mit unseren Daten,

Hanser-Verlag, München 2005, 340 S.

Dieses Buch des schwedischen Informationstechnologen Pär Ström zeichnet den Weg in die Kontrollgesellschaft und den Überwachungsstaat nach und gibt Anregungen, wie die Betroffenen sich dagegen wehren können.

Ver.di (Hg.),
DIE VERGESSENEN OPFER des Kalten Kriegs

Begleitheft zur Ausstellung: Hier besteht Handlungsbedarf! Die vergessenen Opfer des Kalten Krieges. Erinnerungsarbeit gegen den Trend.

Hrg. ver.di Fachbereich Medien, Kunst und Industrie Berlin-Brandenburg, Berlin 2005

Bezug (2,50 €): Medien Galerie, Dudenstr. 10, 10965 Berlin, galerierat@mediengalerie.org; www.mediengalerie.org

In der Ausstellung und dem vorliegenden Begleitheft geht es um die Justizopfer der Kommunistenverfolgung in den 50er und 60er Jahren der alten Bundesrepublik. Es werden einzelne Schicksale vorgestellt (Porträts), ebenso Anwälte, die in Kommunistenverfahren verteidigten sowie die Initiativgruppe für die Rehabilitierung der Opfer des Kalten Kriegs. Das Begleitheft enthält auch drei Vorträge von Heinrich Hannover, Rolf Gössner und Franz Kersjes.

Bischoff/Burkhardt/Cremer/Gerntke/Gössner/ Rock/Steffen/Walter,

SCHWARZBUCH ROT-GRÜN

Von der sozial-ökologischen Erneuerung zur Agenda 2010

144 Seiten; 11,80 Euro; sFr 21,40

http://www.vsa-verlag.de/books.php?kat=ap&isbn=3-89965-137-5

In diesem Buch wird Bilanz gezogen – eines gescheiterten Projekts auf den Politikfeldern:

Innen & Recht, Außen & Militär, Wirtschaft & Steuern, Arbeitsmarkt, Gesundheit & Soziales, Renten. Darin auch ein Aufsatz von Rolf Gössner: >Sieben magere Jahre für die Bürgerrechte Rot-Grün hat sich um den Ausbau des Kontrollstaates "verdient" gemacht<.

Migration/Asyl

„Hier geblieben! Es gibt keinen Weg zurück.”

Infoblatt von PRO ASYL zur Kampagne von GRIPS ­Theater Berlin, PRO ASYL, GEW Berlin und Flüchtlingsrat Berlin. Hrsg. PRO ASYL; Frankfurt Main, September 2005, Tel.: 069/ 23 06 88, Fax: -50, www.proasyl.de, proasyl@proasyl.de, www.hier.geblieben.net

Fortsetzung der Kampagne „Hier geblieben!“

GRIPS–Theater, Flüchtlingsrat Berlin und PRO ASYL haben sich entschlossen, die Kampagne weiter fortzusetzen. Dazu werden die Unterrichtsmaterialien überarbeitet und ab Oktober über PRO ASYL (gedruckt und auf CD­ROM) von interessierten Schulen zu bestellen sein. Gleiches gilt für einen Film (DVD) über den bisherigen Verlauf der Kampagne (ca. 25 min, Zeitraum April – Juni 2005). PRO ASYL hat einen aktuellen Flyer zur Kampagne mit einer Bestellliste für die Unterrichtsmaterialien herausgegeben.

Die Jugendlichen der Bleiberechtsinitiative Junger Flüchtlinge bereiten mit Unterstützung des GRIPS-Theaters, des Flüchtlingsrates und des BBZ einen Kongress von Kinder und Jugendlichen vor, der parallel zur nächsten Innenministerkonferenz in Karlsruhe (08./09. Dezember 2005) stattfinden soll. Kinder und Jugendliche aus den einzelnen Bundesländern werden als „Botschafter“ dazu eingeladen.

