FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 23. Mai 2005

Der Aufstand der Unanständigen

Aufrufe und Demonstrationen gegen Neonazi-Aufmärsche werden von Gerichten zunehmend kriminalisiert / Von Rolf Gössner

Der Grundrechte-Report, verfasst von neun deutschen Bürgerrechtsorganisationen, fragt jedes Jahr nach Schutz und Beachtung der Verfassung und schildert aktuelle Missstände. Rolf Gössner von der Internationalen Liga für Menschenrechte rügt Gerichte, die Versammlungsfreiheit höher einstufen als Meinungsfreiheit.

 

 

Martin Löwenberg ist 78 Jahre alt, als er am 22. September 2003 vor dem Amtsgericht München steht, weil er dazu aufgerufen hatte, sich in München einem Aufmarsch von Alt- und Neonazis entgegen zu stellen. Eigentlich ein anerkannt löbliches Tun, rufen doch auch Politiker zuweilen einen "Aufstand der Anständigen" gegen Neonazis aus. Aber nicht jeder "Aufständische" wird als "Anständiger" anerkannt. Der Amtsrichter verurteilte den Antifaschisten Löwenberg zu einer Geldstrafe.

Der "Täter" hatte im Oktober 2002 während einer Kundgebung öffentlich dazu aufgerufen, sich in München gemeinsam einem Neonazi-Aufmarsch gegen die Wehrmachtsausstellung in den Weg zu stellen. Er halte es für legitim und legal, sich den "Totengräbern der Demokratie entgegenzustellen".

Diese Auffassung beeindruckte das Gericht nur wenig. Der Angeklagte habe illegal gehandelt, weil er durch "sein Verhalten öffentlich und in einer Versammlung zu einer Straftat aufgerufen" habe. Das ist nach Paragraf 111 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar und kann mit Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe geahndet werden. Zu welcher Straftat Löwenberg aufgerufen haben soll, steht in Paragraf 21 Versammlungsgesetz (VersG): "Wer in der Absicht, nichtverbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."

Berufung verworfen

Das Urteil löste in Bayern einen Proteststurm aus - zumal mittlerweile bekannt wurde, wie verharmlosend die bayerische Landesregierung lange Zeit mit dem Neonaziproblem umgegangen war, insbesondere mit der Terrorgruppe um den Neonazi Martin Wiese. Dieser hatte besagten Nazi-Aufmarsch angemeldet - und sitzt inzwischen wegen geplanter Bombenattentate gegen jüdische Einrichtungen in U-Haft. (Wiese wurde inzwischen rechtskräftig verurteilt, d. Red.).

Ende September 2004 wurde Löwenbergs Berufung verworfen. Damit ist er wegen seines gewaltlosen antifaschistischen Engagements rechtskräftig verurteilt. Die "Süddeutsche Zeitung" titelt am 24. September 2004: "Ex-KZ-Häftling wegen Nazi-Protest verurteilt". Löwenberg ist Überlebender des Naziregimes. Er überlebte Konzentrationslager und Zwangsarbeit - in der polizeilichen Ermittlungsakte ist die Rede von einem ehemaligen "Kfz-Häftling".

Dem Gericht hatte Löwenberg deutlich zu machen versucht, dass er als besonders schmerzlich empfunden habe, wie untätig der Großteil der deutschen Bevölkerung Anfang der 30-er Jahre dem Naziterror zugesehen hatte. Schließlich habe der Kampf um die Straße beim Aufstieg des Nationalsozialismus eine bedeutende Rolle gespielt. Deshalb kämpft Löwenberg bis ins hohe Alter gegen solche Aufmärsche.

Grundrechte abwägen

Das Gericht bescheinigte dem Angeklagten zwar eine "achtbare Gewissensentscheidung". Doch: "Respektable Gewissensentscheidungen rechtfertigen oder entschuldigen nicht die Übertretung von Gesetzen". Das Gericht hatte bei seiner Entscheidung zwei Grundrechte abzuwägen: Die Meinungsfreiheit des Angeklagten (Artikel 5 Grundgesetz) und die Versammlungsfreiheit der Neonazis (Artikel 8Grundgesetz). Das Ergebnis des richterlichen Abwägungsprozesses: Der Angeklagte könne sich nicht auf Artikel 5 Absatz 1 berufen, denn dieses Grundrecht finde seine Schranken in den Regelungen des Strafgesetzbuches und des Versammlungsrechts. Zwar hätte der Angeklagte zulässigerweise zum "Protest vor Ort - am Rande des Aufzuges" aufrufen dürfen - aber es sei ihm untersagt, den nicht verbotenen Aufmarsch zu verhindern, zu sprengen oder sonst zu vereiteln oder grob zu stören. Insoweit sei seine Meinungsfreiheit durch Paragraf 21 VersG "geringfügig eingeschränkt".

