Aufrufe und Demonstrationen gegen
Neonazi-Aufmärsche werden von Gerichten zunehmend kriminalisiert / Von Rolf
Gössner
Der Grundrechte-Report, verfasst von neun deutschen Bürgerrechtsorganisationen, fragt jedes Jahr nach Schutz und Beachtung der Verfassung und schildert aktuelle Missstände. Rolf Gössner von der Internationalen Liga für Menschenrechte rügt Gerichte, die Versammlungsfreiheit höher einstufen als Meinungsfreiheit.
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Martin Löwenberg ist 78 Jahre alt, als
er am 22. September 2003 vor dem Amtsgericht München steht, weil er dazu
aufgerufen hatte, sich in München einem Aufmarsch von Alt- und Neonazis
entgegen zu stellen. Eigentlich ein anerkannt löbliches Tun, rufen doch auch
Politiker zuweilen einen "Aufstand der Anständigen" gegen Neonazis
aus. Aber nicht jeder "Aufständische" wird als
"Anständiger" anerkannt. Der Amtsrichter verurteilte den
Antifaschisten Löwenberg zu einer Geldstrafe.
Der
"Täter" hatte im Oktober 2002 während einer Kundgebung öffentlich
dazu aufgerufen, sich in München gemeinsam einem Neonazi-Aufmarsch gegen die
Wehrmachtsausstellung in den Weg zu stellen. Er halte es für legitim und legal,
sich den "Totengräbern der Demokratie entgegenzustellen".
Diese
Auffassung beeindruckte das Gericht nur wenig. Der Angeklagte habe illegal
gehandelt, weil er durch "sein Verhalten öffentlich und in einer
Versammlung zu einer Straftat aufgerufen" habe. Das ist nach Paragraf 111
Strafgesetzbuch (StGB) strafbar und kann mit Freiheitsstrafe oder mit
Geldstrafe geahndet werden. Zu welcher Straftat Löwenberg aufgerufen haben
soll, steht in Paragraf 21 Versammlungsgesetz (VersG): "Wer in der
Absicht, nichtverbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu
sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt
oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu
drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."
Berufung
verworfen
Das
Urteil löste in Bayern einen Proteststurm aus - zumal mittlerweile bekannt
wurde, wie verharmlosend die bayerische Landesregierung lange Zeit mit dem
Neonaziproblem umgegangen war, insbesondere mit der Terrorgruppe um den Neonazi
Martin Wiese. Dieser hatte besagten Nazi-Aufmarsch angemeldet - und sitzt
inzwischen wegen geplanter Bombenattentate gegen jüdische Einrichtungen in
U-Haft. (Wiese wurde inzwischen rechtskräftig verurteilt, d. Red.).
Ende
September 2004 wurde Löwenbergs Berufung verworfen. Damit ist er wegen seines gewaltlosen
antifaschistischen Engagements rechtskräftig verurteilt. Die "Süddeutsche
Zeitung" titelt am 24. September 2004: "Ex-KZ-Häftling wegen
Nazi-Protest verurteilt". Löwenberg ist Überlebender des Naziregimes. Er
überlebte Konzentrationslager und Zwangsarbeit - in der polizeilichen Ermittlungsakte
ist die Rede von einem ehemaligen "Kfz-Häftling".
Dem
Gericht hatte Löwenberg deutlich zu machen versucht, dass er als besonders
schmerzlich empfunden habe, wie untätig der Großteil der deutschen Bevölkerung
Anfang der 30-er Jahre dem Naziterror zugesehen hatte. Schließlich habe der
Kampf um die Straße beim Aufstieg des Nationalsozialismus eine bedeutende Rolle
gespielt. Deshalb kämpft Löwenberg bis ins hohe Alter gegen solche Aufmärsche.
Grundrechte
abwägen
Das
Gericht bescheinigte dem Angeklagten zwar eine "achtbare
Gewissensentscheidung". Doch: "Respektable Gewissensentscheidungen
rechtfertigen oder entschuldigen nicht die Übertretung von Gesetzen". Das
Gericht hatte bei seiner Entscheidung zwei Grundrechte abzuwägen: Die Meinungsfreiheit
des Angeklagten (Artikel 5 Grundgesetz) und die Versammlungsfreiheit der
Neonazis (Artikel 8Grundgesetz). Das Ergebnis des richterlichen
Abwägungsprozesses: Der Angeklagte könne sich nicht auf Artikel 5 Absatz 1
berufen, denn dieses Grundrecht finde seine Schranken in den Regelungen des
Strafgesetzbuches und des Versammlungsrechts. Zwar hätte der Angeklagte zulässigerweise
zum "Protest vor Ort - am Rande des Aufzuges" aufrufen dürfen - aber
es sei ihm untersagt, den nicht verbotenen Aufmarsch zu verhindern, zu sprengen
oder sonst zu vereiteln oder grob zu stören. Insoweit sei seine
Meinungsfreiheit durch Paragraf 21 VersG "geringfügig eingeschränkt".