Das Theaterstück „Hier geblieben“ geht Ende Oktober /Anfang November wieder auf Tournee und wird auch zur IMK in Karlsruhe zu sehen sein. Außerdem kann die Ausstellung mit den Ansichtskarten der Schülerinnen und Schüler bei Bedarf ausgeliehen werden. Die Ausstellung wird weiter ergänzt, es gehen nach wie vor neue Karten im GRIPS – Theater ein. Vor den Bundestagswahlen hat das Aktionsbüro im GRIPS – Theater eine Rundmail an alle Kandidaten gesandt und um Unterstützung und Stellungnahme im Sinne der Kampagne gebeten. Ca. 40 Bundestagskandidaten verschiedener Parteien sandten eine Antwortmail zurück. Außer den Vertreter/innen der CDU/CSU stimmten die Politiker im wesentlichen dem Anliegen der Bleiberechtsforderungen zu. Als Gegenargument wurde u.a. aus der CDU – Geschäftsstelle der Vorwurf des „selbst verschuldeten“ langen Aufenthalts gebracht. Weitere Infos: www.hier.geblieben.net

Memorandum zur derzeitigen Situation des deutschen Asylverfahrens; Hrsg.: amnesty international, AWO Bundesverband, AG Ausländer­und Asylrecht im Deutschen Anwaltsverein, Paritä­tischer Wohlfahrtsverband, Diakonisches Werk der EKD; Neue Richtervereinigung, PRO ASYL, Republikanischer AnwaltInnenverein., Bezug über PRO ASYL, Frankfurt Main, Juni 2005

Widerrufsverfahren: Flüchtlingsschutz mit Verfallsdatum? Vom beschämenden Umgang deutscher Behörden mit verfolgten Menschen. Zahlen, Fakten & Hintergründe, Rechtliche Grundlagen, Praktische Erfahrungen. Broschüre, Hrsg. PRO ASYL, Frankfurt/Main, August 2005

Flüchtlingsrat, Sonderheft 110: Ausgelagert. Exterritoriale Lager und der EU -Aufmarsch an den Mittelmeergrenzen, Hrsg.: Flüchtlingsrat Niedersachsachsen, Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM), Komitee für Grundrechte und Demokratie, Redaktionsanschrift und Bezug: Förderverein Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V., Langer Garten 23b, 31137 Hildesheim, Tel.: 05121/ 316-00, Fax: -09 redaktion@nds-fluerat.org, ISBN 1433-4488, September 2005 Flüchtlingsräte zur Bundestagswahl 2005. Flüchtlinge haben keine Wahl. Hrsg.: Flüchtlingsräte Baden-Württem­berg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vor­pommern, Niedersachsen, NRW, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und AK Asyl Rheinland-Pflalz, erscheint u.a. als Heft 32 des Magazins “Der Schlepper”, Bezug über FR Schleswig-Holstein, Oldenburger Strasse 25, 24143 Kiel, Tel.: 0431/ 735 000, office@frsh.de,

www.frsh.de/schlepp.htm, Sommer 2005

 

„Recht auf alles“?

Oliver Neß belebt Debatte
um das „Menschenrecht auf Entwicklung“

Der Diplompolitologe und Fernsehjournalist Oliver Neß hat mit seinem Buch „Das Menschenrecht auf Entwicklung“ offenbar erfolgreiche Überzeugungsarbeit geleistet. Jedenfalls konnte er einen „notorischen“ und international profilierten Kritiker des „Rechts auf Entwicklung“ zum Überdenken seiner Position bringen: Franz Nuscheler, Professor für Politische Wissenschaft an der Gesamthochschule Duisburg und renommierter Ent­wicklungstheoretiker, bescheinigte Oliver Neß in seinem einleitenden Beitrag, dass er klug und überzeugend argumentiere. Nuscheler begrüßt ausdrücklich, dass es wieder einen Streit um ein umstrittenes „Recht auf alles“ gebe, das Oliver Neß ganz anders deute. Gerade diese Deutung macht neugierig. 

3. Menschenrechtsgeneration ohne Gewähr?

Was ist das eigentlich, ein „Menschenrecht auf Entwicklung“? Wenn wir von Menschenrechten reden, dann denken wir in erster Linie an die klassischen politischen Freiheitsrechte, die als Abwehrrechte des Einzelnen gegen Eingriffe staatlicher Gewalten konzipiert sind. Doch diese Ursprungskonzeption der Menschenrechte hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts erweitert – eine Antwort auf die existentiellen sozialen Folgen der industriellen Revolution. Der klassische Menschenrechtskatalog ist folgerichtig ergänzt worden durch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Solidarrechte. Beide Menschenrechtsdimensionen erfuhren längst universelle Anerkennung und mit den UNO-Pakten auch eine Verankerung im internationalen Rechtssystem.

