Rechtsanwalt / Publizist
Erstbeschwerdeführer
in Sachen Vorratsdatenspeicherung vor dem Bundesverfassungsgericht
E-Mail: goessner@uni-bremen.de - Internet: www.rolf-goessner.de
01. März 2010
Pressemitteilung
Urteilsverkündung des
Bundesverfassungsgerichts in Sachen
Vorratsdatenspeicherung am Dienstag, den 2. März 2010, 10 h
Erstbeschwerdeführer Rolf
Gössner: „Richtungsweisende Entscheidung
über größte Massenbeschwerde in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte“
Am morgigen Dienstag, 2. März 2010, wird das
Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerden gegen die
verdachtsunabhängige Vorratsspeicherung von Telekommunikationsverbindungs- und
Standortdaten entscheiden. Fast 35.000 Menschen - darunter auch die heutige
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger - legten dagegen
Anfang 2008 Beschwerden beim Bundesverfassungsgericht ein.
Der
Bremer Rechtsanwalt Rolf Gössner, Vizepräsident der Internationalen Liga
für Menschenrechte und Mitglied der Deputation für Inneres der Bremischen
Bürgerschaft, ist einer der Erstbeschwerdeführer. Anlässlich der
Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts, an der er morgen in Karlsruhe
teilnehmen wird, erklärt er heute in Bremen:
"Diesem Verfahren
und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts kommen grundlegende Bedeutung für
das Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung und für den Datenschutz zu.
Deshalb sind die Erwartungen auch sehr groß, dass das Bundesverfassungsgericht
der massenhaften Sammlung von Daten auf Vorrat über die gesamte Bevölkerung
einen wirksamen Riegel vorschiebt. Sollte das Gericht die Vorratsdatenspeicherung
als zwingendes EU-Recht wider Erwarten nicht überprüfen und lediglich die Nutzung
der Daten einschränken und Datensicherheitsmaßnahmen anmahnen, dann wäre die
Politik gefordert, die EU-Vorgabe zu kippen und die verdachtslose
Vorratsdatenspeicherung ersatzlos zu streichen."
Hintergrund
Seit
Anfang 2008 werden sämtliche Telekommunikations- und Standortdaten, also
Telefon-, Handy-, Email- und Internetverbindungsdaten, zwangsweise sechs Monate
lang auf Vorrat gespeichert – ohne Verdacht und Anlass, nur um sie bei Bedarf
zweckentfremdet zur Strafverfolgung verwenden zu können. Mit Hilfe dieses
riesigen Datenreservoirs praktisch über die gesamte Bevölkerung können
Bewegungsprofile erstellt, geschäftliche Kontakte rekonstruiert und
Freundschaftsbeziehungen identifiziert werden.
„Wie
schnell dies passieren kann“, so Rolf Gössner, „zeigen die
Missbrauchsfälle bei der Telekom, die diese Daten, quasi als Hilfspolizei des
Staates, vorrätig halten muss. Auch Rückschlüsse auf den Inhalt der
Kommunikation, auf persönliche Interessen und die Lebenssituation der
Kommunizierenden werden möglich. Insgesamt eine Bedrohung von freier
Kommunikation und Privatheit, aber auch von Berufsgeheimnissen und
Pressefreiheit – weshalb fast 35.000 Menschen eine Sammelbeschwerde beim
Bundesverfassungsgericht eingereicht haben; es ist die größte Massenbeschwerde
in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte."
Die
Vorratsdatenspeicherung könne besonders für Berufsgeheimnisträger wie Rechtsanwälte,
Ärzte oder Journalisten zum Problem werden, so Rolf Gössner, der selbst in
allen seinen beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeitsfeldern als Anwalt,
Publizist, Deputierter und Bürgerrechtler von dieser Vorratsdatenspeicherung
betroffen ist. Denn unter den Bedingungen der Vorratsdatenspeicherung sind
Berufsgeheimnisse wie der Informantenschutz oder das besondere Vertrauensverhältnis
zwischen Anwalt und Mandanten kaum noch zu gewährleisten. Auch das
Beratungsgeheimnis, die unkontrollierte Arbeit und prinzipiell ausforschungsfreie
Sphäre von Nichtregierungsorganisationen wie der Internationalen Liga für
Menschenrechte sind gefährdet.
