BigBrotherAward-Laudationes von Rolf Gössner
(2000 – 2005)

Aus:
Tangens/padeluun (Hg.),
Schwarzbuch Datenschutz.
Ausgezeichnete Datenkraken der BigBrotherAwards
Edition Nautilus, Hamburg 2006.

 

2000: Preisträger der Kategorie "Politik"

Der BigBrotherAward der Kategorie "Politik" geht an den Innensenator von Berlin Dr. Eckart Werthebach für die geplante Erweiterung und Erneuerung der Telefonüberwachungsanlagen und die geplante Anschaffung von sogenannten IMSI-Catchern[1] in der Bundeshauptstadt. Damit soll in Berlin die Telekommunikation in zunehmendem Maße ohne jede Erfolgskontrolle abgehört werden.

Die Verleihung des BigBrotherAward an den Berliner Innensenator erfolgt exemplarisch für die Bestrebungen in vielen Bundesländern, die Möglichkeiten der polizeilichen Telekommunikationsüberwachung massiv auszubauen. Anfang September 2000 beantragte der Senator für Inneres beim Berliner Abgeordnetenhaus die Beschaffung von weiterer Gerätetechnik für die Telefonüberwachung. Bis 1999 waren hierfür Investitionen in Höhe von 3 Mio. Mark getätigt. Damit wurde die Erneuerung und Erweiterung auf 75 Aufzeichnungsgeräte und 55 Auswertungsgeräte erreicht. Bis 2003 sollen weitere 4,7 Mio. Mark hierfür ausgegeben werden. Außerdem wird die Genehmigung von 0,5 Mio. Mark für die Mobilfunküberwachung (IMSI-Catcher) gefordert. Dabei wird die Telefonüberwachung als ein ”absolut unverzichtbares polizeitaktisches Mittel zur Informationsgewinnung im Bereich der Schwerstkriminalität” bezeichnet.

Es soll von der Jury nicht bestritten werden, dass Telefonüberwachungs-Maßnahmen zur Aufklärung von Straftaten wirksam sein können. Die undifferenzierte Forderung nach immer mehr Telefonüberwachung stellt aber eine massive Gefährdung für das Fernmeldegeheimnis dar. Vorhandene Überwachungstechnik wird (dies ist eine praktische Erfahrung) im Interesse optimaler Ausnutzung von Ressourcen, auch genutzt. Dadurch werden immer mehr unschuldige Menschen von – gesetzlich erlaubter – Telefonüberwachung erfasst und ausgehorcht. Seit Jahren ist Deutschland Weltmeister im Abhören. 1999 erreichte die Zahl der Überwachungen mit 3066 Strafverfahren und 6646 Anschlussinhabern und seit Jahren anhaltend zweistelligen Zuwachsraten einen neuen Höchststand.

Weit höher ist die offiziell nicht bekannte Zahl betroffener Einzelanschlüsse sowie der überwachten Beteiligten. Auch öffentliche Fernsprecher wie Telefonzellen werden abgehört. Rund 40 % der Abhörmaßnahmen, deren Dauer ebenfalls stieg, richteten sich 1999 gegen unverdächtige Anschlussinhaber. Undifferenziert betroffen sind auch Vertrauenspersonen wie ÄrztInnen oder RechtsanwältInnen. In einem einzigen großen Ermittlungsverfahren wurden einmal mehr als 40.000 Telefongespräche abgehört.

Innensenator Dr. Werthebach fordert mehr Telekommunikationsüberwachung, ohne deren Effektivität nachweisen zu können und zu wollen. Eine von den Datenschutzbeauftragten seit Jahren geforderte Evaluation wurde bis heute weder in Berlin noch in anderen Ländern vorgenommen. Ebenso wenig ist eine nachträgliche richterliche Kontrolle vorgesehen. Dessen ungeachtet versuchen die Innenverwaltungen, den weltweiten Spitzenplatz bei der Telefonüberwachung weiter auszubauen – auf Kosten des Fernmeldegeheimnisses. Aufgerüstet wird nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ.

Dies gilt z.B. für die Nutzung des Telefons als Wanze, für den Einsatz von Stimmerkennungssystemen oder wie von Dr. Werthebach gefordert – durch die Beschaffung von IMSI-Catchern. Die Beschaffung von IMSI-Catchern durch andere Länder ist bisher nicht bekannt. Damit werden nicht nur die Handynummern von eventuellen Verdächtigen ”gecatcht”, sondern auch die von völlig Unbeteiligten. Um festzustellen, dass diese tatsächlich unbeteiligt sind, muss gegen sie ermittelt werden. Der IMSI-Catcher-Einsatz, dessen Legalisierung 1997 vom Bundesgesetzgeber abgelehnt wurde, verursacht zugleich eine Störung des Mobilfunkverkehrs. Mit ihm kann grundsätzlich auch der Gesprächsinhalt abgehört werden. Dies wäre nach den Worten des Bundesbeauftragten für den Datenschutz ein ”eklatanter Verstoß gegen das Recht auf unbeobachtete Kommunikation”.

 

2001: Preisträger der Kategorie "Politik"

Der BigBrotherAward der Kategorie "Politik" und damit der Hauptpreis geht an den Bundesminister des Innern, Otto Schily, weil er unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung für den Abbau von Bürgerrechten, für den Abbau von Datenschutz und die Einschränkung der informationellen Selbstbestimmung in Deutschland und Europa eintritt.

Er setzt sich dauerhaft – und seit dem 11.9.2001[2] nochmals verstärkt – für neue Ermittlungsbefugnisse der Polizei und der Geheimdienste ein, ohne die verfassungsmäßig garantierten Bürgerrechte zu berücksichtigen.

Und er mißachtet in besonderer Weise das Recht auf informationelle Selbstbestimmung von ausländischen Bürgerinnen und Bürgern.

Otto Schily hat sich sozusagen überqualifiziert: Er erhielt mit Abstand die meisten Nominierungen für die diesjährige Preisverleihung. In der Jury bestand Einigkeit, dass Innenminister Schily in diesem Jahr der Hauptpreis gebührt.

Von allen deutschen Politikern, die seit den terroristischen Anschlägen in den USA den Datenschutz in Frage stellen, hat sich Otto Schily am deutlichsten hervorgetan. Schily plädierte dafür, dass der Datenschutz "neu definiert" werden müsse, dass "Sicherheitsinteressen nicht durch Datenschutzbestimmungen behindert werden dürfen". Schily stellte die Frage, ob der Datenschutz nicht oft "übertrieben" worden sei. Er ließ seinen Sprecher davor warnen, dass der "Datenschutz sich nicht als Terroristenschutz auswirkt".

Schily ist nicht irgendein Politiker. Er ist der Minister, der für die Bundesregierung die Vorschläge zur öffentlichen Sicherheit ausarbeitet, dessen nachgeordnete Behörden diese Vorschläge umsetzen und der für den Schutz der Verfassung, zu der vorrangig die Bürgerrechte gehören, verantwortlich zeichnet. In dieser Eigenschaft obliegt ihm insbesondere der Schutz des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung.

