Rolf Gössner

Rechtsstaatswidrige Dauerüberwachung

Vier Jahrzehnte unter geheimdienstlicher Beobachtung
des Verfassungsschutzes

Vorrede: Nach 38 Jahren geheimdienstlicher Überwachung und fünf Jahren Verfahrensdauer hat das Verwaltungsgericht Köln am 3. Februar 2011 in dem Gerichtsverfahren Dr. Gössner ./. Bundesrepublik Deutschland ein sensationelles Urteil gesprochen: Die Dauerüberwachung des Klägers durch den bundesdeutschen Inlandsgeheimdienst, konkret: durch das beklagte Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), und die während dieses Zeitraums erfolgte Erhebung und Spei­che­rung von personenbezogenen Daten über den Kläger waren von Anfang an bis zur Beendigung der Beobachtung Ende 2008 rechtswidrig. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Dieses Urteil ist eine herbe Niederlage für den Inlandsgeheimdienst, es bescheinigt ihm einen rekordverdächtigen, vier Jahrzehnte währenden Rechtsbruch. Die Internationale Liga für Menschenrechte fordert nach der skandalösen und rechtswidrigen Langzeitüberwachung und auf Grundlage des vorliegenden Urteils drastische politische und gesetzliche Konsequenzen, vor allem, weil es sich hier um keinen Einzelfall handeln dürfte.

Gössners Anwalt Dr. Udo Kauß (Freiburg) bezeichnet die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln als „Meilenstein“: „Dem Schutz der BürgerInnen vor staatlicher Überwachung wurde nach fünfjährigem Rechtstreit zumindest rückwirkend Geltung verschafft. Die im Prozess vom Bundesamt für Verfassungsschutz für sich in Anspruch genommene Deutungshoheit über das, was in diesem Staat zulässiger Weise gesagt und geschrieben werden darf, ist dem Geheimdienst entzogen worden. Eine schallende Ohrfeige mit hoffentlich nachhaltiger Wirkung für die Erfassungspraxis nicht nur des Bundesamtes für Verfassungsschutz, sondern aller bundesdeutschen Geheimdienste. Das Amt wird seine Beobachtungs- und Erfassungspraxis gründlich ändern müssen.“

Dieses Urteil hat nach Auffassung der Internationalen Liga für Menschenrechte über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung, denn es geht um ein brisantes Problem, das auch andere Publizisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtler betrifft: Welche Grenzen sind den kaum kontrollierbaren Nachrichtendiensten und ihren geheimen Aktivitäten gezogen – speziell im Umgang mit Berufsgeheimnisträgern und im Rahmen unabhängiger Men­schen­rechtsarbeit von Nichtregierungsorganisationen?

Rekordverdächtige Überwachungsgeschichte – aus der Sicht des Betroffenen

In eigener Sache zu reden oder zu schreiben, bedeutet zwangsläufig, persönlich zu werden. Wie inzwischen gerichtsbekannt und nachgewiesen, bin ich seit 1970 fast vier Jahrzehnte lang ununterbrochen vom Bundesamt für VS beobachtet und ausgeforscht worden – eine der längsten dokumentierten Überwachungsgeschichten in der Bundesrepublik. Geheimdienstlich beobachtet wurde ich als Jurastudent, später als Gerichtsreferendar und seitdem ein ganzes Arbeitsleben lang in allen meinen beruflichen und ehrenamtlichen Funktionen – also als Publizist, Buchautor, Rechtsanwalt, Parlamentarischer Berater, Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitherausgeber des alljährlich erscheinenden Grundrechte-Reports und der Zweiwochenschrift Ossietzky sowie auch als Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises „BigBrotherAward“.

Ich erlebe es immer wieder, dass viele Menschen in ungläubiges Staunen verfallen, wenn sie von dieser rekordverdächtigen Überwachungsgeschichte erfahren. Kann das wirklich wahr sein, oder leidet da einer an Verfolgungswahn? Redet der von Stasi-Methoden oder vom bundesdeutschen Rechtsstaat? Und tatsächlich: Womit hat jemand in diesem Land der freiheitlich demokratischen Grundordnung verdient, sein gesamtes Studenten-, Ausbildungs- und Arbeitsleben – vier von sechs Lebensjahrzehnten hindurch – ununterbrochen von einem Geheimdienst beobachtet und ausgeforscht zu werden? Das muss doch gute Gründe im bösen Tun haben. Warum sonst wird ein Bürger dieses Landes quasi als gefährlicher Staats- und Verfassungsfeind einer solch „fürsorglichen Belagerung“ (Heinrich Böll) unterzogen?