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Löwenbergs
Anwältin Angelika Lex widerspricht dieser Auslegung: Der Angeklagte sei als
Verfolgter des Naziregimes und ehemaliger KZ-Häftling besonders legitimiert,
sich zu diesem die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Thema zu äußern. Seine
Ausführungen seien daher von Artikel 5 Grundgesetz gedeckt; eine Abwägung der
Interessen hätte hier zugunsten der freien Meinungsäußerung dieses Zeitzeugen
auszufallen. Genau genommen hatte Löwenberg mit keinem Wort zu einer Straftat
auf-gerufen. Aus seinem Munde war keine Aufforderung an die Kundgebungsteilnehmer
zu vernehmen, die Versammlung der Rechten grob zu stören, zu sprengen oder mit
Gewalt zu verhindern, auch keine Aufforderung zu konkretem Handeln. Die
Aussage, es sei legal und legitim, sich den "Totengräbern der Demokratie
entgegenzustellen", ist interpretationsfähig. Denn es gibt viele
Möglichkeiten, sich "entgegenzustellen" - auch verbal oder
symbolisch, durch bloße Präsenz am Straßenrand, mit Parolen oder Transparenten.
Im übrigen hatte der Angeklagte am Ende seiner Rede noch angefügt, dass jeder
einzelne für sich selbst entschei-den müsse, wohin er gehen und was er tun
wolle.
Unterschiedlicher
Umgang
Martin
Löwenberg ist nicht der einzige, der wegen seines gewaltlosen antifaschistischen
Engagements abgeurteilt wurde. Auch der Maschinenschlosser Christiaan B.,
dessen Vater im KZ Dachau inhaftiert war, wurde zu einer Geldstrafe verurteilt -
nur weil er Gegendemonstranten und Passanten angesprochen und Ihnen kopierte
Stadtpläne überreicht hatte, auf denen die Nazi-Tour eingezeichnet war.
Siggi
Benker, grüner Stadtrat im Münchner Rathaus, traf es eher symbolisch. Ihm war
zum Vorwurf gemacht worden, auf einer Pressekonferenz zu einer
Gegende-monstration aufgerufen zu haben. Tatsächlich hatte er in einer
Presseerklärung dazu aufgefordert, sich dem rechten Protestmarsch
"friedlich in den Weg zu stellen". Nach erheblichem Medienwirbel hat
ihn das Amtsgericht wegen "Aufforderung zu einer Straftat" lediglich
verwarnt und die geringe Geldstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Der Münchener
Oberbürgermeister Christian Ude blieb indessen völlig unbehelligt, obwohl er
sich in einem Interview der Münchner "Abendzeitung" eindeutig
positioniert hatte: "Sich in den Weg stellen - eine gute Sache."
Mit dem
Antinazi-Protest wird also recht unterschiedlich umgegangen. Doch mehren sich
seit geraumer Zeit die Anklagen gegen Menschen, die zu solchen Protesten aufriefen
oder sich den Nazis in den Weg stellen. Dabei gerät eine früher eher selten
angewandte Strafnorm mehr und mehr zu einer juristischen Keule gegen antifaschistische
Proteste - nämlich Paragraf 21 Versammlungsgesetz (VersG). In verschiedenen
Bundesländern, gehäuft aber in Nordrhein-Westfalen, kam es in den Jahren
2003/2004 zu entsprechenden Verfahren. Allein die Staatsanwaltschaft Wuppertal
hatte anlässlich eines Ereignisses etwa 70 Strafverfahren wegen Verstoßes gegen
Paragraf 21 VersG eingeleitet und Strafbefehle jeweils in Höhe von 300 Euro
verschickt. Die Betroffenen, die sich im Januar 2003 an spontanen Protesten
gegen einen nicht verbotenen Neonazi-Aufmarsch beteiligt hatten, folgten dem Aufruf
"Wuppertal stellt sich quer". Die meisten legten Einspruch gegen die
Strafbefehle ein. Die Gerichtsverfahren führten trotz gleicher Sachverhalte zu
ganz unterschiedlichen Ergebnissen - je nach dem, welches Gericht, welcher
Richter zuständig war. Teilweise sind die Verfahren noch nicht rechtskräftig
abgeschlossen.