Statt dessen versucht Innenminister Schily, mit immer neuen Vorschlägen fälschlich den Eindruck zu vermitteln, durch zusätzliche und gegen große Bevölkerungsgruppen gerichtete Überwachungsmaßnahmen könne ein Mehr an Sicherheit für die Bevölkerung gegen den Terrorismus erreicht werden. Schily steht an erster Stelle jener Politiker in Deutschland, die die schrecklichen Terroranschläge in den USA als Anlass und Legitimation zur Durchsetzung freiheitsbeschneidender Gesetze instrumentalisieren.

Otto Schily forderte schon wenige Tage nach den Anschlägen, Fingerabdrücke in Pässe und Personalausweise aufzunehmen. Die Folge wäre zwangsläufig eine bundesweite daktyloskopische Erfassung der deutschen Bevölkerung und damit eine verfassungswidrige Vorratsdatenspeicherung. Inzwischen plant er, weitere biometrische Daten wie Gesichtsgeometrie oder Irismerkmale auf Ausweispapieren zu speichern, mit der Folge, dass sich die ganze Bevölkerung biometrisch vermessen lassen müsste.[3]

Schily will, dass Telekommunikationsunternehmen und Internet-Provider verpflichtet werden, Nutzungs- und Verbindungsdaten mindestens sechs Monate lang zu speichern. Diese ausschließlich für Zwecke der Strafverfolgung initiierten Maßnahmen unterwerfen die gesamte Bevölkerung pauschal einem Kriminalitätsverdacht.

Schily setzt sich außerdem ein für die Schaffung eines Datenverbundes aller deutschen Geheimdienste und des Bundeskriminalamtes, für verdachtsunabhängige Ermittlungskompetenzen des BKA sowie für eine umfassende Kronzeugenregelung, die selbst dann Strafmilderung verspricht, wenn andere fälschlich beschuldigt werden.

Die Vorverlegung polizeilicher Maßnahmen ins weite Vorfeld von Straftaten oder konkreten Gefahren sowie die Aufhebung der Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten sind Merkmale, welche bereits die nationalsozialistische Geheime Staatspolizei und die Stasi in der ehemaligen DDR kennzeichneten. Eine solch ausufernde Sicherheitspolitik und eine demokratisch kaum zu kontrollierende Machtkonzentration sollten nach diesen Erfahrungen in Deutschland wirksam unterbunden werden.

Das Hauptgewicht der vorgeschlagenen Überwachungsmaßnahmen richtet sich dabei nicht gegen die deutsche Bevölkerungsmehrheit, sondern gegen Ausländerinnen und Ausländer, die ohnehin schon zu der am meisten überwachten Bevölkerungsgruppe gehören. Damit schürt Schily Angst, Abwehr und Aggressionen gegen Fremde.

Mit der Einführung eines neuen § 129b ins Strafgesetzbuch, der die Mitgliedschaft auch in internationalen "terroristischen Vereinigungen" unter Strafe stellen soll, wird nicht etwa ein wirksames Instrument zur Zerschlagung derartiger Organisationen geschaffen, sondern vor allem ein Ermittlungsparagraf, der eben auch zur strafrechtlichen Verfolgung legitimen politischen Widerstands gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit in diktatorischen Ländern genutzt werden kann.

Anstatt das Ausländerzentralregister (AZR)[4] auf ein verfassungskonformes Maß zurecht zu stutzen, sollen nach dem Wunsch von Schily die Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten des AZR noch ausgebaut werden durch zusätzliche Speicherung personenbezogener Merkmale (z.B. Religionszugehörigkeit), durch erweiterte Online-Zugriffsmöglichkeiten oder durch die Neueinführung einer Nutzungsbefugnis für Sozialbehörden. Schon im vorigen Jahr hat das Ausländerzentralregister wegen seiner jahrzehntelangen Förderung der Diskriminierung von Ausländern, wegen seines Beitrags zur Schwächung der Grundrechte einen BigBrotherAward erhalten.

Durch zusätzliche Maßnahmen soll der Überwachungsdruck auf Ausländerinnen und Ausländer weiter erhöht werden, z.B. durch das Erfassen von Fingerabdrücken bei der Visa-Beantragung, durch die Einführung der Regelanfrage bei Geheimdiensten im Fall von Einbürgerungen und der Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen, durch die Durchführung von Rasterfahndungsmaßnahmen, durch die Einführung bundesweiter Islamismusdateien oder einer Warndatei zur Bekämpfung von Visa-Erschleichung und Schlepperkriminalität.

Mit der Forderung nach einem verstärkten Austausch zwischen Asylbehörden und Geheimdiensten, die ihrerseits einen Datenaustausch mit Geheimdiensten in den Herkunfts- bzw. Verfolgerstaaten pflegen, würde faktisch das im Asylrecht zugestandene Recht auf Schutz vor Verfolgung untergraben.

Die umfangreiche Erfassung zusätzlicher personenbezogener Daten und die von Schily geforderte Vernetzung bzw. der Abgleich unterschiedlicher Datenbanken von AZR, Polizei, Einwohnermeldeamt und anderen Behörden vergrößert und erleichtert die Gefahr von Datenmißbrauch oder Fehlinterpretationen.

All diesen Maßnahmen ist gemein, dass sie nicht geeignet sind, terroristische Gefahren abzuwehren oder terroristische Taten aufzuklären, dass sie aber dazu beitragen, ein Klima der Intoleranz zu fördern, in dem Fremdenfeindlichkeit und Hass gedeihen. Dieses Klima könnte den Nährboden für weitere terroristische Aktionen bilden. Teilweise haben die Vorschläge nicht einmal im Ansatz einen Bezug zur Terrorismusbekämpfung. Vieles ist nichts anderes als das Wiederaufkochen von datenschutzfeindlichen Ladenhütern, die bisher selbst unter einer schwarz-gelben Regierung aus guten Gründen nicht realisiert worden sind.

Schilys Vorschläge ignorieren, dass die bestehenden Regelungen bereits ein umfassendes Instrumentarium zur effektiven Bekämpfung terroristischer Straftaten zur Verfügung stellen. Sie lenken von Vollzugsdefiziten bei den Sicherheitsbehörden, von irrigen Lagebeurteilungen und von der Tatsache ab, dass es keinen sicheren Schutz vor Terrorismus geben kann, schon gar nicht vor Selbstmord-Attentaten. Terrorismusrisiken lassen sich nicht mit der technischen Überwachung ganzer Bevölkerungsteile minimieren, sondern durch die minutiöse Aufklärung der Taten und der sich dabei zeigenden terroristischen Strukturen sowie durch Prävention, sowohl durch gesellschaftliche Prävention über einen interkulturellen Austausch als auch durch den technischen Schutz potenzieller Angriffsziele.