Allerdings konnte die Durchsetzung dieser Rechte nicht mit der Normen-Entwicklung Schritt halten – wir spüren dieses Missverhältnis immer wieder, tagtäglich zeugen die Nachrichten aus aller Welt davon. Das gilt in besonderem Maße für die dritte Generation, zumal deren Normqualität im bestehenden Völkerrecht überaus umstritten ist. Jedenfalls sind die Rechte dieser Dimension nicht einklagbar. Sie umfasst Forderungen nach Frieden, Entwicklung, Umweltschutz und Gesundheit sowie das Recht auf Ernährung und Bildung, auf humane Arbeitsbedingungen und ein menschenwürdiges Leben. Diese neue Menschenrechtsdimension ist als Reaktion zu verstehen auf die immensen Herausforderungen, die mit der forcierten Globalisierung nahezu sämtlicher Lebens- und Gesellschaftsbereiche einhergehen. Sie ist zu verstehen als notwendige Konsequenz aus einem der zentralen Menschheitsprobleme: dem Nord-Süd-Konflikt, der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich, einer sich dramatisch verschlechternden ökonomischen und sozialen Lage in den meisten Entwicklungsländern. Daraus leitet das Recht auf Entwicklung, so schreibt Oliver Neß (S. 134), einen verbindlichen Anspruch für marginalisierte Menschen und Völker ab, sich sozial, wirtschaftlich und kulturell entwickeln zu können und an einer Entwicklung teilzuhaben, in der alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll verwirklicht werden können. Das Konzept dieses „Rechts auf Rechte“, das erstmals 1977 im Rahmen der UNO diskutiert wurde, ist afrikanischen Ursprungs. Politischer Hintergrund: das Ringen der Entwicklungsländer ("Länder des Südens") um eine neue Weltwirtschaftsordnung.

„Wunschzettel auf alles Schöne und Gute“?

Über Sinn und Unsinn dieses Rechts wird seitdem trefflich gestritten. Franz Nuscheler hat sich bereits in den 90er Jahren dagegen ausgesprochen: „Ein ‚Recht auf alles’, das von keiner Staatengruppe und von keiner Person, die von Entwicklung ausgeschlossen ist, eingeklagt werden kann, ist wenig wert und sollte nicht mit dem hohen Anspruch eines ‚unveräußerlichen Menschenrechts’ geschmückt werden.“ Auf diese Weise würden Menschenrechte verwässert, zu einem „Wunschzettel auf alles Schöne und Gute in der Welt“ entwertet. Eine durchaus bedenkenswerte Position.

Franz Nuscheler gibt auch zu bedenken, dass die westlichen Industriestaaten dem Recht auf Entwicklung während der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz 1993 nur zugestimmt haben, weil niemand aus ihm rechtliche Verpflichtungen ab­leiten kann, weil alle jegliche Leistungsver­pflichtung jenseits der freiwilligen Entwicklungshilfe ablehnen. Nuscheler fragt daher konsequenterweise: „Wie viel wert ist es dann?“

Demgegenüber begründet Oliver Neß (S. 135 f.), dass dem Recht auf Entwicklung eine ganz besondere Bedeutung als „moralischer Imperativ“ und ethisches Fundament einer kooperativen internationalen Strukturpolitik zukomme. So gesehen könnte man diese Fundierung auch als menschenrechtliche Begründung des Konzepts von Global Governance auffassen. Damit sollen neue multilaterale Kooperationsformen und Netzwerke auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene entwickelt werden – ausgehend von der Erkenntnis, dass vielfältige Probleme wie Armut, soziale Unsicherheit, Umweltzerstörung und ökonomische Instabilität nicht mehr von Nationalstaaten im Alleingang bewältigt werden können. Aber Neß geht noch weiter: Er versteht das Recht auf Entwicklung als einen wesentlichen – weil zeitgemäßen – Beitrag zur „Vervollkommnung“ des internationalen Menschenrechtssystems, zur „normativen Verdichtung im Völkerrecht“ und darüber hinaus als eine „adäquate Reaktion auf zugespitzte Überlebensbedingungen“ (S. 141) sowie als notwendiges „sozialpolitisches Korrektiv der neoliberalen Globalisierung“.

