junge Welt vom 15.12.2004

 

Feuilleton

Über die Unwürdigkeit

Früher wie heute: Nicht die Nazis, nur ihre Gegner haben in der BRD etwas zu befürchten. Das nennt man dann »Versammlungsstörung«

Rolf Gössner

 

* Am Sonntag verlieh die Internationale Liga für Menschenrechte in Berlin den Verfolgten des Naziregimes und aktiven Antifaschisten Esther Bejarano(die heute übrigens 80 Jahre alt wird), Peter Gingold und Martin Löwenberg die Carl-von-Ossietzky-Medaille 2004. jW dokumentiert Auszüge der aus diesem Anlaß gehaltenen Rede des Präsidenten der Liga, Rolf Gössner.

(...) Politische Verfolgung in Westdeutschland? So mögen sich manche Bundesbürger ungläubig fragen, das kann doch nicht wahr sein, schließlich war dafür die DDR zuständig. Doch stellen Sie sich vor, mehrere Frauen organisieren preiswerte Ferien für Kinder aus sozial benachteiligten Familien – und werden dafür mit je einem Jahr Gefängnis und fünf Jahren Ehrverlust bestraft, nur weil das Reiseziel die DDR war. Die Ferienvermittlung, so die Richter, sei »staatsgefährdende nachrichtendienstliche Tätigkeit« und politische »Wühlarbeit« in einer »kommunistischen Tarnorganisation«. Die Deutsche Bundesbahn hatte jahrelang Sonderzüge für diese Fahrten zur Verfügung gestellt. (...)

Alte BRD

(...) Auch in der Alt-Bundesrepublik gab es politische Verfolgung großen Ausmaßes – unter dem Tarnmantel des Rechts und auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Betroffen waren in erster Linie Kommunisten, ihre Unterstützer und »Sympathisanten«. Das gesamte Ausmaß erscheint heute unglaublich: Von 1951 bis 1968 gab es Ermittlungsverfahren gegen mehr als 200000 Personen, nahezu ausschließlich wegen gewaltfreier linksoppositioneller Arbeit. (...)

(...) Unverkennbar zeigte dieses Gesinnungsstrafrecht die Handschrift »entnazifizierter« Nazis, die in die Verwaltungen und Sicherheitsbehörden zurückströmten. Sie wirkten bei der inneren Aufrüstung der Bundesrepublik als »Bollwerk« gegen die kommunistische Gefahr aus dem Osten eifrig mit – auf Grundlage eines tief verankerten antikommunistischen Grundkonenses. Viele ehemalige Gestapo-Beamte und SS-Angehörige erklommen hohe Posten bei Polizei und Geheimdiensten. Und selbst die furchtbarsten Juristen der NS-Sondergerichte kehrten in Amt und Würden zurück und besetzten Schlüsselpositionen in der Justiz.

So kam es, daß die neuen Verfolger nicht selten die Täter von gestern waren und viele der Bestraften bereits unter den Nazis verfolgt worden waren. So mußte sich etwa eine kommunistische Angeklagte vor dem Landgericht Lüneburg vorhalten lassen, daß sie »trotz schwerer Bestrafung in den Jahren des Nationalsozialismus nichts daraus gelernt« habe.

Höhepunkt dieser Verfolgung war im Jahre 1956 das Verbot der KPD. In der Folgezeit wurden zahlreiche weitere Vereinigungen verboten, Menschen wegen Verstoßes gegen die Verbote und wegen Beteiligung an sogenannten Tarn- oder Ersatzorganisationen bestraft.

