© 2007 NEUE RHEINISCHE ZEITUNG
NRhZ-Online - Online-Flyer Nr.
111 vom 05.09.2007
Jalloh war
Anfang 2005 in betrunkenem Zustand in Polizeigewahrsam geraten. Die Polizisten
fesselten ihn an Händen und Füßen, weil er angeblich Widerstand leistete, fixierten
ihn auf einer schwer entflammbaren Matratze in der Arrestzelle und ließen ihn allein
zurück. In der rundherum gekachelten Sicherheitszelle verbrannte er am 7. Januar
2005 bei lebendigem Leib. Trotz Rufen und Geräuschen, die über eine Gegensprechanlage
vernehmbar waren, trotz Alarmzeichen des Brandmelders habe der Hauptangeklagte
Andreas S. nicht rechtzeitig reagiert, so die Anklage.
Richter „frustriert und erschüttert“
Am 10.
Prozesstag platzt dem Vorsitzenden Richter Manfred Steinhoff der Kragen. Es ist
mucksmäuschen still im Gerichtssaal, als er die Aussagen einiger Polizeizeugen
wegen eklatanter Widersprüche und auffälliger Erinnerungslücken zerpflückt.
Zumindest einer von ihnen, so Steinhoff, müsse bewusst falsch ausgesagt haben,
um den Hauptangeklagten Andreas S. zu schützen. Ungehalten wirft er diesem vor,
zu wissen, welcher der Zeugen falsch aussage. „Nennen Sie uns den, der hier die
Unwahrheit sagt. Sie sind Beamter des Landes Sachsen-Anhalt und wir leben hier
in keiner Bananenrepublik – es geht für Sie um Kopf und Kragen“, poltert der
Richter, der sich angesichts des bisherigen Zeugenverhaltens selbst als „sehr
frustriert und erschüttert" bezeichnet. Ein demokratischer Rechtsstaat
könne nicht damit leben, dass Polizeibeamte vor Gericht die Unwahrheit sagten.
„Ich werde den Prozess in Grund und Boden verhandeln“, droht Steinhoff, „ich
werde notfalls jeden Zeugen zehnmal vorladen. Irgendwann fällt jemand um.“
Die
richterliche Standpauke zeigt Wirkung. Als erster wird diesmal der
Polizeibeamte Gerhardt M. zum zweiten Mal vernommen. Auf die Frage des
Richters, ob er heute alles erzählen wolle, „egal, was passiert", antwortet
der Zeuge, der sich seit dem Vorfall in psychiatrischer Behandlung befindet,
mit „ja". Und tatsächlich ringt er sich durch, seine frühere Aussage
wesentlich zu erweitern und zu präzisieren. Bei seiner ersten Vernehmung, so
entschuldigt er sich, habe er unter Medikamenteneinfluss gestanden. Die erneute
Vernehmung dreht sich um die letzte Phase des Verbrennungstods von Oury Jalloh.
Aufhorchen lässt seine erstmals gemachte Aussage, dass er nach Öffnen der Gewahrsamstür
durch den Angeklagten – trotz des schwarzen Qualms – zwei Schritte in die Zelle
gemacht und den auf der brennenden Matratze festgeschnallten Körper von Oury
Jalloh gesehen habe. Er habe, nachdem er keinen Feuerlöscher gefunden hatte,
mit Wolldecken versucht, die Matratze zu löschen, was ihm aber nicht gelungen
sei. Und er sagt mit großem Bedauern: „Das einzige, was geholfen hätte, die
einzige Rettung wäre gewesen, Jalloh sofort loszumachen.“ Er meint damit, den
auf der Matratze Festgeschnallten von seinen Hand- und Fuß-Fesseln zu befreien
– aber er habe keine Schlüssel dabei gehabt und ihm deshalb nicht mehr helfen
können.
Zeuge fühlt sich „besser, teilweise
erleichtert“
Die Schlüssel hatte nach eigenen Angaben
der Hauptangeklagte Andreas S. dabei, der aber immer bestritten hat, dass man
nach Öffnen der Zellentür angesichts der Qualmentwicklung in den Gewahrsamsraum
hätte reingehen, geschweige denn, darin Lösch- und Rettungsversuche unternehmen
können. Auf Nachfrage des Oberstaatsanwalts sagt der Zeuge, er fühle sich nach
dieser Aussage „besser, teilweise erleichtert“. Er wird vereidigt, so dass
seine Aussage für das Verfahren besonderes Gewicht erhält.