Teilsiege im Eilverfahren
Im
Eilverfahren konnten die Erstbeschwerdeführer bereits erste Teilsiege erringen:
Das Bundesverfassungsgericht hat mit mehreren einstweiligen Anordnungen
Auskünfte über die auf Vorrat gespeicherten Telekommunikationsdaten an staatliche
Sicherheitsbehörden erheblich eingeschränkt. Die Vorratsdaten dürfen seitdem –
anders als es das Gesetz erlaubt – nur noch zur Ermittlung und Aufklärung
besonders schwerer Straftaten verwendet werden. Das bedeutet: Die TK-Unternehmen
müssen die Verbindungsdaten zwar weiterhin ein halbes Jahr lang speichern; die
Weitergabe an die Staatsanwaltschaften und die Polizeien darf aber nur zur Aufklärung
schwerer Straftaten wie Mord, Totschlag, Geißelnahme, Raub, Erpressung, Kindesmissbrauch
oder Hochverrat erfolgen, nicht bei mittelschweren oder leichteren Straftaten
wie etwa im Falle von Beleidigungen und unerlaubter Downloads von geschützten
Musiktiteln. Diese Entscheidung ist mittlerweile mehrfach erneuert und auch
ergänzt worden: So entschied das Gericht auch, dass Vorratsdaten vorerst nur
dann an die Polizei für den Gefahrenabwehrbereich übermittelt werden dürfen,
wenn es um die Abwehr einer „dringenden Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit
einer Person“ oder um die Sicherheit des Staates geht.
Grundsätzliche Bedeutung
Rolf Gössner zur grundsätzlichen Bedeutung des
Verfahrens: „Es geht um weit mehr, als nur um die Einschränkung der staatlichen
Verwertbarkeit der auf Vorrat gespeicherten Daten. Es geht um die prinzipielle
Frage, ob die Telekommunikationsverkehrsdaten aller Bürger/innen tatsächlich
sechs Monate lang zwangsweise und ohne jeden Anlass auf Vorrat gespeichert
werden dürfen – oder ob nicht die Errichtung eines solch gigantischen
Datenspeichers dem Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspricht.
Ich gehe davon aus, dass damit unzulässige Eingriffe in das Grundrecht der
Informationellen Selbstbestimmung einer Vielzahl von Menschen verbunden sind
und dass damit auch einem massenhaften Missbrauch Vorschub geleistet wird.“ Die
gesetzlichen Grundlagen dieser Totalerfassung des Telekommunikationsverhaltens
der gesamten Bevölkerung sind deshalb aufzuheben, genauso wie alle anderen
Vorratsdatenspeicherungen, etwa im Arbeitnehmer-Informationssystem ELENA.
Gössner
erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass das Bundesverfassungsgericht in den
vergangenen Jahren bereits eine ganze Reihe von Antiterror-Gesetzen und
-Maßnahmen ganz oder teilweise für verfassungswidrig erklären musste. „Das
Gericht rügte dabei eindrücklich die besorgniserregende Tatsache, dass Regierungen
und Parlamente in diesen Fällen unveräußerliche Grund- und Bürgerrechte, die
Menschenwürde und den Kern privater Lebensgestaltung einer vermeintlichen
Sicherheit geopfert haben.“ Dies zeige deutlich, dass das
Verfassungsbewusstsein der politischen Klasse besonders im Zuge des staatlichen
Antiterrorkampfes erheblich gelitten habe.
Informationen: www.vorratsdatenspeicherung.de. Alle Originaldokumente (Schriftsätze der Beschwerdeführer,
Schriftsätze der Bundesregierung, Stellungnahmen der Sachverständigen usw.)
finden Sie unter: http://verfassungsbeschwerde.vorratsdatenspeicherung.de.
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt/Publizist,
Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte. Mitglied/stellv.
Sprecher der Deputation für Inneres der Bremischen Bürgerschaft.
Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundestags und von Landtagen.
Mitherausgeber des "Grundrechte-Reports" und als solcher 2008 mit der
Theodor-Heuss-Medaille ausgezeichnet. Mitglied in der Jury zur Vergabe des
Negativpreises "BigBrotherAward". Autor zahlreicher Sachbücher zu
Bürger- und Menschenrechtsthemen, zuletzt: "Menschenrechte in Zeiten des
Terrors", Hamburg 2007.