Wiederbelebung einer notwendigen Debatte

Folgt man der Argumentation von Oliver Neß, so ließe sich das Recht auf Entwicklung als materiell-rechtliche Fundierung der sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte sowie der klassisch-politischen Freiheitsrechte begreifen (S. 136). Denn tatsächlich lassen sich systematische Menschenrechtsverletzungen, wo immer sie passieren, nicht nachhaltig bekämpfen, wenn man sie nur als Symptome begreift und behandelt, nicht aber die Ursachen und Bedingungen angreift und beseitigt, die für solche Rechtsverletzungen verantwortlich sind. Hier könnte ein Menschenrecht auf Entwicklung ursachenorientiert und nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit ansetzen und den Staaten sowie der internationalen Gemeinschaft Verpflichtungen auferlegen, die zu menschenwürdigen Bedingungen beitragen. Utopischer Idealismus?

Die vorliegende Studie ist schon deswegen verdienstvoll, weil sie die eingeschlafene Debatte um die Menschenrechte der zweiten und dritten Generation gerade in einer Zeit wieder zu beleben versucht, in der die Globalisierungsfolgen immer deutlicher zu Tage treten, in der aggressive „Antiterrorkriege“ wider das Völkerrecht geführt werden – Kriege, die im Namen der Sicherheit letztlich globale Unsicherheit produzieren; und in einer Zeit, in der das Völkerrecht in Frage gestellt, aufgeweicht, ja grob missachtet wird, in der die klassischen Menschenrechte im Zuge der Terrorismusbekämpfung weltweit mehr und mehr unter die Räder kommen. Da ist es hilfreich, wenn die Debatte über die rein normqualitative rechtsdogmatische und politologische Betrachtung hinausgeht und eben auch politisch geführt wird. Hier sind in verstärktem Maße Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften gefordert, sich in diese Debatte einzumischen. Neß liefert ihnen hierfür eine solide und anregende Grundlage.  

                                                                                        Rolf Gössner

 

Aus: Gewerkschaftliche Monatshefte 11-12/04.

Oliver Neß, Das Menschenrecht auf Entwicklung – Sozialpolitisches Korrektiv der neoliberalen Globalisierung. Mit einleitenden Beiträgen von Franz Nuscheler und Norman Paech, LIT-Verlag Münster u.a. 2004 (Politikwissenschaft Bd. 110), 180 S., 19,90 €.

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Veröffentlichungen/Interviews von Rolf Gössner (Auswahl seit April/Mai 2005)

Anschlagsrelevante Texte? Wie der Verfassungsschutz kritische Kommentare zu geistiger Brandstiftung erklärt, in: GRUNDRECHTE-REPORT 2005, Fischer-Verlag, Frankfurt/M. 2005

Aufstand der „Unanständigen“? Oder: Zivilcourage gegen Nazis strafbar, in: GRUNDRECHTE-RE­PORT 2005, Fischer-Verlag, Frankfurt/M. 2005

Sieben magere Jahre für die Bürgerrechte - Rot-Grün hat sich um den Ausbau des Kontrollstaates "verdient" gemacht, in: Bischoff/ Burkhardt/Cremer/ Gerntke/Gössner/Rock/Steffen/Walter, Schwarzbuch Rot-Grün - Von der sozial-ökologischen Erneuerung zur Agenda 2010, Hamburg 2005, S. 52 f

Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges, in: Ver.di (Hg.), Die vergessenen Opfer des Kalten Krieges. Begleitheft zur Ausstellung, Berlin 2005.

“Große Diskrepanz zwischen Gesetzesreformen und Umsetzung in der Praxis”. Bericht über die Türkei-Reise einer internationalen Menschenrechtsdelegation vom 16. bis 20. Januar 2005, in: BLÄTTER FÜR DEUTSCHE UND INTERNATIONALE POLITIK (Bonn) 4/2005, S. 508 ff.

Migrant/inn/en unter Generalverdacht – Die fatalen Auswirkungen des staatlichen „Anti-Terror-Kampfes“, in: AZADI-infodienst 29/2005, S. 1 ff.

Tabu-Themen des 8. Mai, in: OSSIETZKY 10/2005

Aufstand der Unanständigen, in: FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 23.05.2005, S. 7

Dienstliche Verrufserklärungen, in: OSSIETZKY 11/ 2005, S. 379 ff.

