junge
Welt vom 25.10.2003 |
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Wochenendbeilage |
Abschalten und abschaffen
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Rolf Gössners neues Buch »Geheime
Informanten« stößt eine überfällige Debatte zu Geheimdiensten an
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Ulla
Jelpke |
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Die
Abschaffung des Verfassungsschutzes gehört zum Kernbestand der Forderungen
einer linken, demokratischen Innenpolitik. Diese Forderung wurde einst auch
von den Grünen vertreten. Seit sie in der Bundesregierung sind, hört man
davon allerdings nichts mehr. Allenfalls von zaghaften »Reförmchen« wie einer
besseren Koordinierung der sechzehn Landesverfassungsschutzämter
untereinander und mit dem Bundesverfassungsschutz ist noch die Rede. Eine
ernsthafte Debatte über das Elend der Inlandsgeheimdienste, wie sie nach der
Blamage mit dem gescheiterten NPD-Verbotsverfahren dringend notwendig gewesen
wäre, hat nicht stattgefunden. Überhaupt spielt die Bekämpfung des
Neonazismus in der Innenpolitik der amtierenden Bundesregierung keine
besondere Rolle mehr. Vom »Aufstand der Anständigen« ist derzeit wenig zu
spüren. Dabei ist die Gefahr durch die Neonazis konkret wie eh und je, wie
jüngste Vorfälle beweisen. In München wurde bei Neonazis eine große Menge
Sprengstoff gefunden. Elf Personen, die der Neonaziszene zuzuordnen sind,
sitzen in Untersuchungshaft. Sie stehen im Verdacht, einen Bombenanschlag
anläßlich der Grundsteinlegung für die jüdische Synagoge am 9.November auf
dem Münchner Jakobsplatz vorbereitet zu haben. Die Aufdeckung dieses Plans
war kein Resultat der Arbeit des Verfassungsschutzes, sondern geschah durch
Zufall. Ein Aussteiger wurde von seinen früheren Kumpanen verprügelt und
rächte sich, indem er die Anschlagspläne bei der Polizei auffliegen ließ. Notwendig ist vor diesem
Hintergrund eine Debatte über die Effizienz geheimdienstlicher Maßnahmen, vor
allem aber über ihre prinzipielle Zulässigkeit in einem demokratischen
Rechtsstaat. Einen wichtigen Anstoß für eine neue kritische
Auseinandersetzung mit dem Verfassungsschutz als Fremdkörper im
Verfassungsstaat gibt nun der Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner in
seinem neuen Buch »Geheime Informanten«. Der Untertitel »V-Leute des
Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des Staates« verweist auf den ersten
Schwerpunkt der 315 Seiten starken, spannend geschriebenen Darstellung.
Anhand bisher unveröffentlichten Aktenmaterials und aufgrund eigener
Recherche bei V-Leuten, Geheimdienstlern, Politikern, Richtern und
Staatsanwälten schildert Gössner – der auch Mitherausgeber der
Zweiwochenschrift für Politik Ossietzky ist – umfangreiche Fallstudien zu
rechtsextremen V-Mann-Karrieren, zu ihrer Anwerbung, »Führung« und zu den
Straftaten, die sie in Ausübung ihrer staatlich gebilligten Tätigkeit
begehen. Gössners Fazit ist vernichtend. Der Verfassungsschutz ist im
Gestrüpp brauner Parteien und Neonazigruppen tief verstrickt. Gewaltbereite
Rassisten und Schwerkriminelle können mit staatlicher Hilfe ihr Unwesen
treiben. V-Leute begehen oder provozieren Straftaten, um sich nicht als
Spitzel verdächtig zu machen. Kriminelle V-Leute werden von den
V-Mann-Führern vor polizeilicher Verfolgung abgeschirmt. Über V-Leute werden
indirekt Neonazi-Aktivitäten mit Staatsgeldern unterstützt. Aussteigewillige
werden vom Verfassungsschutz veranlaßt, weiterhin in der Szene auszuharren,
um sich als V-Personen »zu bewähren«. Insgesamt werden somit Menschen im
Namen der Freiheit in Gefahr gebracht, obwohl diese Form der
Nachrichtenbeschaffung rechtlich bedenklich und zudem häufig unzuverlässig
ist. Diese Erkenntnisse
wendet Gössner im zweiten Teil seiner Untersuchung auf das
