8.01.2010

 

Was geschah mit Oury Jalloh?

BGH lässt Feuertod eines Afrikaners in einer Dessauer Polizeizelle neu aufrollen

Von Rainer Kabbert

Bremen. Was geschah wirklich in der Dessauer Polizeizelle? Am 7.Januar 2005, als der 23-jährige Oury Jalloh auf einer Matratze verbrannte? Der Bundesgerichtshof (BGH) hat den Freispruch eines Polizisten vor dem Landgericht Dessau aufgehoben und ein Verfahren vor dem Landgericht Magdeburg gefordert. Für Rolf Gössner "eine späte Chance, den Tod Jallohs doch noch aufzuklären". Der Bremer Rechtsanwalt hat als Prozessbeobachter für Pro Asyl und die Internationale Liga für Menschenrechte das Dessauer Verfahren verfolgt.

Eltern und Halbbruder Jallohs hatten als Nebenkläger gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft Revision gegen den Freispruch eingelegt. In einem Zivilverfahren fordert die Familie des Opfers 70.000 Euro Schmerzensgeld von Sachsen-Anhalt.

Der BGH ließ gestern kein gutes Haar an dem Dessauer Urteil. Die Richter kritisierten vor allem ein Gutachten zum Geschehen in der Zelle. "Es wird ein Sachverhalt beschrieben, der nur schwer nachvollziehbar ist", sagte die Vorsitzende des 4. Strafsenats, Ingeborg Tepperwien. Es gebe "wesentliche Lücken in der Beweislage". Nach dem Urteil vom Dezember 2008 hatte der asylsuchende Mann aus Sierra Leone den Brand in der Zelle mit einem Feuerzeug verursacht, obwohl er gefesselt war.

Für die BGH-Richter ist nicht nachvollziehbar, welche Bewegungsspielräume Jalloh trotz fixierter Hände gehabt habe. Und wenn er das Feuer tatsächlich legte, hätte sich das Geschehen nicht so lautlos abspielen können, wie von den Polizeizeugen behauptet. Der angeklagte Dienstgruppenleiter habe gegen seine Pflichten verstoßen, da er nicht sofort beim ersten Signal des Rauchmelders nach Jalloh geschaut hat. Der heute 47-Jährige war wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen angeklagt. Ein zweiter Polizist wurde in Dessau rechtskräftig freigesprochen.

Rolf Gössner, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, geht in seiner Kritik weiter. Schon die vorherige Behandlung Jallohs ist für ihn ein Verstoß gegen die vom Grundgesetz gebotene Verhältnismäßigkeit: Ein Mann mit fast drei Promille Alkohol im Blut wird - obwohl namentlich bekannt - zur Feststellung seiner Identität ins Revier gebracht und an Händen und Füßen gefesselt. "Hätte er sich bewegen können, hätte er dem Feuer ausweichen können", argumentierte Gössner.

Das gesamte Verfahren am Landgericht Dessau hatte für ihn einen entscheidenden Strickfehler: Staatsanwaltschaft und Richter sind von der These der Selbsttötung Jallohs ausgegangen. Beweise dafür, meint Gössner, gebe es aber nicht. Dadurch sei die Option verbaut worden, andere Todesursachen und Umstände zu überprüfen. Indizien, die auf ein Verschulden Dritter hätten hinweisen können, seien nicht geprüft worden. Damit will Gössner aber nicht der gelegentlich geäußerten Mord-These folgen, da es dafür bislang keine Beweise gebe; aber auch einem solchen Verdacht müsse nachgegangen.