Tatsächlich geht es um mein gesamtes bewusstes Leben – und um das, was der Verfassungsschutz aus seiner selektiven, ideologisch motivierten Sicht aus diesem Leben macht: Er zeichnet in Personenakten und Schriftsätzen ein aus zeitgeschichtlichen Zusammenhängen herausgerissenes Bild, konstruiert abstruse Anschuldigungen und bedient sich einer geradezu inquisitorischen Beweisführung. Heraus kommt ein denunziatorisches Feind- und Zerrbild, in dem ich mich nicht wieder erkenne und vor dem ich, auf den ersten Blick zumindest, selbst erschrecken würde. Letztlich geht es um die Deutungshoheit über ein politisches Leben, über politisches Handeln und politische Kontakte, deren sich der Verfassungsschutz mit seiner obsessiven Gesinnungsschnüffelei und seiner amtlichen Interpretation oder besser: Fehlinterpretation bemächtigte. Nun versuche ich, mir diesen Teil meiner eigenen Lebensgeschichte wieder anzueignen, um die Deutung politischer Vorgänge und Entwicklungen nicht einem letztlich unkontrollierbaren und skandalträchtigen Geheimdienst zu überlassen. Und ich musste mich dabei auch der bangen Frage stellen, was das Wissen um meine Beobachtung und die Negativbewertung durch den Verfassungsschutz mit mir und aus mir gemacht hat, ob sich mein Verhalten dadurch etwa verändert, ob ich mich womöglich schleichend anpasse, Themen oder Kontakte meide – ob also die Schere im Kopf seitdem klammheimlich ihr zerstörerisches Unwesen treibt.

Diese Aufarbeitung und Selbsthinterfragung muss öffentlich geschehen. Denn auch die bundesdeutsche Gesellschaft und ihre kritischen Mitglieder müssen sich angesichts eines solch exemplarischen Falles die dringliche Frage stellen, was all dies für die Meinungs- und Pressefreiheit, für Mandatsgeheimnis und Informantenschutz, für Dialogbereitschaft und Offenheit in diesem Land bedeutet. Insofern handelt es sich um ein brisantes Lehrstück in Staatskunde, ein Lehrstück in Sachen Bürgerrechte und Demokratie. Selbstverständlich ist dies kein Einzelfall, schließlich gab und gibt es zahlreiche andere Fälle von Bespitzelung mit zum Teil weit gravierenderen Folgen, und zwar in allen Jahrzehnten seit Bestehen der Bundesrepublik: ob in den Zeiten der Kommunistenverfolgung der 1950er und 60er Jahre, in Zeiten des Deutschen Herbstes der 70er Jahre oder erstarkender politisch-sozialer Bewegungen der 80er Jahre; auch nach dem offiziellen Ende des Kalten Krieges bis heute sind Parteien, Gewerkschaften und politische Organisationen bespitzelt und infiltriert worden. Die Überwachungs- und Skandalgeschichte des Verfassungsschutzes ist jedenfalls ellenlang.

Was wirft mir dieser euphemistisch „Verfassungsschutz“ titulierte Geheimdienst durch die Jahrzehnte hindurch eigentlich vor? Zunächst legte er mir meine beruflichen und ehrenamtlichen Kontakte zu angeblich linksextremistischen und „linksextremistisch beeinflussten“ Gruppen zur Last. Dazu zählen politische Parteien wie die DKP, Organisationen wie die Rechtshilfegruppe „Rote Hilfe“ oder die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), aber auch Presseorgane wie Demokratie und Recht, Blätter für deutsche und internationale Politik, Geheim, junge Welt oder Neues Deutschland, in denen ich neben vielen anderen Medien veröffentliche oder interviewt werde.