Otto Schily treibt im übrigen – trotz Bedenken auch in der Bundesregierung – den weiteren Ausbau von Europol voran, etwa durch die Zulassung neuer operativer, "exekutiver" und informationeller Befugnisse, durch die Festlegung neuer Zuständigkeiten oder den Aufbau neuer Ermittlungseinheiten und Dateien – ohne dabei auch nur eine Maßnahme zu initiieren, mit der die demokratischen und rechtsstaatlichen Defizite dieser europäischen Polizeibehörde abgebaut werden könnten. Bis heute agiert Europol nämlich ohne jegliche parlamentarische Verantwortlichkeit und Kontrolle, und ohne dass betroffene Bürger gerichtlichen Rechtsschutz erlangen können. Damit ist Schily einer der Hauptverantwortlichen für die Weiterentwicklung von Europol zu einer gesamteuropäischen Überwachungsstruktur mit erheblichem Missbrauchspotential.

Der sicherheitspolitische Aktionismus Schilys nach den Terroranschlägen ist die Zuspitzung einer von ihm seit drei Jahren forcierten bürgerrechtsfeindlichen Sicherheitspolitik. Er zeichnet dafür verantwortlich, dass im Bundeskriminalamt sogenannte Gewalttäterdateien mit verharmlosenden Namen wie "Remo", "Aumo" oder "Limo" eingerichtet wurden, deren Speicherungen u.a. dazu führten, dass nicht vorbestrafte Bürgerinnen und Bürger, die gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Genua demonstrieren wollten, an der Ausreise aus der Bundesrepublik gehindert oder über lange Zeit ohne Nachweis eines strafbaren Tuns in Italien inhaftiert wurden. Das vom Grundgesetz garantierte Recht auf Handlungs- und Bewegungsfreiheit wurde so außer Kraft gesetzt.

Otto Schily und sein Ministerium sind bis heute den Nachweis schuldig geblieben, dass "der Datenschutz" die Kriminalitäts- oder Terrorismusbekämpfung behindert hätte. Datenschutzrechtliche Regelungen und ihre Beachtung sind Grundvoraussetzungen dafür, dass die Bevölkerung der Arbeit der Sicherheitsbehörden Vertrauen entgegenbringt. Mit seiner Sicherheitskampagne trägt er dazu bei, dass die Grundlagen des demokratischen und freiheitlichen Systems, die es gegen den Terrorismus zu verteidigen gilt, untergraben werden.

 

2002: Preisträger der Kategorie "Behörden & Verwaltung"

Der BigBrotherAward der Kategorie "Behörden und Verwaltung" wird im Jahr 2002 verliehen an das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden z.H. des BKA-Präsidenten Dr. Klaus Ulrich Kersten, weil das Amt seit 2001 im Zusammenhang mit drei neu eingerichteten Präventiv-Dateien gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht der darin erfassten Personen verstößt. Es handelt sich um folgende Verbund-Dateien im polizeilichen Informationssystem INPOL mit den bemerkenswert verharmlosenden Kürzeln LIMO, REMO und AUMO:

um die sog. Gewalttäter Links-Datei zur "Verhinderung politisch links motivierter Straftaten", kurz: LIMO, die sog. Gewalttäter Rechts-Datei zur "Erfassung rechtsorientiert politisch motivierter Straftäter", kurz: REMO, und die Datei "Straftäter politisch motivierter Ausländerkriminalität", kurz: AUMO.

Diese Dateien werden gemeinsam von Bund und Ländern genutzt und sind jederzeit von allen Dienststellen der Polizei und des Bundesgrenzschutzes abrufbar. Bereits weit über tausend Menschen sind darin als "potentielle Gewalttäter" erfasst, obwohl viele von ihnen noch nie als gewalttätig aufgefallen sind.

Am Beispiel der "Gewalttäter-Links"-Datei lassen sich die verfassungs- bzw. datenschutzrechtlichen Verstöße verdeutlichen:

Vorsorgliche Erfassung möglicher "Unruhestifter"

Diese Datei ist auf Beschluss der Innenministerkonferenz durch das BKA im Wege einer "Sofortanordnung" errichtet worden – ohne vorherige Anhörung des Bundesdatenschutzbeauftragten und wegen nicht näher begründeter "Eilbedürftigkeit".

Erst viel später wurde eine amtliche Errichtungsanordnung erlassen. Danach werden in dieser Datei nicht nur Gewalttäter und Gewalttaten im engeren Sinne erfasst, sondern "Erkenntnisse" im Zusammenhang mit insgesamt 20 Straftatbeständen – von Delikten gegen Leib und Leben oder fremde Sachen bis hin zur "Störung öffentlicher Betriebe", die der Versorgung dienen (§ 316b StGB) oder Straftaten nach dem Versammlungsgesetz.

Wer nun allerdings denkt, dass sich in dieser "Gewalttäter-Datei" nur rechtskräftig verurteilte Gewalttäter wiederfinden oder solche Personen, bei denen Waffen sichergestellt wurden, irrt sich gewaltig. Denn Aufnahme finden auch bloß Verdächtige sowie Personen, gegen die in der Vergangenheit lediglich Personalienfeststellungen, Platzverweise oder Präventivhaft angeordnet wur­den.

Das bedeutet: Wer mit der Polizei bei Versammlungen auch nur in Berührung kommt und dabei erfasst wird, ohne jemals Gewalt ausgeübt zu haben, kann sich leicht als potentieller Gewalttäter in einer der Gewalttäter-Dateien des BKA wiederfinden.

Einzige Voraussetzung für diese "vorsorgliche Erfassung möglicher Unruhestifter" ("Die Zeit"): Es müssen "bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Personen zukünftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden". Doch auch solche Personen können gespeichert werden, bei denen "die Persönlichkeit des Betroffenen oder sonstige Erkenntnisse" Grund zu der Annahme geben, dass künftig Strafverfahren gegen sie zu führen sein werden.

Auch bloße "Kontakt- und Begleitpersonen" von Verdächtigen können gespeichert werden, "soweit dies zur Verhütung oder zur Vorsorge für die künftige Verfolgung einer Straftat mit erheblicher Bedeutung erforderlich ist".

Es handelt sich bei diesen Voraussetzungen letztlich um reine Prognoseentscheidungen, die allein der Polizei überlassen bleiben. Insofern sind diese Dateien weitere Bausteine in einer längst eingeleiteten Präventionsstrategie, die immer weiter im Vorfeld von strafbaren Handlungen und des Verdachts ansetzt. Damit geraten immer mehr Menschen – auch vollkommen unbescholtene Personen – in polizeiliche Maßnahmen, die tief in die Persönlichkeitsrechte eingreifen.