 

 

Der Autor

 

 

Dr. Rolf Gössner, geboren 1948 in Tübingen, ist Rechtsanwalt und Publizist, seit 2003 Präsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte" (www.ilmr.de), Mitherausgeber der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft "Ossietzky"
(www.sopos.org/ossietzky) und des "Grundrechte-Reports". Außerdem ist er Mitglied in der Jury zur Vergabe des "BigBrotherAwards"
(www.bigbrotherawards.de) und der Carl-von-Ossietzky-Medaille.

Er schrieb zahlreiche Sachbücher zu Bürger- und Menschenrechtsthemen, zuletzt: "Geheime Informanten: V-Leute des Verfassungsschutzes - Kriminelle im Dienst des Staates", Knaur-Verlag München 2003. Internet: www.rolf-goessner.de. ber

 

 

Löwenbergs Anwältin Angelika Lex widerspricht dieser Auslegung: Der Angeklagte sei als Verfolgter des Naziregimes und ehemaliger KZ-Häftling besonders legitimiert, sich zu diesem die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Thema zu äußern. Seine Ausführungen seien daher von Artikel 5 Grundgesetz gedeckt; eine Abwägung der Interessen hätte hier zugunsten der freien Meinungsäußerung dieses Zeitzeugen auszufallen. Genau genommen hatte Löwenberg mit keinem Wort zu einer Straftat auf-gerufen. Aus seinem Munde war keine Aufforderung an die Kundgebungsteilnehmer zu vernehmen, die Versammlung der Rechten grob zu stören, zu sprengen oder mit Gewalt zu verhindern, auch keine Aufforderung zu konkretem Handeln. Die Aussage, es sei legal und legitim, sich den "Totengräbern der Demokratie entgegenzustellen", ist interpretationsfähig. Denn es gibt viele Möglichkeiten, sich "entgegenzustellen" - auch verbal oder symbolisch, durch bloße Präsenz am Straßenrand, mit Parolen oder Transparenten. Im übrigen hatte der Angeklagte am Ende seiner Rede noch angefügt, dass jeder einzelne für sich selbst entschei-den müsse, wohin er gehen und was er tun wolle.

Unterschiedlicher Umgang

Martin Löwenberg ist nicht der einzige, der wegen seines gewaltlosen antifaschistischen Engagements abgeurteilt wurde. Auch der Maschinenschlosser Christiaan B., dessen Vater im KZ Dachau inhaftiert war, wurde zu einer Geldstrafe verurteilt - nur weil er Gegendemonstranten und Passanten angesprochen und Ihnen kopierte Stadtpläne überreicht hatte, auf denen die Nazi-Tour eingezeichnet war.

Siggi Benker, grüner Stadtrat im Münchner Rathaus, traf es eher symbolisch. Ihm war zum Vorwurf gemacht worden, auf einer Pressekonferenz zu einer Gegende-monstration aufgerufen zu haben. Tatsächlich hatte er in einer Presseerklärung dazu aufgefordert, sich dem rechten Protestmarsch "friedlich in den Weg zu stellen". Nach erheblichem Medienwirbel hat ihn das Amtsgericht wegen "Aufforderung zu einer Straftat" lediglich verwarnt und die geringe Geldstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Der Münchener Oberbürgermeister Christian Ude blieb indessen völlig unbehelligt, obwohl er sich in einem Interview der Münchner "Abendzeitung" eindeutig positioniert hatte: "Sich in den Weg stellen - eine gute Sache."

Mit dem Antinazi-Protest wird also recht unterschiedlich umgegangen. Doch mehren sich seit geraumer Zeit die Anklagen gegen Menschen, die zu solchen Protesten aufriefen oder sich den Nazis in den Weg stellen. Dabei gerät eine früher eher selten angewandte Strafnorm mehr und mehr zu einer juristischen Keule gegen antifaschistische Proteste - nämlich Paragraf 21 Versammlungsgesetz (VersG). In verschiedenen Bundesländern, gehäuft aber in Nordrhein-Westfalen, kam es in den Jahren 2003/2004 zu entsprechenden Verfahren. Allein die Staatsanwaltschaft Wuppertal hatte anlässlich eines Ereignisses etwa 70 Strafverfahren wegen Verstoßes gegen Paragraf 21 VersG eingeleitet und Strafbefehle jeweils in Höhe von 300 Euro verschickt. Die Betroffenen, die sich im Januar 2003 an spontanen Protesten gegen einen nicht verbotenen Neonazi-Aufmarsch beteiligt hatten, folgten dem Aufruf "Wuppertal stellt sich quer". Die meisten legten Einspruch gegen die Strafbefehle ein. Die Gerichtsverfahren führten trotz gleicher Sachverhalte zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen - je nach dem, welches Gericht, welcher Richter zuständig war. Teilweise sind die Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen.