Nun, jeder Autor und jeder Referent freut sich über eine treue und kritische Leser- und Zuhörerschaft. Und so nahm ich durchaus mit Genugtuung zur Kenntnis, dass Bedienstete des Bundesamtes über mehrere Beamten-Generationen hinweg zu meinen treuesten Mitlesern und Mithörern gehörten – leider auch zu den verständnislosesten und böswilligsten.

So wurde durch die Jahrzehnte hindurch alles registriert, was ich von mir gegeben habe: ob in gedruckter Form, als Artikel oder im Interview. Selbst Berichte über mich und meine Bücher wurden gesammelt und mir zur Last gelegt, wenn sie in besagten inkriminierten Medien erschienen sind. Desgleichen interessierte sich der Geheimdienst für meine Äußerungen, wenn ich referierte und diskutierte, etwa in öffentlichen Veranstaltungen und auch geschlossenen Sitzungen. Das Bundesamt identifizierte mich dabei unzulässigerweise mit den Medien, in denen ich publizierte, mit den Veranstaltern, bei denen ich referierte und Diskussionen führte, und mit meinen Mandanten, die ich beraten habe.

Vorwurf »Kontaktschuld«

Eigene verfassungsfeindliche Ziele und Beiträge wurden mir zunächst nicht unterstellt. Also: Nicht was ich sagte oder schrieb, war für die Beobachtung entscheidend, sondern in welchem politischen Umfeld dies geschah. Meine diesbezüglichen Kontakte verdichtete das Amt zu einem regelrechten Kontaktprofil, das mir als eine Art „Kontaktschuld“ angelastet wird. Hieraus folgert das BfV schließlich messerscharf eine „nachhaltige Unterstützung solcher nicht verbotenen, aber als „linksextremistisch“ geltenden Personenzusammenschlüsse und Presseorgane, die ich – so wörtlich –, als „prominenter Jurist“ aufgewertet und gesellschaftsfähig gemacht haben soll.

Dabei haben die Verfassungsschützer alle Not, die jahrzehntelange Überwachung einer Einzelperson, die in keiner politischen Organisation oder Partei organisiert war, nur auf deren berufliche Kontakte zu stützen und mit „nachhaltiger Unterstützung“ zu rechtfertigen. Deshalb verstieg sich das Bundesamt zu folgender abenteuerlichen Konstruktion: „Dabei agiert er ganz bewusst nicht als Mitglied einer offen extremistischen Partei oder Organisation. Nicht etwa, weil er sich von den verfassungsfeindlichen Zielen der unterstützten Organisationen distanziert, sondern weil er so seine Glaubwürdigkeit nach Außen als vermeintlich unabhängiger Experte zu wahren versucht.“

Darin steckt die diffamierende Behauptung, ich sei seit Jahrzehnten taktisches Nichtmitglied diverser, durchaus disparater extremistischer Parteien oder Organisationen – sozusagen als ideeller Gesamtlinksextremist.

Doch dabei blieb es nicht. Das Bundesamt ließ im Laufe der Zeit die Anschuldigungen gegen mich stufenweise eskalieren – so mit dem Vorwurf, ich sei nicht nur Unterstützer, sondern zeitweise doch auch Mitglied in „linksextremistischen Personenzusammenschlüssen“ gewesen: nämlich im Sozialdemokratischen/Sozialistischen Hochschulbund (SHB) und in der Redaktion des geheimdienstkritischen Magazins Geheim. Die letzte Eskalationsstufe: Das BfV zieht auch das von mir Geschriebene und Gesagte in Misskredit und setzt es dem Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit aus – neue Vorwürfe, die zuvor keinerlei Rolle gespielt hatten, die aber nun nachträglich die unglaubliche Überwachungsgeschichte zusätzlich rechtfertigen sollen. Mit meiner „diffamierenden“ Kritik der bundesdeutschen Sicherheitspolitik, der Sicherheitsorgane und besonders des Verfassungsschutzes, darüber hinaus mit meiner Kritik am KPD-Verbot und an den Berufsverboten (die es in der Bundesrepublik nach offizieller Lesart nie gab), so der Geheimdienst-Tenor, wolle ich den Staat wehrlos machen und den linksextremistischen Bestrebungen und der revolutionären Umwälzung schutzlos ausliefern. Außerdem wird mir meine fehlende Distanzierung von der DDR, der Stasi, der UdSSR, dem Gulag und allen Verbrechen des Kommunismus zur Last gelegt – gleichzeitig werde ich der einseitigen Kritik am Westen bezichtigt. Brauchen wir dazu einen Inlandsgeheimdienst? Das BfV maßt sich damit eine Deutungshoheit über meine Texte (und auch über Nichtgeschriebenes) an und übt sie in geradezu inquisitorischer Weise aus – etwa nach dem Motto: „Was der Kläger da äußert, klingt zwar auf den ersten Blick ganz demokratisch – aber gemeint hat er etwas ganz Anderes“. Diese ideologischen Textinterpretationen führen weit zurück in die tiefsten 1960er/70er Jahre des Kalten Krieges, dessen überwunden geglaubter Geist hier traurige Urstände feiert.