Entsprechend "auffällig" gewordene Erwachsene und Jugendliche werden grundsätzlich drei bzw. fünf Jahre lang, Kinder (!), die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, zwei Jahre lang gespeichert. Da drängt sich unwillkürlich die Frage auf, was Kinder in einer polizeilichen Präventiv-Datei zu suchen haben. Im übrigen ist eine Verlängerung der Speicherzeit ohne weiteres möglich. Andererseits führt die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens oder ein Freispruch – trotz genereller Berichtigungspflicht des BKA – in der Praxis noch lange nicht zu einer Löschung der Daten.

Fragwürdige Präventivdaten als Basis für Reiseverbote

Diese "Gewalttäter-Dateien" sind nicht allein wegen der Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bürgerrechtsschädigend – denn die Präventiv-Speicherungen können noch weitere gravierende Grundrechtsbeschränkungen für die Betroffenen nach sich ziehen: So kann es passieren, dass sich solchermaßen erfasste Personen bei Kontrollen und Grenzübertritten repressiven Polizei-Maßnahmen ausgesetzt sehen – bis hin zu polizeilichen Meldeauflagen, Pass-Entzug und Ausreiseverboten.

Das bekamen in den Jahren 2001 und 2002 insbesondere Globalisierungskritiker zu spüren, die an Demonstrationen im Ausland teilnehmen wollten. So steht etwa der umstrittene G-8-Gipfel in Genua 2001 nicht nur für Ausschreitungen und polizeilich-militärische Eskalation, sondern auch für ein dunkles bundesdeutsches Kapitel in Sachen Bewegungs- und Reisefreiheit, für eine neue Qualität der präventiven Intoleranz:

Zahlreichen Menschen wurde an der Grenze die Ausreise verwehrt, obwohl sie weder mit Haftbefehl noch sonst polizeilich gesucht wurden. Sie durften nicht nach Genua reisen, nur weil sie früher schon mal polizeilich erfasst worden waren – etwa anlässlich einer Polizeikontrolle am Rande einer Demonstration. Obwohl gegen sie keine Verfahren eingeleitet, keine Anklagen erhoben worden waren, galten sie als potentielle "Gewalttäter", die in der "Gewalttäter-Links-Datei" gespeichert sind und denen auf dieser "Erkenntnis"-Grundlage die Ausreise verwehrt wurde. Sie waren über diese Verdatung nicht informiert worden, so dass sie sich dagegen auch nicht rechtlich zur Wehr setzen konnten.

Als Rechtsgrundlage für Ausreiseverbote dient das Passgesetz, das erst im Jahr 2000 entsprechend verschärft worden ist. Danach können Reisebeschränkungen in die Pässe von "Gewalttätern" eingetragen und Ausreiseverbote von der Polizei verhängt werden, sofern "Tatsachen die Annahme rechtfertigen", die Betroffenen gefährdeten "die innere und äußere Sicherheit" oder "sonstige erhebliche Belange" der Bundesrepublik – auch wenn ihnen aktuell nichts vorgeworfen werden kann. Wer dennoch auszureisen versucht, kann mit Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft werden.

Auch Menschen, die es trotz der verschärften Polizei- und Grenzkontrollen bis Genua geschafft hatten, wurden von ihrem Datenschatten eingeholt. Denn bereits im Vorfeld des Genua-Gipfels hatte das BKA Auszüge aus der "Gewalttäter-Links"-Datei in einer "lista tedesca" an die italienische Polizei weitergegeben. Dabei zeigte sich: Wenn gespeicherte Verdachtsmomente, also ungesicherte Präventiv-Daten über verdächtige Personen oder "Risikogruppen" im Wege des polizeilichen Datenaustauschs an ausländische Sicherheitsbehörden weitergegeben werden, kann das für die Betroffenen fatale Folgen haben. Manche konnten tatsächlich anhand der Liste als "polizeibekannt" aussortiert werden und sahen sich daraufhin Haftverlängerungen, Schikanen sowie folterähnlichen Praktiken der italienischen Polizei ausgesetzt.

Fazit: Verletzung verfassungsrechtlicher Prinzipien

Die Kombination von fragwürdigen Präventivdateien, verschärftem Passgesetz, exekutiven Reiseverboten und schikanösen Polizeipraktiken kann leicht zur Verletzung der Grundrechte auf Freizügigkeit, der Handlungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit führen und selbst die körperliche Integrität der Betroffenen verletzen.

Es ist ein Skandal, dass solche gravierenden Exekutiv-Eingriffe allein auf ungesicherte präventive Polizeidaten in "Gewalttäter"-Dateien gestützt werden können – weitere Erkenntnisse müssen jedenfalls nicht hinzukommen. Diese Vorratsdaten-Speicherungen stempeln die Betroffenen zu "polizeibekannten reisenden Gewalttätern".

Die vagen Kriterien für die Aufnahme in die "Gewalttäter"-Dateien, die Speicherdauer von drei bis fünf Jahren, die Erfassung von Kindern und die Nichtbenachrichtigung der Betroffenen widersprechen datenschutzrechtlichen Prinzipien. Sie verletzen das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung, die Unschuldsvermutung und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

 

2003: Preisträger der Kategorie „Politik“

Der BigBrotherAward im Bereich Politik wird verliehen an die Regierungen/Innenminister der Bundesländer Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen weil sie im Windschatten der Terrorismusbekämpfung die Verschärfung ihrer Landespolizeigesetze betreiben und damit drastische Einschnitte in elementare Grund- und Freiheitsrechte einer Vielzahl unverdächtiger Personen einkalkulieren. Bedroht sind insbesondere das Brief- und Fernmeldegeheimnis, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und damit das Recht auf freie Kommunikation ohne Angst vor Repressalien.

1. In allen genannten Bundesländern soll die präventive Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) durch die Polizei legalisiert werden – also das vorsorgliche Abhören von Telefonen und Handys sowie das vorsorgliche Mitlesen von Faxen, SMS und Emails, ohne dass eine Straftat oder ein Anfangsverdacht vorliegen muss. Zur Begründung heißt es: Beim Abhören könnte sich ja der Verdacht auf eine Straftat ergeben, die dann verhindert werden könnte, so die Logik der Gesetzesmacher. Dabei sollen schon vage Anhaltspunkte ausreichen, um potentielle Störer "zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder bedeutende Sach- und Vermögenswerte" belauschen zu können; oder aber um Personen zu überwachen, "bei denen tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass sie zukünftig schwerwiegende Straftaten begehen" (Formulierungen der Entwürfe variieren).

