Rolf Gössner Aus: Freitag, 12. März 2004
Teilweise
wanzenfreie Zone
Plädoyer:
Für eine Generalrevision der Sicherheits- und
»Anti-Terror«-Gesetze
Die Verwanzung von
Privatwohnungen passt nicht so recht in einen liberal-demokratischen
Rechtsstaat, der die Menschenwürde achtet und die Freiheitsrechte seiner
Bürgerinnen und Bürger respektiert. Zu dieser Quintessenz muss kommen, wer das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 zum Großen Lauschangriff
liest. Doch die Konsequenz daraus hat die Mehrheit der Richter gescheut. Sie
erklärt Wohnungen nicht gänzlich zu wanzenfreien Zonen, sondern legt den Wanzen
ein paar respektable Brocken in den Weg. Diese Hürden dürften die ohnehin schon
aufwändigen und kostenträchtigen Lauschangriffe noch aufwändiger und teurer
machen. Damit besteht vielleicht die Chance, dass dieser Grundrechtseingriff
von höchster Intensität zu einer »Ultima-ratio«-Maßnahme wird, die Wanze zum
wirklich allerletzten Mittel der Strafverfolgung.
Wir erinnern uns: Im
Superwahljahr 1998 beschloss die ganz große Koalition aus CDU/CSU, SPD und FDP
den Großen Lauschangriff. Er wurde in Wahlkampfzeiten zur unverzichtbaren
Wunderwaffe im Kampf gegen die »Organisierte Kriminalität« hochstilisiert, ohne
die der Rechtsstaat in Gefahr gerate. Tatsächlich ist der Rechtsstaat in Gefahr
geraten – durch die Demontage des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung.
Seit dieser Legalisierung sind knapp 120 Große Lauschangriffe auf Wohnungen
durchgeführt worden – wie sich herausgestellt hat, nicht nur auf
verfassungswidrige Weise, sondern auch mit wenig Erfolg. Dabei sind intimste
Lebensvorgänge und -äußerungen unzähliger Unbeteiligter und Unschuldiger
ausgeforscht worden.
Es ist besorgniserregend,
dass Grundwerte der Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts, dass die
Privatwohnung als »letztes Refugium« zur Wahrung der Menschenwürde weitgehend
in Vergessenheit geraten sind. Seit Jahren huldigt die Politik einem
ausufernden Sicherheitsdenken, das sich die wachsende Gleichgültigkeit in der
Bevölkerung gegenüber den Gefährdungen der Freiheit zunutze macht. Wir erleben
eine stete innenpolitische Aufrüstung und damit einhergehend einen permanenten
Abbau der Bürgerrechte – nicht erst seit dem 11. 9. 2001, aber seitdem extrem
verstärkt. Wir waren konfrontiert mit einer eskalierenden Sicherheitspolitik,
die schließlich in »Anti-Terror-Gesetzen« mündete – Sicherheitsgesetze, die
zwar kaum mehr Sicherheit bieten, stattdessen zunehmende Rechtsunsicherheit
produzieren.
Das Verfassungsbewusstsein
scheint in der politischen Klasse stark geschwunden zu sein. Auch die rot-grüne
Bundesregierung, die sich zuweilen als Hüterin der Bürgerrechte geriert,
verteidigte den Großen Lauschangriff vor Gericht bedenkenlos als »wirksames
Instrument« im Kampf gegen die Kriminalität. In über fünf Jahren hielten es die
sie tragenden Bundestagsfraktionen nicht für nötig, dieses Instrument verfassungsverträglich
auszugestalten – nun werden sie dazu gezwungen. Darüber zu wundern braucht man
sich nicht, denn Otto Schily (SPD), der heutige Bundesinnenminister, gehört zu
den Vätern dieser verfassungswidrigen Regelungen. Strenggenommen ist das ein
Fall für den »Verfassungsschutz«.