Von meiner Überwachung habe ich erfahren, weil ich 1996 beim Bundesamt einen Antrag auf Auskunft über die dort zu meiner Person gespeicherten Daten gestellt hatte. Als Antwort bekam ich ein Personendossier mit einer Sündenliste – Artikel, Interviews und Reden in den falschen Zeitungen oder Veranstaltungen –, die bis 1970 zurückreichte. Etwa alle zwei Jahre fragte ich erneut nach, um das jeweils neueste Sünderregister kennenzulernen, das mir dann auch prompt zugeschickt wurde.

Da die Überwachung munter weiterging, auch in Zeiten der rot-grünen Bundesregierung, reichte ich Ende 2005 über meinen Freiburger Anwalt Dr. Udo Kauß beim zuständigen Verwaltungsgericht Köln Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland ein, um vollständige Einsicht in meine Personenakten zu bekommen sowie die jahrzehntelange Überwachung gerichtlich für rechtswidrig erklären zu lassen.

Der fünf Jahre dauernde Prozess hat einiges zu Tage gefördert. Das Gericht hat das Bundesamt dazu verdonnert, meine gesamte Personenakte seit 1970 bis 2007 vorzulegen, was inzwischen geschehen ist – zum überwiegenden Teil allerdings mit geschwärzten Textstellen; ganze Seiten sind entnommen. Von allen über 2.000 mir vorgelegten Aktenseiten sind circa 1.750 Seiten ganz oder teilweise unleserlich oder manipuliert oder gar nicht vorgelegt worden, also etwa 85 Prozent; nur rund 15 Prozent sind offen und vollständig lesbar.

 



 

Die Verheimlichung ganzer Aktenteile geht auf umfangreiche Sperrerklärungen des Bundesinnenministeriums als oberster Aufsichtsbehörde des Bundesamtes zurück. Begründung: Würde ihr Inhalt bekannt, könnte dies dem „Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten“; die Funktionsfähigkeit des VS würde beeinträchtigt, wenn verdeckte Arbeitsweise und operative Interessen bekannt werden (das nennt sich dann „Ausforschungsgefahr“). Und die Geheimhaltung diene in erster Linie dem Schutz der Informationsquellen, deren Identität nicht enttarnt werden dürfe („Quellenschutz“); denn eine Enttarnung dieser „Quellen“ könne zu einer „Gefährdung von Leben, Gesundheit oder Freiheit“ von V-Leuten, Hinweisgebern und VS-Bediensteten führen. Als ob die – wohl von mir und meinesgleichen – Repressalien zu befürchten hätten.

Höherrangiges Geheimhaltungsinteresse

Gegen diese Aktenverweigerung klagte ich vor dem Bundesverwaltungsgericht, um Sperrerklärungen und Geheimhaltung in einem sogenannten In-camera-Verfahren überprüfen zu lassen. Dabei handelt es sich um ein rechtsstaatlich hoch problematisches Geheimverfahren – eine zwangsläufige Folge von Geheimdienstarbeit, die sich bis hinein in justizielle Verfahren verlängert. Nach ihrer Auswertung der gesperrten Aktenteile in geheimer Sitzung in einem abhörsicheren Raum und ohne meine Mitwirkung kamen die höchsten Verwaltungsrichter zu dem Ergebnis, dass diese Aktenteile weiterhin aus Gründen des Quellenschutzes, der Ausforschungsgefahr und des Staatswohls geheim gehalten werden müssten. Somit konnte das Verwaltungsgericht Köln nur auf dieser äußerst eingeschränkten Beweisgrundlage seine Entscheidung über Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Dauerbeobachtung treffen. Und das soll rechtsstaatlich sein?