Unkontrollierbare Kontrolleure, in: FREITAG 3.6.05

Bundesamt für Verfassungsschutz: "Streng ideologische Verrufserklärungen. Zu einigen erstaunlichen "Erkenntnissen" des neuen Verfassungsschutzberichts, in: GEHEIM 2/2005, S. 3 f.

Sieben dunkle Jahre überstehen. Viele Bürgerrechte haben die rot-grüne Ära nicht überlebt. Ein Rückblick auf die Entwicklung der „Inneren Sicherheit“ unter Schily & Co., in: JUNGLE WORLD v. 6.7.05

Um den Überwachungsstaat verdient gemacht. Sieben magere Jahre für die Bürgerrechte, in: FREITAG vom 19.08.05, S. 4.

Bürgerrechtliche Negativbilanz, in: OSSIETZKY 17/ 2005, S. 625 ff.

Wiederkehr der Berufsverbote. Jüngere Disziplinierungsfälle aus Ost und West. Aus Gesinnungsgründen haben kürzlich zwei Betroffene ihren Job verloren, die Dunkelziffer dürfte weit höher sein, in: JUNGE WELT 7.09.2005 (antirepressionsbeilage).

Nach der Bundestagswahl: Die Zukunft der Bürgerrechte, in: NEUE RHEINISCHE ZEITUNG v. 19. 09.2005, WDR 3 Resonanzen, 15.09.2005.

Bürgerrechte chancenlos? In: NEUES DEUTSCH­LAND vom 8.10.2005, S. 1.

Er hat die Sicherheit zum Grundrecht gekürt. Der BigBrotherAward 2005 in der Kategorie „Lifetime“ geht an Bundesinnenminister Otto Schily/Auszüge aus der Laudatio von Rolf Gössner, in: FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 31.10.2005, S.7

„Eine große Gefahr liegt in der schleichenden Aushöhlung der Grundrechte“. Rolf Gössner sieht schwere Verstöße im Brechmitteleinsatz und der ausufernden Telekommunikationsüberwachung, BREMER NACH­RICHTEN vom 24.05.2005

„Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss beachtet werden“. Interview mit Rolf Gössner in: STADION­WELT 06/2005, S. 25.

Geheimdienste sind Fremdkörper in einer Demokratie, in: WESER-KURIER v. 22.06.2005; DELMENHORSTER KREISBLATT v. 22.06.05

Bilanz rot-grüner Bürgerrechtspolitik, Telefoninterview, RADIO LORA München, 24.08.2005

Sicherungshaft, Interview, FUNKHAUS EUROPA RADIO BREMEN/WDR 3.08.2005

Menschenrechte in der Türkei, in: ZAMAN (Türk. Zeitung) v.10.08.2005

Abbau der Bürgerrechte nach dem 11.09.2005, Interview, RADIO QUERFUNK Karlsruhe, 18.09.05

Terrorismusfahndung in Hamburg, NORDWESTRADIO RB/WDR 26.08.2005

Strafverfolgung Eren Keskins in der Türkei, in: RADIO LORA München, 7.11.2005.

 

Notizen und Hinweise

Unser Präsidiumsmitglied Yonas Endrias ist im Oktober 2005 als Migrantenvertreter in den Berliner Landesbeirates für Integrations- und Mi­grationsfragen gewählt worden. Er ist für die Region Fernost, Afrika, Süd-, Mittel- und Nordamerika zuständig. Informationen zum Landesbeirat für Integrations- und Migrationsfragen auf dessen Internetseiten:

www.berlin.de/sengsv/auslb/beirat/index.html

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Unsere Liga-Website ist derzeit im Umbau begriffen. Wir hoffen, sie bald aktualisiert zu haben.

www.ilmr.de

Impressum

Liga-Report - Informationsbrief der Internationalen Liga für Menschenrechte,

Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin,

Tel. 030 – 396 21 22; Fax 030 – 396 21 47;

Mail: vorstand@ilmr.org; Internet: www.ilmr.de

Redaktion 2/2005: Dr. Rolf Gössner, Kilian Stein. Mitarbeit: Marco Benzi, Marianne Reiff-Hundt, Mila Mossafer, Kilian Stein. ViSdP: Kilian Stein.

Spenden bitte an: Bank für Sozialwirtschaft, Konto 33 17 100; BLZ 100 205 00