Innenminister und Gesetzgeber
erwiesen sich in den vergangenen Jahren häufig als nicht verfassungsfest. Erst
im vorigen Monat wurden jene Ländergesetze für verfassungswidrig erklärt, mit
denen eine nachträgliche Sicherungsverwahrung legalisiert werden sollte. In den
vergangenen Jahren sind etliche Rasterfahndungsmaßnahmen für grundrechtswidrig
erklärt worden. Davor traf es die verdachtsunabhängige Schleierfahndung, bei
der prinzipiell alle Verkehrsteilnehmer im öffentlichen Raum ohne Anlass
angehalten, kontrolliert, gegebenenfalls durchsucht werden dürfen. Die
Ausgestaltung dieser Polizeirechtsnorm in Mecklenburg-Vorpommern fand vor den
dortigen Verfassungsrichtern keine Gnade. Und in Sachsen erging es präventiven
Abhörregelungen nicht anders. Erinnert sei darüber hinaus an die Befugnis des
Bundesnachrichtendienstes (BND), ohne jeglichen Verdacht den gesamten Fernmeldeverkehr
vom und ins Ausland systematisch nach verdächtig klingenden »Suchbegriffen» zu
durchforsten. Auch diese »strategische Kontrolle« hat das
Bundesverfassungsgericht als teilweise verfassungswidrig eingestuft.
In Zeiten, in denen selbst
die Folter wieder diskutabel wird, könnte das vorliegende Urteil einer fatalen
Tendenz zu Maßlosigkeit und normativer Entgrenzung im Bereich der »Inneren
Sicherheit« entgegenwirken. Aber nur, wenn es tatsächlich weit über den Großen
Lauschangriff hinaus Beachtung findet: Denn auch andere Sicherheitsgesetze des
Bundes und der Länder sowie die ausufernde Praxis der
Telekommunikations-überwachung müssen künftig an diesen Maßstäben gemessen
werden.
Tatsächlich gibt es
mutmaßlich verfassungswidrige Regelungen zuhauf. Erinnert sei an Polizei- und
Geheimdienstgesetze, an die vorsorgliche Telekommunikationsüberwachung von Thüringen
und Niedersachsen, die mittlerweile das präventive Abhören von Telefonen und
Handys, das Mitlesen von Faxen, SMS und Emails – ohne Vorliegen einer Straftat
oder eines konkreten Verdachts - erlauben, sowie an die ausufernde Praxis der
Telefonüberwachung zur Strafverfolgung. Seit 1995 hat sich die Anzahl der
richterlichen Anordnungen pro Jahr von 3.800 auf über 25.000 (2002) fast
versiebenfacht. Die Bundesrepublik gehört damit weltweit zu den Spitzen-reitern
im Abhören.
Nicht zu vergessen auch: die
sogenannten Anti-Terror-Gesetze, die nach den Anschlägen in den USA gleich
paketweise verabschiedet worden sind und mit denen Polizei und Geheimdienste
abermals tiefgreifende Befugnisse erhalten haben. Selbst die Gewerkschaft der
Polizei fürchtete angesichts dieser Sicherheitsgesetze um den »freiheitlichen
Staat«. Der Liberale Burkhard Hirsch bescheinigte Schilys »Otto-Katalogen«
insgesamt Respektlosigkeit »vor Würde und Privatheit seiner Bürger« sowie einen
»totalitären Geist«. Selbst Gesetzesprojekte tragen schon in status nascendi
die Verfassungswidrigkeit auf der Stirn. Beispiel: das in einigen Bundesländern
geplante, höchst umstrittene Kopftuchverbot, ohne Gleichbehandlung christlicher
Symbole.
Auch außen- und
militärpolitisch schwindet das Rechts- bzw. Unrechtsbewusstsein dramatisch:
Siehe die verfassungswidrige Beteiligung der Bundesrepublik am Krieg gegen
Jugoslawien, siehe Überflugrechte und Logistikhilfe beim Angriffskrieg auf den
Irak.
Wie viel Völkerrechts- und
Verfassungsbruch verträgt dieses Land, ohne in ein illiberales, ein autoritäres
Überwachungssystem zu verfallen, dem die Bürgerrechte nur noch inhaltslose Hüllen
sind? Es bleibt zu hoffen, dass das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts
eine gewisse Trendwende einläutet und die Sicherheitsextremisten jeglicher
Couleur in die Schranken weist. Das haben wohl auch die beiden Richterinnen
Renate Jaeger und Christine Hohmann-Dennhardt im Sinn gehabt, als sie in ihrem
Minderheitenvotum den Großen Lauschangriff in Gänze für verfassungswidrig
erklärten. Es gehe heute längst nicht mehr darum, »den Anfängen eines Abbaus
von verfassten Grundrechtspositionen« zu wehren, sondern „einem bitteren Ende«
Dr. Rolf Gössner,
Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater; 1997 Sachverständiger in
der parlamentarischen Anhörung des Bundestages zum Großen Lauschangrif).
Präsident der »Internationalen Liga für Menschenrechte«. Mitherausgeber der Zweiwochenschrift
»Ossietzky«.
www.rolf-goessner. de.