NPD-Verbotsverfahren, dem er skeptisch gegenübersteht, an. Einerseits – so
argumentiert er – müsse ein Staat mit der historischen Verantwortung
Deutschlands Neonazis besonders wirksam unter Kontrolle halten. Ein
Parteiverbotsverfahren sei dabei aber ein fragwürdiges Mittel und zudem im
konkreten Fall der NPD Teil einer »Symbolpolitik«, die lediglich
Alibicharakter habe und einer echten gesellschaftlichen Auseinandersetzung
mit dem Rechtsextremismus im Wege stehe. Aufgrund der Verstrickung des
Verfassungsschutzes mit den Neonazis sei das Scheitern des Verfahrens
programmiert gewesen. Gössner führt noch einmal minutiös die Verflechtung der
Verfassungsschutz-Informanten mit den Führungsgremien der NPD und den daraus
folgenden kläglichen Versuch der Antragsteller (Bundesregierung, Bundestag
und Bundesrat) an, diese Beziehungen zu verheimlichen oder ausgerechnet vor
dem Bundesverfassungsgericht einen rechtsstaatswidrigen »Geheimprozeß«
durchsetzen zu wollen. Die skandalöse Art der Prozeßführung hatte zur Folge,
daß Karlsruhe das Verfahren einstellte und die eindeutig
verfassungsfeindliche NPD auch noch einen Propagandaerfolg geliefert bekam. Aus diesem Verfahren
zieht Gössner prinzipielle Schlußfolgerungen. Die Inlandsgeheimdienste sind
nach seiner Auffassung reformunfähig. Die Rolle des Verfassungsschutzes bei
der Auseinandersetzung mit dem Neonazismus müsse grundsätzlich in Frage
gestellt werden. Gössner sieht im Verfassungsschutz ein »ideologisches Kind
des Kalten Krieges«. Er sei in den fünfziger Jahren zur Absicherung des
westdeutschen »Bollwerks gegen den Kommunismus« geschaffen worden. Die über
50jährige Geschichte des Verfassungsschutzes lasse sich als eine Geschichte
von Skandalen und Bürgerrechtsverletzungen lesen, von der Überwachung
demokratischer Organisationen wie z.B. der Friedensbewegung über skandalöse
Sicherheitsüberprüfungen und illegale Telefonabhöraktionen bis hin zu dem
fingierten Bombenattentat, das als »Celler Loch« in die Geschichte einging.
Das NPD-Verbotsverfahren bewertet Gössner als vorläufigen Höhepunkt in dieser
Reihe von Skandalen. Zaghafte Änderungsvorschläge wie etwa die Einsetzung
eines Geheimdienstbeauftragten des Bundestags seien nicht ausreichend. Auch
Rufe nach besserer Koordinierung der Geheimdienstarbeit dienten allenfalls
einer Effizienzerhöhung, wagten sich aber nicht an die Geheimstrukturen
heran. »Ein Geheimdienst wäre kein Geheimdienst, wenn er sich offen und voll
kontrollieren ließe.« Gössner sieht eine
Alternative im Aufbau einer offen arbeitenden, wissenschaftlichen
Dokumentationsstelle zur Beobachtung, Erforschung und Analyse des
Neonazismus. »Die Qualität der bisherigen Arbeit des Verfassungsschutzes und
ihre Ergebnisse sind mehr als fragwürdig. Trotz der zahlreichen V-Leute in
der rechten Szene, die den Erkenntniswert nicht nennenswert gesteigert haben,
hat der Verfassungsschutz lange Zeit die rechte Gewalt als spontan und
unorganisiert abgetan, Mitglieder- und Aktivistenzahlen heruntergespielt,
Vernetzung und Organisierung geleugnet. Eine offen arbeitende Institution
hätte gegenüber dem Verfassungsschutz den enormen Vorteil, daß sie weniger
interessegeleitet wäre als ein Regierungsgeheimdienst, daß sie kontrollierbar
wäre und daß ihre wissenschaftliche Diagnose- und Analysefähigkeit denen des
Verfassungsschutzes deutlich überlegen wäre.« Das Buch bietet eine
Fundgrube an neuem Material über die V-Mann-Praxis der Geheimdienste, eine
ausführliche Schilderung des blamablen Ablaufs des NPD-Verbotsverfahrens
sowie die kritische Reflexion von Reformvorschlägen. * Rolf Gössner: Geheime
Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des
Staates. Knaur-Taschenbuch, München 2003, 315 Seiten, 12,90 Euro |
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