BREMER NACHRICHTEN                                                                          24. Mai 2005

"Eine große Gefahr liegt in der schleichenden Aushöhlung der Grundrechte"

Der Bremer Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner sieht schwere Verstöße
im Brechmitteleinsatz und der ausufernden Telekommunikationsüberwachung

 

Der Bremer Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner ist Präsident der internationalen Liga für Menschenrechte, die seit Jahren zum Herausgeber-Kreis des Grundrechte-Reports gehört. Unser Mitarbeiter York Schaefer sprach mit ihm anlässlich der Vorlage der aktuellen Ausgabe über Verstöße gegen bürgerliche Grundrechte auch in Bremen.

Wo sehen Sie die gravierendsten Verstöße gegen bürgerliche Grundrechte in Deutschland in den vergangenen Jahren?

Gössner: Die größte Gefahr liegt meines Erachtens in der schleichenden Aushöhlung der Grundrechte. Etwa im Bereich der Telekommunikationsüberwachung, wo es immer mehr Möglichkeiten der Kontrolle gibt, die auch nach und nach gesetzlich abgesichert werden. Die Bundesrepublik gehört mit jährlich fast 35 000 abgehörten Telefonanschlüssen und Millionen von Betroffenen zu den Abhör-Spitzenreitern. In Niedersachsen ist inzwischen selbst die vorsorgliche Telekommunikationsüberwachung erlaubt - also das polizeiliche Abhören von Telefonen, ohne dass eine Straftat oder ein konkreter Verdacht vorliegt. So werden immer mehr unverdächtige Menschen in Ermittlungsmaßnahmen verstrickt. Ein gravierender Grundrechtsverstoß ist auch im neue Luftsicherheitsgesetz zu finden - eine staatliche Lizenz zum Töten. Im Falle eines vorbeugenden Flugzeugabschusses zur Gefahrenabwehr würden mit Sicherheit Hunderte unschuldiger Passagiere ums Leben kommen. Mit diesem Gesetz wird der Mensch gegen den Menschen verrechnet.

Haben die Verstöße in Zeiten terroristischer Bedrohung und wirtschaftlicher Krise zugenommen?

Insbesondere seit dem 11. September 2001 hat sich die Situation auch hierzulande stark verändert. Seither werden im Namen der Terrorismusbekämpfung in verstärktem Maße Bürger- und Menschenrechte eingeschränkt. "Sicherheit" wird zum Supergrundrecht erklärt, das alle anderen individuellen Grund- und Freiheitsrechte in den Schatten zu stellen droht. Migranten sind übrigens die eigentlichen Verlierer des staatlichen "Anti-Terror-Kampfes". Sie werden per Gesetz unter Generalverdacht gestellt und einem rigiden Überwachungssystem unterworfen - denken Sie nur an die uferlosen Rasterfahndungen und erleichterte Auslieferungen. Solche Regelungen machen Migranten zu Sündenböcken, schaffen aber kaum mehr Sicherheit.

Wo sehen Sie Grundrechtsverletzungen durch Hartz IV, zum Beispiel bei der Verpflichtung, bestimmte Jobs anzunehmen?

Inzwischen ist für Langzeitarbeitslose prinzipiell jede Arbeit zumutbar, bestimmte Personen sind zur unentgeltlichen Übernahme von Arbeiten im öffentlichen Interesse verpflichtet. Im Fall der Verweigerung droht Leistungsentzug und damit die Gefahr der Verelendung. Beide Bestimmungen greifen in die grundrechtlich geschützte Berufsfreiheit ein. Die im Sozialgesetzbuch festgeschriebenen Formen der Pflichtarbeit müssten einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterzogen werden. Das wird im neuen Grundrechte-Report ausführlich begründet.

Der Grundrechte-Report 2005 beschäftigt sich auch mit dem Brechmitteleinsatz und dem Kopftuch-Streit in Bremen. Wie steht es um die Entwicklung der Bürgerrechte in der Hansestadt?

Der Brechmitteleinsatz war unverhältnismäßig und widerspricht menschenrechtlichen Prinzipien. Die zwangsweise Vergabe von Brechmitteln ist in aller Regel eine qualvolle und für alle Beteiligten entwürdigende Prozedur, die etwas von Folter hat. Diese Methode der Beweissicherung sollte endgültig gestoppt werden. Im Bremer Kopftuch-Streit begrüße ich die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wonach die muslimische Lehramtskandidatin als Referendarin in den Bremer Schuldienst aufgenommen werden muss. Die staatliche Schule hat ein Ausbildungsmonopol für Lehrer, deshalb hat die Lehramtskandidatin zumindest das Recht, ihren Vorbereitungsdienst im Bremischen Schuldienst zu absolvieren und ihre Lehrerausbildung abzuschließen. Mit Verboten und Ausgrenzung wird rechtspolitisch der falsche Weg beschritten, zumal, wenn sich ein solches Verbot zum Berufsverbot für Einzelne entwickeln kann.