Mit einer solchen Befugnis, wie sie bislang nur in Thüringen legalisiert ist, kann die Polizei die Telekommunikation von "vorverdächtigten" Personen im weiten Vorfeld eines Anfangsverdachts vorsorglich überwachen – selbst wenn rein zufällige und unverdächtige Kommunikationspartner wie Verwandte, Nachbarn, Arbeitskollegen und sonstige Bekannten von den Lauschaktionen betroffen werden. Zum Teil soll sogar die Kommunikation mit unverdächtigen Kontakt- und Vertrauenspersonen wie Rechtsanwälten, Abgeordneten, Ärzten, Journalisten, Psychotherapeuten oder Seelsorgern überwacht werden können – und zwar ungeachtet der besonderen Schweigepflichten, denen solche Personen unterliegen. Auf diese Weise wird das gesetzlich verankerte Zeugnisverweigerungsrecht von Berufsgeheimnisträgern ausgehebelt, ebenso wie wesentliche Elemente der Pressefreiheit: nämlich der Schutz von Informanten und das Redaktionsgeheimnis. Unabhängige Recherchen wären so nicht mehr zu gewährleisten.

Dass die Maßnahme von einem Amtsrichter angeordnet werden muss, ist kein ausreichender Schutz, wie die ausufernde Praxis der Telefonüberwachung zur Strafverfolgung zeigt. Denn es gibt bis heute keine Ermittlungskompetenz des Richters und keine gerichtliche Verlaufs- und Erfolgskontrolle solcher Überwachungsmaßnahmen. Schon gehört die Bundesrepublik allein in diesem Bereich mit jährlich über 15.000 abgehörten Telefonanschlüssen und Millionen von Betroffenen zu den weltweiten Spitzenreitern im Abhören – ein trauriger Rekord, der den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling dazu brachte, das Brief- und Fernmeldegeheimnis als "Totalverlust" abzuschreiben (Grundrechte-Report 2003, S. 15). Das Recht auf freie Kommunikation ohne Angst vor Überwachung und Repressalien ist nicht mehr garantiert.

2. Die präventive Überwachung der Telekommunikation schließt neben der Inhaltskontrolle auch die näheren Umstände der Telekommunikation ein (Erfassung und Speicherung von Verbindungsdaten). Wer geschäftsmäßig Telekommunikationsdienstleistungen erbringt oder auch nur daran mitwirkt, wird gesetzlich verpflichtet, der Polizei die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zu ermöglichen: Zu diesem Zweck müssen sie die notwendigen technischen Voraussetzungen schaffen, um damit Unmengen von Überwachungsdaten auf Verdacht und Vorrat erfassen und speichern zu können. Die Diensteanbieter müssen der Polizei jederzeit Auskünfte über die näheren Umstände und Verbindungen früherer, aktueller und künftiger Telekommunikationsprozesse erteilen: Wer hat mit wem, wann und wie lange von wo nach wo fernmündlich oder schriftlich kommuniziert, welche SMS- oder Internetverbindungen genutzt.

3. Auch die Standortfeststellung von Telekommunikationsteilnehmern mit Hilfe sog. IMSI-Catcher[5] ist geplant. Einerseits können mit diesen schuhkartongroßen Geräten die individuellen Kennungen und Gerätenummern von Handys ausgeforscht werden. Aufgrund dieser Identifikation kann die Polizei dann Verbindungsdaten der Mobilfunkteilnehmer beim jeweiligen Telekommunikationsunternehmen abfragen. Andererseits können zur genauen Standortbestimmung Handys elektronisch geortet werden, auch wenn diese nur standby geschaltet sind. Dadurch wird der Polizei die Möglichkeit eröffnet, Bewegungsbilder ihrer Besitzer und Nutzer zu erstellen – nicht etwa zur Verfolgung von Straftätern, nein: zur Verfolgung von Personen, denen künftig Straftaten zugetraut werden (also zur Verfolgung von prinzipiell Unverdächtigen).

Die Bürgerrechtsorganisation "Humanistische Union" hat im Juli diesen Jahres vor dem Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde gegen den Einsatz des IMSI-Catchers zum Zwecke der Strafverfolgung erhoben, der Anfang 2003 in der Strafprozessordnung legalisiert worden ist. Der IMSI-Catcher-Einsatz führe zur unterschiedlosen Erfassung gänzlich unverdächtiger Personen und verstoße deshalb gegen das Fernmeldegeheimnis des Art. 10 Grundgesetz, das auf diese Weise undifferenzierten Ermittlungsmethoden geopfert werde.

4. In Rheinland-Pfalz ist der Einsatz von elektronischen Wanzen und Video-Kameras zum präventiven Großen Lausch- und Spähangriff in und aus Wohnungen geplant, wie er bereits in Thüringen (und Baden-Württemberg) legalisiert worden ist. Zur Installation der Lausch- und Spähwanzen soll die Polizei die auszuforschende Wohnung unerkannt betreten können. Damit kann das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung bereits im Vorfeld, ohne Vorliegen eines Straftatverdachts gegen die Eigentümer, Mieter, Mitbewohner oder Besucher ausgehebelt werden.

Der richterliche Beschluss zur Anordnung dieser Maßnahme ist nach jeweils dreimonatiger Aktion zu erneuern, ohne dass eine zeitliche Obergrenze vorgesehen ist. Bei Gefahr im Verzug soll – trotz der Schwere des Eingriffs – eine Anordnung durch den Behördenleiter ausreichen. Die besonderen Berufsgeheimnisse von zeugnisverweigerungsberechtigten Personen sind keineswegs ausreichend geschützt.

Nachdem inzwischen selbst die eigenen vier Wände objektiv nicht mehr vor Lauschangriffen sicher seien, so der frühere Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling, drohe "ein Zivilisations­verlust, der unsere Demokratie verändern wird" (Grundrechte-Report 2003, S. 20).

5. In Bayern ist die automatische Erfassung von Auto-Kennzeichen und deren Abgleich mit Polizeidateien (Fahndungs- und sonstigem Datenbestand) geplant. Ergibt sich bei diesem Datenabgleich ein Verdacht, so wird das betreffende Fahrzeug verfolgt. Die bayerische Polizei testet bereits ohne jegliche Rechtsgrundlage entsprechende Systeme. Ob mit diesem Massenscreening nur Autokennzeichen oder auch andere, etwa biometrische Kennzeichen zum Zwecke der Gesichtserkennung erfasst und abgeglichen werden sollen, ist ebenso ungeklärt wie die Frage, was mit den erfassten Daten geschieht, ob sie etwa zur Erstellung von Bewegungsbildern und Reiseprofilen bestimmter Personen genutzt werden können.

Außer an den bayerischen Grenzen soll der automatische Kennzeichenabgleich auch an sogenannten gefährdeten Orten wie Flughäfen, Bahnhöfen und militärischen Einrichtungen erfolgen, darüber hinaus zur Überwachung von Straßen, Autobahnen, Einkaufszentren oder Parkplätzen. Vor Demonstrationen sollen auf diese Weise "bekannte Störer" ausgefiltert werden.

Fazit: Solche präventiven Regelungen sind in ihren Auswirkungen tendenziell uferlos, kaum kontrollierbar und daher unverhältnismäßig. In diesem zur Maßlosigkeit neigenden Präventionskonzept werden immer mehr unverdächtige Menschen polizeipflichtig gemacht und in Ermittlungsmaßnahmen involviert. Die zahlreichen Betroffenen merken in aller Regel nichts von den intensiven Eingriffen.