Dieser
Polizeibeamte ist nicht der einzige, der nach dem Vorfall psychische Probleme
bekam, sich in psychologische Behandlung begeben musste und seine Aussage geändert
hat. Auch die Hauptbelastungszeugin der Anklage, die Polizeibeamtin Beate H.,
stand offenbar unter gewaltigem Druck: Sie, die einstige „rechte Hand“ des
Hauptangeklagten, war die Einzige, die unmittelbar nach dem Todesfall ihren Vorgesetzten
schwer belastete. Andreas S. habe die Gegensprechanlage wegen der starken
Geräusche aus der Gewahrsamszelle leise gestellt, den Brandalarm zweimal
weggedrückt und sich erst auf ihre Intervention bequemt, die Zelle aufzusuchen.
Polizeibeamtin unter Druck gesetzt?
Während ihrer gerichtlichen Vernehmung
ist sie von dieser belastenden Aussage deutlich abgerückt: Jetzt soll plötzlich
alles zügig verlaufen sein. Was ist passiert? Wurde Beate H. unter Druck
gesetzt oder fühlte sich zumindest so? Schließlich war sie nach ihrer ersten
Aussage von der Revierleitung aus angeblicher Fürsorgepflicht gegen ihren
Willen versetzt worden – eine Zwangsversetzung, die sie nach eigener Aussage
als Bestrafung empfand. Es könnte also sein, dass diese Zeugin dem internen
Druck nicht standhielt und dass sie deshalb vor Gericht ihre erste Aussage,
unter mehrfachen Tränenausbrüchen, revidiert hat. Nun ist ein Strafermittlungsverfahren
gegen sie eingeleitet worden: wegen Falschaussage.
Inzwischen sind interne
„Hausmitteilungen“ des Polizeireviers Dessau aufgetaucht, in denen die Revierleitung
unmittelbar nach dem Vorfall den Geschehensablauf vorschnell und einseitig
darstellte – basierend allein auf der Version des Hauptbeschuldigten, ohne die
Darstellung der Hauptbelastungszeugin auch nur zu erwähnen. Es liegt der Verdacht
nahe, dass damit von Anfang an eine Version festgeschrieben wurde, die von allen
Beteiligten und Zeugen als verbindlich angesehen werden sollte.
Anwälte: „Massive Manipulation“
Die Anwälte
der Nebenklage, die unter anderem die Mutter des Opfers vertreten, sprechen vom
Versuch einer „massiven Manipulation“ von Zeugen: Während des laufenden
Prozesses hat im Polizeirevier ein Zeugeninformationstreffen stattgefunden, in
dem es um Verhaltensregeln und etwaige Falschaussagen von Seiten einzelner
Polizeibeamter ging. Anwesend waren Polizisten, die bereits vor Gericht
ausgesagt hatten, und solche, denen die Vernehmung noch bevor stand. Es ist
mehr als anrüchig, Polizeibeamte, die ja insoweit generell geschult sind,
ausgerechnet anlässlich eines solchen Prozesses und während der laufenden Vernehmungen
speziell hierauf vorzubereiten – weshalb wohl auch etliche der Zeugen gerade
bei diesem Thema vor Gericht regelrecht mauern.
Richter Steinhoff hörte man schon laut
und vernehmlich stöhnen: „Dieses Verfahren strotzt nur so vor Schlamperei und
Versäumnissen“. Nachdem es zu Beginn des Prozesses so aussah, als ob dieser in
kurzer Zeit und relativ oberflächlich über die Gerichtsbühne laufen würde, sehen
wir uns mittlerweile eines Besseren belehrt: Gericht und Staatsanwaltschaft
geben sich offensichtliche Mühe, diesen Verbrennungstod im Polizeigewahrsam
aufzuklären – wobei die AnwältInnen der Nebenklage mit ihren Interventionen und
beharrlichen Nachfragen eine zentrale Rolle spielen: Regina Götz, Ulrich von
Klinggräff und Felix Isensee, die Mutter, Vater und Bruder des Opfers
vertreten, verbuchten bereits einen wichtigen Erfolg: Nun wird auch ein Todesfall
in dem Verfahren verhandelt, der sich 2002 in derselben Zelle des Dessauer
Polizeireviers ereignet hatte.
Nach bisher 24 Verhandlungstagen sollen noch eine ganze Reihe Zeugen befragt werden; weitere Verhandlungstage sind zunächst bis zum 15.11. terminiert, aber ein Ende des Strafverfahrens ist offenbar noch lange nicht in Sicht. Der Prozess hat deshalb besondere Bedeutung, weil es immer wieder vorkommt, dass Obdachlose, Drogenabhängige, Flüchtlinge und Ausländer in Polizeigewahrsam schwer verletzt werden oder sogar ums Leben kommen; zu oft werden solche Fälle nicht aufgeklärt. Nach einer Studie der Universität Halle starben zwischen 1993 und 2003 bundesweit 128 Menschen im Polizeigewahrsam; dabei hätte jeder zweite Tod verhindert werden können.