(...) Trotz vielfacher parlamentarischer Bemühungen sind die Betroffenen bis heute nicht rehabilitiert worden. Schließlich, so die offizielle Begründung, sei seinerzeit alles ganz rechtsstaatlich gelaufen. Doch schon an der formellen Rechtsstaatlichkeit vieler Ermittlungs- und Strafverfahren jener Zeit sind Zweifel angebracht, weil die sonderjustitiellen Bedingungen ein faires Verfahren praktisch unmöglich machten. Ein anderes Gerechtigkeitsproblem kommt hinzu: Vielen NS-Opfern und Widerstandskämpfern sind wegen ihrer linksoppositionellen Tätigkeit in Westdeutschland sämtliche Wiedergutmachungsansprüche wegen »Unwürdigkeit« verweigert oder wieder entzogen worden – selbst jene Ansprüche, die ihnen wegen Freiheitsentziehung in Konzentrationslagern oder wegen der in diesen Lagern erlittenen Gesundheitsschäden zustanden.

Neue BRD

Daß die Vergangenheit längst nicht abgeschlossen ist, kann man an der Tatsache ablesen, daß die VVN nach wie vor vom Verfassungsschutz beobachtet wird – von einem demokratisch kaum zu kontrollierenden Geheimdienst, der schon im Kalten Krieg und im Zusammenhang mit den Berufsverboten viel Unheil gestiftet hat. Wie immer man zu der lange Zeit unkritischen Haltung eines Teils der VVN zur DDR stehen mag – die aktuelle Beobachtung dieser überparteilichen, generationenübergreifenden antifaschistischen Organisation ist ein Skandal. Und die Begründung des Verfassungsschutzes ebenfalls: Die VVN sei »linksextremistisch beeinflußt« und huldige einem orthodox-kommunistischen Faschismusbegriff. Und der Gipfel der Erkenntnis: Sie werfe staatlichen Institutionen regelmäßig vor, Rechtsextremisten zu begünstigen und gleichzeitig repressiv gegen Antifaschisten vorzugehen.

Normerfüllung

Hiervon kann unser Preisträger Martin Löwenberg ein garstig Lied singen: Er, der bereits in den 50er und 60er Jahren wegen seiner politischen Arbeit zu insgesamt 20 Monaten Gefängnis verurteilt worden war, stand im Alter von 78 Jahren wiederum vor Gericht. Wegen »Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz« verurteilte ihn das Amtsgericht München voriges Jahr zu einer Geldstrafe, weil er öffentlich dazu aufgerufen hatte, sich einem Neonazi-Aufmarsch gegen die Wehrmachtsausstellung in den Weg zu stellen. Er hielt es für legitim, sich – wie er formuliert – den »Totengräbern der Demokratie entgegenzustellen« – für ihn eine lebensgeschichtliche Verpflichtung. Doch das Gericht sah in seinem Aufruf eine »öffentliche Aufforderung zu Straftaten«, nämlich die Absicht, einen nicht verbotenen Aufzug alter und neuer Nazis zu verhindern. Das Urteil ist seit September 2004 rechtskräftig.

Es mehren sich Anklagen gegen Menschen, die zu Antinazi-Protesten aufriefen oder sich den Nazis in den Weg stellten. Dabei gerät eine früher seltener angewandte Strafnorm mehr und mehr zur juristischen Keule, nämlich Paragraph 21 Versammlungsgesetz. Diese weitgefaßte Norm (»Versammlungsstörung«) kann von Polizei und Staatsanwaltschaft dazu gebraucht oder mißbraucht werden, jeglichen antifaschistischen Protest im Vorfeld zu kriminalisieren und zu ersticken.

Am 8. Mai 2005, dem 60. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Naziterror, sollen wieder Nazis durch das Brandenburger Tor marschieren dürfen. Die Jungen Nationaldemokraten (JN) haben ihren Aufmarsch am 4. November angemeldet; er soll von zehn bis 18 Uhr dauern und von Osten kommend am Platz des 18. März enden. Demgegenüber sollen antifaschistische Aktionen in örtlicher Nähe das Nachsehen haben, weil nach dem »Prinzip der ersten Anmeldung« der JN-Aufzug »vorrangig zu betrachten« sei. So hat das Polizeipräsidium Berlin die Anmelder eines Brecht-Projektes beschieden, deren Anmeldung bereits am 4. Oktober erfolgt war, allerdings noch ohne genaue Streckenplanung (...).

 Adresse: http://www.jungewelt.de/2004/12-15/024.php