Im Vorfeld ersticken
Die weit
gefasste Norm des Paragrafen 21 VersG kann von Staatsschutz und
Staatsanwaltschaften dazu gebraucht oder missbraucht werden, jeglichen
antifaschistischen Protest bereits im Vorfeld zu kriminalisieren und zu
ersticken. Damit werden schon Protest-Vorbereitungen und der bloße Aufruf, sich
den Rechten entgegenzustellen, zu Straftaten - sofern die Gerichte Paragraf 21
nicht im Lichte der Meinungsfreiheit eng ausgelegen und der
Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gebührend berücksichtigt
wird. Eine solche Kriminalisierung beeinträchtigt die Grundrechte auf freie
Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit - nach dem Motto: Nazis darf man sich
nicht ungestraft in den Weg stellen. So wird der geforderte
zivilgesellschaftliche und gewaltfreie Protest gegen Neonazismus und Rassismus
von Staats wegen behindert.
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Report geht Verletzung von Grundrechten in Deutschland nach
Vertreter von
Bürgerrechtsinitiativen haben vor einer weiteren Aufweichung der Freiheitsrechte
in Deutschland gewarnt. Ihr Grundrechte-Report 2005 dokumentiert 45 Fälle von
Menschenrechtsverletzungen hierzulande.
VON
KATHRIN HARTMANN
Berlin ·
23. Mai · "Dass das Folterverbot einmal Thema für eine deutsche
innenpolitische Debatte sein könnte, das hätte ich niemals vermutet",
sagte Heiner Bielefeldt, Leiter des Deutschen Instituts für Menschenrechte, der
am gestrigen Tag des Grundgesetzes den Bericht vorstellte. Die politische und
juristische Diskussion, in der Stimmen laut würden, das Folterverbot zu
relativieren, sei "symptomatisch für die Stellung von Grundrechten in
Deutschland".
Laut Elke
Stevens vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, Mitherausgeberin des
Buches, ist die "fatale Vorstellung, die Grundrechte einzelner könnten
gegeneinander verrechnet werden", der Dominanz von Sicherheitspolitik und
Terrorismusbekämpfung nach dem 11. September 2001 geschuldet. Dies zeige sich
besonders im neuen Luftsicherheitsgesetz, das den Abschuss von Passagierflugzeugen
unter bestimmten Umständen ermöglicht.
Das Leben
der einen zu opfern, um andere zu retten, breche "radikal mit dem
Grundgesetz, nach dem jedem menschlichen Leben der gleiche Wert und die gleiche
Würde zukommt". In "kaum wahrnehmbaren Schritten" würden Menschenrechte
beschränkt, oft nachdem sie in der politischen Debatte hinterfragt worden
seien.
Die beiden
Todesopfer der Brechmittelpolitik gegen Drogenschmuggler in Hamburg, der Asylsuchende
Aamir Ageeb, der bei seiner Abschiebung unter den Händen der
Bundesgrenzschutzbeamten erstickte, das Berufsverbot für einen Realschullehrer
in Heidelberg, der in der Antifa-Bewegung engagiert ist - diese Fälle aus dem
Report zeigten diese Entwicklung beispielhaft auf. "Wie staatliche
Institutionen den Schwächsten in der Gesellschaft gegenüber treten", sei
Gradmesser für die Rechte und die Würde der Menschen hierzulande, sagte Steven.
Dazu gehörten auch die sozialen Grundrechte, die durch den Rückbau des
Sozialstaates, die Sparpolitik und vor allem Hartz IV zunehmend eingeschränkt
würden.
Neun
Herausgeber
Der
Grundrechte-Report zur Lage der Bürger- und Menschenrechte erscheint seit 1997
jährlich im Fischer-Verlag und wird von neun Menschenrechtsorganisation
herausgegeben: Humanistische Union, Gustav Heinemann-Initiative, Komitee für
Grundrechte und Demokratie, Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, Pro
Asyl, Republikanischer Anwaltsverein, Vereinigung demokratischer Juristinnen
und Juristen, Internationale Liga für Menschenrechte, Neue Richtervereinigung.