Trotz dieser höchstrichterlich abgesegneten amtlichen Beweismittelunterdrückung im staatlichen Geheimhaltungsinteresse ist die verbleibende Dokumentensammlung dennoch recht aufschlussreich. So hat mich sehr erstaunt, wie viele Behörden, andere Stellen und Personen sich in meinem Fall als denunziatorische Zuträger für den Verfassungsschutz betätigt haben und wie viele Spitzelberichte über meine Referate und sonstigen Aktivitäten angefertigt worden sein müssen.

Wenige Tage vor dem ersten Verhandlungstermin vor dem Verwaltungsgericht Köln Ende 2008 teilte das BfV dem Gericht überraschend mit, dass meine Beobachtung „nach aktuell erfolgter Prüfung“ durch das Bundesinnenministerium und das Bundesamt eingestellt worden sei und die zu mir erfassten Daten „löschungsreif“ seien und ab sofort bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens gesperrt würden, also nicht mehr verwendet werden dürfen. Ohne Klage wäre ein Ausstieg aus dieser Überwachungsgeschichte wohl kaum erfolgt, so dass ich womöglich weiterhin, bis ins hohe Rentenalter, unter Beobachtung stünde. Ob man jedoch der lapidaren Mitteilung Glauben schenken kann, bleibt erstmal abzuwarten, zumal eine Wiederaufnahme der Überwachung jederzeit möglich wäre.

Noch wenige Monate vor der Einstellung hatte das Amt auf meiner weiteren Beobachtung bestanden – selbst auf die besorgte Nachfrage des Vorsitzenden Verwaltungsrichters hin, ob meine zwischenzeitlich erfolgte Wahl zum Stellvertretenden Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen nicht daran etwas ändern müsse. Nein, erklärte das Bundesamt forsch, auch Richter könnten unter gewissen Voraussetzungen, die bei mir vorlägen, beobachtet werden – trotz ihrer verfassungsrechtlich garantierten Unabhängigkeit. Also ein vom Verfassungsschutz beobachteter „Verfassungsfeind“ als Verfassungsrichter? Bei so viel Widersprüchlichkeit kann man leicht die Verfassung verlieren.

Erst kurz vor der mündlichen Verhandlung kam dann die Kehrtwende. Einer der Gründe, weshalb ich jetzt plötzlich nicht mehr beobachtet werden müsse, war höchst hörenswert: Die Bedrohungslage in der Bundesrepublik habe sich geändert, die knappen Ressourcen müssten nun für andere Schwerpunkte eingesetzt werden. Nach 38 Jahren, in deren Verlauf die DDR unter- und der Kalte Krieg zu Ende ging sowie der internationale Terrorismus als neue Gefahr erkannt wurde, gibt es also jetzt plötzlich eine neue Bedrohungslage, die eine Umorientierung und Umschichtung im BfV erforderlich macht! Wahrlich ein Fall für den Bundesrechnungshof wegen des Verdachts auf jahrzehntelange Verschwendung öffentlicher Gelder.

Im Übrigen behauptete das Amt, ich sei nicht mehr so viel in linksextremistischen Kreisen unterwegs. Die teils merkwürdige, teils unglaubwürdige, teils lächerliche Begründung der Beobachtungseinstellung lässt eher darauf schließen, dass nach einem Notausstieg gesucht wurde, um eine unhaltbare Situation zu beenden. Jedenfalls frage ich mich, was sich an meiner Arbeit, meinen beruflichen Aktivitäten und (inkriminierten) beruflichen Kontakten derart änderte, dass es nach vier Jahrzehnten zu einer solchen Kehrtwende kam. Habe ich doch immer noch die gleichen oder ähnlichen Kontakte wie bisher – sowohl in höchste staatliche Ämter und Funktionen als auch in Bereiche, die dem Verfassungsschutz als „linksextremistisch/beeinflusst“ gelten, die ihm also weiterhin missfallen müssten und ihn zu erneuter Überwachung reizen könnten. Eher sind noch weitere, auch internationale Kontakte hinzugekommen. Und auch meine Texte sind – so hoffen ich und meine Leserschaft – keinesfalls harmloser geworden.