Im Vorfeld ersticken

Die weit gefasste Norm des Paragrafen 21 VersG kann von Staatsschutz und Staatsanwaltschaften dazu gebraucht oder missbraucht werden, jeglichen antifaschistischen Protest bereits im Vorfeld zu kriminalisieren und zu ersticken. Damit werden schon Protest-Vorbereitungen und der bloße Aufruf, sich den Rechten entgegenzustellen, zu Straftaten - sofern die Gerichte Paragraf 21 nicht im Lichte der Meinungsfreiheit eng ausgelegen und der Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gebührend berücksichtigt wird. Eine solche Kriminalisierung beeinträchtigt die Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit - nach dem Motto: Nazis darf man sich nicht ungestraft in den Weg stellen. So wird der geforderte zivilgesellschaftliche und gewaltfreie Protest gegen Neonazismus und Rassismus von Staats wegen behindert.

 

 

Der Grundrechte-Report

 

 

Der Grundrechte-Report - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland erscheint jährlich im Fischer-Verlag, Frankfurt/M. Er wird von neun namhaften Bürgerrechtsorganisationen herausgegeben: Gustav-Heinemann-Initiative, Humanistische Union, Internationale Liga für Menschenrechte, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Pro Asyl, Republikanischer Anwältinnen- und Anwaltsverein, Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, Neue Richtervereinigung und Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen.

Der Report ist erstmals 1997 als "alternativer Verfassungsschutzbericht" erschienen.

Erscheinungstermin: Am heutigen Montag, dem 23. Mai, dem Tag des Grundgesetzes. Im aktuellen Jahrbuch wird anhand zahlreicher aktueller Fälle dokumentiert, wie im Namen des Anti-Terror-Kampfes und umstrittener Sparzwänge Menschenwürde und Menschenrechte zur Disposition stehen. Zugleich werden auch Beispiele für die erfolgreiche Verteidigung von Grundrechten vorgestellt. Internet: www.grundrechte-report.de ber

 

 

FR vom 24. Mai 2005

Gradmesser Menschenwürde

Report geht Verletzung von Grundrechten in Deutschland nach

Vertreter von Bürgerrechtsinitiativen haben vor einer weiteren Aufweichung der Freiheitsrechte in Deutschland gewarnt. Ihr Grundrechte-Report 2005 dokumentiert 45 Fälle von Menschenrechtsverletzungen hierzulande.

VON KATHRIN HARTMANN

Berlin · 23. Mai · "Dass das Folterverbot einmal Thema für eine deutsche innenpolitische Debatte sein könnte, das hätte ich niemals vermutet", sagte Heiner Bielefeldt, Leiter des Deutschen Instituts für Menschenrechte, der am gestrigen Tag des Grundgesetzes den Bericht vorstellte. Die politische und juristische Diskussion, in der Stimmen laut würden, das Folterverbot zu relativieren, sei "symptomatisch für die Stellung von Grundrechten in Deutschland".

Laut Elke Stevens vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, Mitherausgeberin des Buches, ist die "fatale Vorstellung, die Grundrechte einzelner könnten gegeneinander verrechnet werden", der Dominanz von Sicherheitspolitik und Terrorismusbekämpfung nach dem 11. September 2001 geschuldet. Dies zeige sich besonders im neuen Luftsicherheitsgesetz, das den Abschuss von Passagierflugzeugen unter bestimmten Umständen ermöglicht.

Das Leben der einen zu opfern, um andere zu retten, breche "radikal mit dem Grundgesetz, nach dem jedem menschlichen Leben der gleiche Wert und die gleiche Würde zukommt". In "kaum wahrnehmbaren Schritten" würden Menschenrechte beschränkt, oft nachdem sie in der politischen Debatte hinterfragt worden seien.

Die beiden Todesopfer der Brechmittelpolitik gegen Drogenschmuggler in Hamburg, der Asylsuchende Aamir Ageeb, der bei seiner Abschiebung unter den Händen der Bundesgrenzschutzbeamten erstickte, das Berufsverbot für einen Realschullehrer in Heidelberg, der in der Antifa-Bewegung engagiert ist - diese Fälle aus dem Report zeigten diese Entwicklung beispielhaft auf. "Wie staatliche Institutionen den Schwächsten in der Gesellschaft gegenüber treten", sei Gradmesser für die Rechte und die Würde der Menschen hierzulande, sagte Steven. Dazu gehörten auch die sozialen Grundrechte, die durch den Rückbau des Sozialstaates, die Sparpolitik und vor allem Hartz IV zunehmend eingeschränkt würden.

Neun Herausgeber

Der Grundrechte-Report zur Lage der Bürger- und Menschenrechte erscheint seit 1997 jährlich im Fischer-Verlag und wird von neun Menschenrechtsorganisation herausgegeben: Humanistische Union, Gustav Heinemann-Initiative, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, Pro Asyl, Republikanischer Anwaltsverein, Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen, Internationale Liga für Menschenrechte, Neue Richtervereinigung.