Wo die Prävention zur vorherrschenden Polizeilogik erhoben wird, da verkehren sich rasch die Beziehungen zwischen Bürger und Staat: Da verliert eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, nämlich die Unschuldsvermutung, unter der Hand ihre machtbegrenzende Funktion. Der Mensch mutiert zum (potentiellen) Sicherheitsrisiko – ein generalisiertes Misstrauensvotum, wie es schon bei der Schleier- und Rasterfahndung sowie bei der ausufernden Video-Überwachung im öffentlichen Raum zum Ausdruck kommt, in die alle Passanten einbezogen werden, ohne zu wissen, was mit den Aufzeichnungen anschließend geschieht.

Die neuen Instrumente machen einem präventiven Überwachungsstaat alle Ehre – einem Sicherheitsstaat, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen allmählich verloren gehen, Verunsicherung und Verängstigung gedeihen. Angesichts einer solchen Entwicklung gibt die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, zu bedenken:

"Eine demokratische politische Kultur lebt von der Meinungsfreude und dem Engagement der Bürger. Diese dürften allmählich verloren gehen, wenn der Staat seine Bürger biometrisch vermisst, datenmäßig durchrastert und seine Lebensregungen elektronisch verfolgt."

Im CDU-regierten Thüringen ist der Frontalangriff auf elementare Freiheitsrechte bereits im Juni 2002 umgesetzt worden. Insofern erhält die Thüringer Landesregierung den BigBrother Award für eine vollendete Tat. Diesem Pilotprojekt wollen nun Bayern (CSU), Niedersachsen (CDU/FDP) und Rheinland-Pfalz (SPD/FDP) folgen. Deshalb erhalten die dafür Verantwortlichen den Preis

 

2004: Preisträger der Kategorie „Behörden & Verwaltung“

Die sogenannte "Bundesagentur für Arbeit", vertreten von Frank Jürgen Weise, erhält den BigBrotherAward in der Kategorie "Behörden und Verwaltung" wegen a) der inquisitorischen Fragebögen zu ALG2, b) der Unwilligkeit, die Fragebögen vor 2005 datenschutzgerecht zu überarbeiten, sowie c) der vermuteten Zugriffsmöglichkeit auf die Daten der Arbeitssuchenden ("Kunden" ist ein Euphemismus) von sämtlichen Arbeitsagenturen aus bundesweit.

...für die Ausgabe eines 16seitigen Antragsformulars an Langzeitarbeitslose, mit dem hochsensible Daten teils unzulässig abgefragt werden und Informationen auch unbefugten Stellen zugänglich werden können. Damit verstößt die Bundesagentur massiv gegen den Sozialdatenschutz, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und den Grundsatz der Datensparsamkeit.

"Haben ... die mit Ihnen im Haushalt lebenden Angehörigen Vermögen? Bank- und Sparguthaben, Bargeld..., Kraftfahrzeug, Wertpapiere..., Kapitallebensversicherungen, Bausparverträge..., Wertsachen, Gemälde?" oder "Kann [Ihr Angehöriger] ... Ihrer Einschätzung nach mindestens drei Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit ... nachgehen?"

Dies sind Zitate aus dem Antragsbogen für das kommende Arbeitslosengeld II. Die Antragsteller müssen auf diesen Formularen entblößende Auskünfte über Einkommens-, Vermögens-, Wohn- und Familienverhältnisse offenbaren. Das betrifft Millionen Arbeitslose, denen seit Juli 2004 entsprechende Formulare zugesandt worden sind.

Hartz IV/ALG II stellen einen Generalangriff auf den Sozialstaat dar, der zu massiven sozialen Verwerfungen führen kann. Doch allein schon die datenschutzrechtlichen Probleme sind einen BigBrotherAward wert. Mit dem Antragsbogen sind gravierende Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung, die Persönlichkeitsrechte, die Privat- und Intimsphäre der Antragsteller verbunden. Nur drei Beispiele:

1. Offenlegung der Lebensverhältnisse Dritter: In den Erfassungsbögen müssen nicht nur die Antragsteller Angaben zu ihren Einkommens-, Vermögens-, Familien- und Wohnverhältnissen machen und durch entsprechende Nachweise belegen. Sie sehen sich auch gezwungen, sensible Daten über andere Personen anzugeben, insbesondere über ihre Kinder, Ehe- und Lebenspartner, andere Angehörige oder Mitbewohner in sogenannten Bedarfsgemeinschaften. Diese wissen im Zweifel noch nicht mal von der Weitergabe und Verarbeitung ihrer Daten.

2. Mangelhafte Eingrenzung der Fragen: Darüber hinaus wird in den Antragsbögen an vielen Stellen nicht unterschieden zwischen einerseits der "Bedarfsgemeinschaft", zu der Eltern und Kinder gehören, und andererseits einer "Haushaltsgemeinschaft", also der bloßen Wohngemeinschaft, auch wenn es sich bei dem Mitbewohner um einen Onkel handelt. Zu reinen Haushaltsgemeinschaften müssen zumeist keine Angaben gemacht werden, aber dieser Hinweis fehlt in den Antragsformularen. Auf diese Weise werden Antragsteller hinters Licht geführt und zu Informationen verleitet, die sie weder machen müssen, noch eigentlich machen dürfen.

3. Einsicht Unbefugter in geschützte Daten: Vom Antragsteller sowie von dessen erwerbstätigen Angehörigen und Mitbewohnern wird verlangt, Verdienstbescheinigungen von den jeweiligen Arbeitgebern beizubringen. Dafür ist das so genannte Zusatzblatt 2 ("Einkommenserklärung/Verdienstbescheinigung") vorgesehen – und zwar die Rückseite. Auf der Vorderseite findet der Arbeitgeber oder irgendein ausfüllender Kollege aus der Personalabteilung die eigentlich zu schützenden Daten ihrer Mitarbeiter und der Antragsteller. Normalerweise braucht aber niemand seinem Arbeitgeber zu offenbaren, was er sonst noch für Einnahmen hat, dass er ALG II beantragen muss oder dass er mit einem ALG-II-Empfänger zusammenlebt. Das wäre mit dem Sozialgeheimnis und dem Persönlichkeitsrecht nicht vereinbar und könnte sich im Einzelfall nachteilig auswirken.

Angesichts der massiven Kritik an den Antragsbögen lud Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) Arbeitslose ein, sich doch an ihn persönlich zu wenden, falls Probleme beim Ausfüllen auftreten sollten: "Wer nicht zurecht kommt, soll mich anrufen", lautet sein saloppes Angebot. Das Ausfüllen dauere höchstens eine halbe bis drei-viertel Stunde. Ein – vielleicht willkommener – Nebeneffekt des flotten Ausfüllens ist: Wer so schnell ausfüllt, übersieht am ehesten die Tücken, auch die datenschutzrechtlichen. Dieser Beschwichtigungsversuch ist also so populistisch wie zynisch – denn die gravierenden Mängel der Fragebögen sind auch nach berechtigter Fachkritik nicht behoben worden.