Es war schon ein eigenartiges Gefühl, nach so langer Zeit fürsorglicher Dauerüberwachung plötzlich zu erfahren, dass man nicht mehr unter geheimdienstlicher Beobachtung stehe, sozusagen außer Kontrolle und staatsschutzlos. Doch ich fühlte mich zunächst erleichtert und war erfreut. Denn ich hatte immer damit rechnen müssen, dass es letztlich keine Vertraulichkeit mehr gab, ein Umstand, der auch mein gesamtes soziales Umfeld erheblich irritierte; wie sich herausstellte, war diese Irritation nicht unberechtigt. Ein ganzes Netzwerk von V-Leuten, Informanten und anderen Zuträgern versorgte den Verfassungsschutz mit unzähligen Informationen, die von Bediensteten des Bundesamtes fleißig gesammelt, gespeichert und bewertet wurden – im diensteifrigen Bemühen, ein Phantom-Persönlichkeits­bild von mir zu zeichnen.

Ich musste immer befürchten, dass bei meiner publizistischen Arbeit meine oft heiklen Recherchen und Kontakte zu bestimmten Informanten ausgespäht und meine Informanten dadurch gefährdet würden. Und tatsächlich habe ich mehrfach erlebt, dass meine Kontakte etwa mit dem einen oder anderen Informanten aus den Polizei- oder Geheimdienst-Apparaten ausgeforscht und observiert wurden – die jeweiligen Whistleblower kannten schließlich die Zuträger ihrer Behörde. Um meine Informanten dennoch so gut wie möglich zu schützen, bedurfte es oft anstrengender Klimmzüge. In Einzelfällen mussten Kontakte deshalb unterbleiben oder abgebrochen werden.

Seid Sand, nicht Öl im Getriebe …

Auch als Rechtsanwalt und Strafverteidiger musste ich mit geheimdienstlicher Ausforschung rechnen. Seit meine geheimdienstliche Überwachung nicht mehr zu verheimlichen war, sah ich mich genötigt, meine Mandanten darüber aufzuklären. Ich hatte immer wieder mit besorgten Ratsuchenden zu tun, die verständlicherweise Probleme hatten, sich mir unbefangen anzuvertrauen. Manche sind abgesprungen; wie viele den Kontakt zu mir deshalb erst gar nicht suchten, kann ich selbstverständlich nicht ergründen.

Das Mandatsgeheimnis und der Informantenschutz waren jedenfalls so nicht mehr durchgängig zu gewährleisten, die verfassungsrechtlich geschützten Vertrauensverhältnisse zwischen Anwalt und Mandant sowie zwischen Journalist und Informant waren erschüttert, meine Berufsfreiheit und berufliche Praxis damit mehr als beeinträchtigt.

Dass ein Geheimdienst wie der Verfassungsschutz über vier Jahrzehnte unkon­trolliert und rechtswidrig eine unabhängige Einzelperson, zudem einen Berufsgeheimnisträger beobachten, personenbezogene Daten erfassen, sammeln, auswerten und übermitteln kann und dass er dann auch noch den größten Teil der Personenakte geheim halten darf, beweist die These, dass es sich letztlich um eine demokratieunverträgliche Institution handelt, für die das Prinzip demokratischer Transparenz und Kontrollierbarkeit praktisch nicht gilt.

Der Vorsitzende Richter hat in der zweiten mündlichen Verhandlung festgestellt, dass in dem Verfahren "zwei Denkwelten“ aufeinander prallten. Das Gericht problematisierte dabei auch, dass durch die einseitige Auswahl des erfassten Materials durch den Verfassungsschutz  "zwangsläufig ein falsches Bild" vom Kläger und von dessen beruflichen und rechtspolitischen Aktivitäten entstehen müsse. Schon deshalb hätte ich ein berechtigtes "Rehabilitierungsinteresse", dem das Urteil in vollem Umfang entspricht.