Andererseits weist der Anwalt aber auch auf eine zweite Obduktion hin, nach der Jalloh Verletzungen an Nase und Ohr erlitten hatte. "Dies könnte auf vorhergehende Gewaltanwendung hindeuten." Wer könnte dies bezeugen? Der Dessauer Richter Steinhoff kritisierte 2008 die Falschaussagen von Polizisten. Gössner sieht eine "organisierte Verantwortungslosigkeit im Dessauer Polizeirevier", deren Erhellung am "aufklärungsresistenten Korpsgeist der Polizisten" scheiterte. Es dominierten Vertuschungen und Widersprüche, Lügen und Gedächtnislücken". Das Problem sehen auch Gewerkschaftskreise: "Es gibt eine Abhängigkeit untereinander und einen moralischen Druck, was zu einem Gewissenskonflikt führen kann", sagte Konrad Freiberg, Chef der Gewerkschaft der Polizei. Aufgabe seiner Organisation sei es, Polizisten Mut zu machen, auch gegen Kollegen auszusagen.

Ob das Landgericht Magdeburg nun mehr Licht in die Geschehnisse vom 7. Januar 2005 bringen wird, ist unsicher. Die BGH-Richterin Tepperwien spricht von einer "höchst schwierigen Beweislage". Die Internationale Liga für Menschenrechte forderte eine internationale Untersuchungskommission, um den Fall aufzuklären und die Gründe für die bisher gescheiterte juristische Aufklärung zu untersuchen.

Aber vielleicht gelingt die ja schon in Magdeburg. "Die Angehörigen haben ein Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren - und dass die Vorgänge aufgeklärt werden", betonte die BGH-Richterin.

 

Verantwortung im Nirwana

Rainer Kabbert zum BGH-Urteil über Dessauer Polizistenprozess

Deftiger kann eine Urteilsschelte nicht ausfallen. Was die BGH-Richter über das Urteil ihrer Dessauer Kollegen schreiben, liest sich wie die Kritik an einem Rechtsreferendar: "Wesentliche Lücken in der Beweislage", "schwer nachvollziehbarer Sachverhalt", "mangelhafte Bewertung des Polizistenverhaltens". Die Karlsruher Richter betonen das Recht der Angehörigen auf ein rechtsstaatliches Verfahren, so, als hätte der Rechtsstaat während der 59 Prozesstage gegen zwei Polizisten gerade Urlaub gemacht.

Die BGH-Einschätzung wiegt umso schwerer, als es hier um den Tod eines Menschen geht. Der Staat nimmt den Afrikaner Oury Jalloh in Gewahrsam, fesselt ihn und trägt so doppelte Verantwortung für sein Schicksal. Wie kann es sein, dass sich nach dessen Tod Verantwortung in nichts auflöst und das Verfahren mit Freisprüchen endet? Im Zweifel für den Angeklagten - aus Mangel an Beweisen? Für den juristischen Laien schwer nachvollziehbar, wenn ein Rauchmelder drei Mal abgestellt wird und der Inhaftierte zwischenzeitlich am Feuer erstickt.

2008 hatte der Rechtsstaat vor dem Dessauer Landgericht eine Niederlage erlitten. Gestern hat er vom Bundesgerichtshof eine neue Chance bekommen. Mit neuen Richtern. Aber alten Zeugen. Auf diese Polizisten wird es ankommen, ob die Vorgänge am 7. Januar 2005 aufgeklärt oder endgültig im Nebel aus Ungereimtheiten, Gedächtnislücken und Widersprüchen verschwinden.

Es wäre verheerend. Von Dessau ginge das Signal aus, dass Menschen in staatlichem Gewahrsam gewaltsam sterben, die Umstände aber vertuscht werden. Wahrheitsfindung ist einer der Pfeiler des Rechtsstaats. Bricht er weg, ist der Schaden erheblich. Sachsen-Anhalts Innenminister hat die Gefahr erkannt und seine Beamten an ihre Pflichten erinnert. Korpsdenken innerhalb der Polizei will er nicht dulden.

Nur: Wie können die richterlich festgestellten Falschaussagen korrigiert werden? Menschen müssten die Courage aufbringen, sich selbst der Lüge zu bezichtigen und andere zu belasten. Wer kann das schon leichten Herzens?

© Copyright Bremer Tageszeitungen AG Ausgabe: WESER-KURIER und BREMER NACHRICHTEN, Seite: 2 - Datum: 08.01.2010