Seit Juli 2004 wurden die Antragsbögen verschickt, im August gab es ein dringendes Gespräch mit dem Bundesbeauftragten für Datenschutz, Peter Schaar, wegen erheblicher rechtlicher Bedenken. Das Ergebnis: Die Bundesanstalt für Arbeit hat die Kritik weitgehend eingesehen. Zukünftig sollen datenschutzgerechte Antragsbögen verwendet werden. Das ist die gute Nachricht – die schlechte: Vor Februar 2005 seien diese neuen Bögen aber nicht einsetzbar. Millionen von Menschen müssen also, wenn sie im Januar Geld zum Leben erhalten wollen, die alten, datenschutzwidrigen Formulare verwenden. Zwar hat die Bundesagentur im September neue Ausfüllhinweise (Stand 16.9.04) herausgegeben und darin etliche Fehler eingestanden und zu korrigieren versucht; aber die kamen für manche Antragsteller zu spät, bzw. sind vielen noch immer nicht bekannt.

Mit den Melde- und Nachweispflichten werden zukünftige Empfänger von Arbeitslosengeld praktisch unter den Generalverdacht des potentiellen Leistungsmissbrauchs gestellt – Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hat es klar und deutlich ausgedrückt, als er von der "Mitnahme-Mentalität" bei staatlichen Sozialleistungen bis weit in die Mittelschicht hinein gesprochen hat. Auch nach Antragstellung müssen Leistungs-Empfänger damit rechnen, weiter durchleuchtet zu werden. Außerdem sind ihre personenbezogenen Daten nicht ausreichend geschützt. Drei Beispiele:

1. Fehlerhafte Software: Die geplante automatische Verarbeitung der mit den Antragsformularen erhobenen Daten stößt auf erhebliche datenschutzrechtliche Bedenken – zumal inzwischen bekannt geworden ist, dass die Software mit systematischen Fehlern behaftet ist. Bisher weist alles darauf hin, dass es bei dem bundesweiten Datenverarbeitungssystem keinerlei Zugriffsbeschränkungen gibt. Dies bedeutet, dass nicht nur die örtliche Sachbearbeiterin, sondern sämtliche Sachbearbeiter aller Arbeitsagenturen bundesweit auf sämtliche hochsensiblen Daten aller Arbeitslosen Zugriff erhalten, ohne dass wirksame Missbrauchsvorkehrungen getroffen wären. Wir fragen uns, ob das ein Fehler in der Software ist oder ein gewünschter Effekt.

2. Geplanter Datenabgleich: Die Bundesagentur hat angekündigt, im Falle von "Ungereimtheiten" (z.B. Diskrepanzen zu früheren Angaben, widersprüchliche Angaben aus der Bedarfsgemeinschaft etc.) die Auskünfte der Betroffenen mit den Daten anderer Behörden, etwa der Finanzämter oder Rentenversicherungsträger, abzugleichen. Um die Kontrolle zu perfektionieren, lässt sich sogar auf "Antiterror"-Gesetze zurückgreifen: Danach müssen alle Geldinstitute über eine Computer-Schnittstelle jederzeit Informationen über sämtliche Konten und Depots von allen Bankkunden zum Abruf für die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) bereithalten (§ 24c KWG – Kreditwesengesetz) – ohne dass die Banken oder ihre Kunden von den Online-Abfragen etwas merken. Den Arbeitsagenturen stehen ab 2005 solche Finanz-Daten der Leistungsempfänger sowie der Kinder, Ehepartner, Lebensgefährten und Mitbewohner innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft zur Verfügung, "wenn eigene Ermittlungen", etwa Nachfragen beim Betroffenen oder bei Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft durch die Arbeitsagenturen, "keinen Erfolg versprechen" (§ 93 Abs. 8 AO).

3. Hausbesuche: Die Bundesagentur für Arbeit hat bereits angekündigt, zur Überprüfung von Vermögensangaben und Wohnverhältnissen auch Hausbesuche zu machen. Solche Heimsuchungen und Schnüffelmethoden stellen einen schweren Eingriff in die Privatsphäre der Betroffenen dar und verletzen das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Kontrollen in privaten Wohnräumen, um die Lebensverhältnisse der Antragsteller zu inspizieren, darf es ohne Einwilligung der Betroffenen nicht geben. Dabei stellt sich aber die Frage, welche Konsequenzen es haben kann, wenn jemand seine Einwilligung verweigert. Nach momentaner Rechtslage verletzt er damit seine Mitwirkungspflicht und macht sich erheblich verdächtig. Von Freiwilligkeit kann hier wohl kaum die Rede sein.

Fazit: Der Umgang der Bundesagentur mit sensiblen personenbezogenen Daten ist erschreckend. Die behördliche Neugier macht vor kaum einem Lebensbereich der Millionen von Betroffenen halt. Mit den Erfassungsbögen und der weiteren Datenverarbeitung werden die Persönlichkeitsrechte von Langzeitarbeitslosen ausgehöhlt, sie mutieren zu gläsernen Leistungsempfängern. Die Datenerhebung ist in weiten Teilen rechtlich unzulässig, weil mehr personenbezogene Daten abgefragt werden, als für die Feststellung des Leistungsanspruchs unabdingbar sind. Zwar versicherte die Bundesregierung, nur die erforderlichen Daten würden gespeichert und überflüssige gelöscht (Pressemitteilung vom 24.08.2004). Doch sie hat nicht mitgeteilt, wie sie dafür sorgen will, dass die unzulässig erhobenen Informationen aus den Hunderttausenden von Akten wieder entfernt werden sollen.

 

2005: Preisträger der Kategorie „Lifetime“

Der Big Brother Award 2005 in der Kategorie „Lifetime“ geht an

Bundesinnenminister Otto Schily (SPD).

Otto Schily erhielt in diesem Jahr mit Abstand die meisten Nominierungen – wie übrigens schon im Jahr 2001, als er für seine „Otto-Kataloge“ den „BigBrotherAward“ in der Kategorie „Politik“ verliehen bekam. In der Jury bestand große Einigkeit, dass Schily in diesem Jahr, zum mutmaßlichen Ende seiner politischen Karriere, der „Lifetime-Award“ für langjährige „Verdienste“ gebührt – wohlwissend, dass wir mit unserer Würdigung im Rahmen der Verleihung eines Negativpreises einer so schillernden Persönlichkeit wie Otto Schily und seiner gesamten Lebensleistung bei Weitem nicht gerecht werden können. Leider können wir hier und heute nur eine Auswahl aus der Fülle seiner beeindruckendsten Projekte und Initiativen würdigen.