In einer persönlichen Stellungnahme habe ich in der letzten mündlichen Verhandlung vor Gericht zum Abschluss mein Bedauern zum Ausdruck gebracht, dass durch diese unsinnige, geradezu absurde Überwachungsgeschichte so viel Lebenszeit und -kraft vergeudet wurde und dass zwei Gerichte mit aufwändigen Verfahren belästigt werden mussten. Aber dieser Aufwand ist leider notwendig gewesen, um wenigstens zu versuchen, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen und solch ausufernde Geheimdiensttätigkeit künftig zu unterbinden.

Meines Erachtens prallen in diesem Streitfall tatsächlich zwei unterschiedliche Denkwelten, politische Kulturen und Grundhaltungen aufeinander: auf der einen Seite die Kultur oder eher Unkultur des Ausspähens, Stigmatisierens und Ausgrenzens im Namen von Sicherheit  und  Staatswohl,  auf  der  anderen  die  Kultur  der  demokratischen Transparenz, des offe­nen und kritischen Dialogs im Namen von Demokratie und Freiheit, den ich in allen meinen beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten suche und führe – nicht selten gegen den Mainstream und gesellschaftliche Ausgrenzungsbereitschaft und ohne allzu große politische Berührungsängste; gerade auch gegenüber Personen und Gruppen, die nicht verboten sind, ihrerseits aber unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen und die allein deswegen in den Augen vieler als verfemt oder geächtet gelten und mit denen man tunlichst nicht diskutiert - etwa bestimmte sozialistische, kurdische oder iranische Gruppen, islamische Gemeinschaften, Muslime oder sonstige Migranten, die durch den staatlichen Antiterrorkampf ihrerseits unter Generalverdacht geraten sind.  

Ich kann es jedenfalls nicht hinnehmen, dass verfassungskonforme und bürgerrechtliche Kräfte als Unterstützer extremistischer Kreise stigmatisiert werden, sobald sie in ihrer Arbeit bestimmte politische Spektren nicht ausgrenzen und gesellschaftlich isolieren, sondern sie bewusst in den politisch-demokratischen Willensbildungsprozess mit einbeziehen. Eine offene und liberale Demokratie lebt von Kritik und kontroverser politischer Diskussion auch und gerade mit Andersdenkenden – und nichts anderes ist mir letztlich vorzuwerfen. Es ist Gift für eine demokratische Gesellschaft, wenn solches unter geheimdienstliche Beobachtung und Kuratel gestellt wird.

Ich möchte im Zusammenhang mit meiner Überwachungsgeschichte an einen Ausspruch des Schriftstellers und Hörspielautors Günther Eich erinnern, den ich in meinem Abitur 1967 mit Bedacht als Aufsatzthema ausgewählt hatte und der in gewisser Weise zu meinem Lebensmotto wurde: „Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt.“

Aktualisierte und überarbeitete Fassung eines Vortrags des Autors, den er am 3.10.2010 im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin gehalten hat. Erstmals erschienen in der Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft „OSSIETZKY“ Nr. 22 v. 30.10.2010: Die Akte Gössner und andere Geheimdienst-Geheimnisse: „Verfassungsschutz in Aktion“. Darin weitere Beiträge zum Thema Geheimdienste von Ulla Jelpke, Manfred Wekwerth, Wolfgang Wippermann und Eckart Spoo.

www.sopos.org/aufsaetze/4cd2964854b77/1.phtml

Näheres zu Ossietzky, einzelnen Ausgaben und Texten unter: www.ossietzky.net sowie www.sopos.org/ossietzky/

Dr. Rolf Gössner ist Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte (Berlin). Er lebt als Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater in Bremen. Seit 2007 stellvertretendes Mitglied des Bremischen Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen sowie Mitglied/stellvertretender Sprecher der Deputation für Inneres der Bremischen Bürgerschaft (Landtag) und der Stadtbürgerschaft. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zum Thema „Innere Sicherheit“ und Bürgerrechte, zuletzt: „Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der ‚Heimatfront’“ (Hamburg 2007).