Otto Schily erhält den BigBrother-Lifetime-Award 2005

Zu den großen Obsessionen unseres Preisträgers gehört die digitale Erfassung von biometrischen Merkmalen in Ausweispapieren. Schon ab 1. November 2005, also in wenigen Tagen, wird in der Bundesrepublik als erstem EU-Land der Reisepass mit solchen Merkmalen ausgerüstet. Auf einem kontaktlos per Funk auslesbaren RFID-Mikrochip wird neben den Personalien zunächst ein digitalisiertes Gesichtsbild gespeichert, ab März 2007 kommen zwei digitale Fingerabdrücke hinzu. Die Speicherung weiterer Merkmale, etwa Irisscan oder genetischer Fingerabdruck, ist möglich. Der nächste Schritt wird die Einführung des biometrischen Personalausweises sein.

Unter souveräner Missachtung von Parlamenten und Datenschützern und ohne gesellschaftliche Debatte boxte Schily sein Lieblingsprojekt auf EU-Ebene durch - am Bundestag vorbei, ohne demokratische Legitimation. Statt das Parlament über die Folgen für Datenschutz und Bürgerrechte entscheiden zu lassen, forcierte er eine EU-Verordnung, die unmittelbare Gesetzeswirkung in allen EU-Ländern hat. So brachte es Schily fertig, das Pass-Gesetz (§ 4) zu umgehen, das zur Festlegung der biometrischen Daten ein neues, vom Bundestag zu beschließendes Gesetz fordert.

Nicht nur wir halten Schilys selbstherrlichen Akt für zutiefst undemokratisch. Als der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar (Grüne) diese übereilte Einführung des ePasses durch die europäische Hintertür kritisierte und ein umfassendes sicherheitstechnisches Konzept zum Schutz der Daten forderte, bezichtigte ihn Otto Schily des Amtsmissbrauchs. Es liege nicht in Schaars Kompetenz, über Sinn und Zeitpunkt der Einführung biometrischer Merkmale zu befinden, wies ihn Schily via Deutschlandfunk zurecht und empfahl ihm gebieterisch „mehr Zurückhaltung“, auf dass er mit seinen Einwänden sein Amt nicht mehr missbrauche.

Mit diesem selbstgerechten Angriff auf die Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten wollte der beratungsresistente Schily offenbar einen fachkundigen Kritiker in seinem eigenen Verantwortungsbereich zum Schweigen bringen. Doch es gehört zu den Pflichten eines Datenschutzbeauftragten, die betroffene Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen, dass bis heute keine transparente Risikoanalyse existiert, um Missbrauch und Systemanfälligkeiten der Biometrie in Ausweisen überhaupt einschätzen zu können. Nach einer Studie des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) ist die neue Technologie weder praxistauglich noch ausgereift. So ist die Gesichtserkennung stark fehlerbehaftet, allein schon, weil sich Gesichter im Laufe der Jahre erheblich verändern. Es steht zu befürchten, dass täglich Tausende Menschen an Flughäfen zurückgewiesen und in ihrer Reisefreiheit beschränkt werden, weil ihre digitalen Fotos oder Fingerabdrücke von der Software nicht akzeptiert werden oder einem Vergleich mit dem leibhaftigen Original nicht Stand halten. Solche Personen kommen in Rechtfertigungszwang, schlimmstenfalls geraten sie in einen bösen Verdacht. Schily nimmt das wissentlich in Kauf.

Elektronische Ausweise sind zudem missbrauchsanfällig: Die biometrischen Daten können an allen Kontrollstellen im In- und Ausland ausgelesen und in Datenbanken gespeichert werden – ohne dass die Betroffenen wissen, wer auf die sensiblen Daten Zugriff hat und was anschließend mit ihnen passiert. Selbst das kontaktlose und daher unbemerkte Auslesen der RFID-Chips per Funk ist nicht wirklich auszuschließen, so dass nicht nur Grenzkontrollstellen, sondern auch unbefugte Dritte Bewegungsprofile von arglosen Passinhabern anfertigen könnten.

Zwar konnten die Grünen im Bundestag Schilys ursprünglichen Plan, alle biometrischen Daten in einer Zentraldatei zu speichern, bislang noch verhindern. Doch auch dezentrale Speicherungen würden Risiken bergen: Mit geringem Mehraufwand könnten biometrische Passdaten aus dezentralen Dateien automatisch mit Fahndungsdateien und Fingerabdrücken von Straftätern und Verdächtigen abgeglichen werden, aber auch mit Fingerabdrücken, die an Tatorten gefunden werden. Und die digitalisierten Gesichtsbilder könnten etwa mit Video-Aufnahmen aus dem öffentlichen Raum abgeglichen werden, um eine verdächtige oder gesuchte Person herauszufiltern. Ein großer Schritt zum Generalverdacht gegen alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes – oder gleich ganz Europas, denn auf EU-Ebene gibt es bereits Pläne für eine biometrische Zentraldatei.

Im Zusammenhang mit elektronischen Ausweispapieren wird eine milliardenteure Überwachungsinfrastruktur mit hohem Missbrauchspotential aufgebaut. Für die Bürger steigen die Kosten eines Reisepasses um mehr als das Doppelte von 26 auf 59 Euro – wie hoch die staatlichen Subventionen pro ePass liegen, wagen wir nicht zu schätzen. Doch der riesige Kostenaufwand steht in keinem vernünftigen Verhältnis zum angeblichen Sicherheitsgewinn. Denn auch der ePass mit seinen biometrischen Merkmalen kann manipuliert werden. Im übrigen gelten die bisherigen bundesdeutschen Ausweispapiere schon jetzt als die fälschungssichersten der Welt.

Gleichwohl verkaufte Otto Schily sein biometrisches Projekt als großen Fortschritt für die Sicherheit und als wichtigen Baustein im Kampf gegen organisierte Kriminalität und internationalen Terrorismus. Mit dieser Behauptung nährt Schily allenfalls eine riskante Sicherheitsillusion, denn der ePass führt keineswegs automatisch zu mehr Sicherheit. Weder die Selbstmord-Anschläge in New York, noch diejenigen von Madrid oder London hätten mit der neuen Technologie verhindert werden können. Schließlich gibt es kein biometrisches Merkmal, das signalisiert: „Dieser Pass gehört einem potentiellen Terroristen ‑ bitte vor jedem Anschlagsversuch kontrollieren.“

Otto Schily nötigte uns den ePass nicht nur als vermeintliches Sicherheitsinstrument auf, sondern auch als Innovationsprojekt zur Sicherung nationaler Standortvorteile: Die rasche Einführung der biometrischen Verfahren vor allen anderen EU‑Staaten liege im ureigenen deutschen Interesse. Damit „bringen wir den Beweis“, so Schily in einer Rede am 2. Juni 2005, „wie rasch sich deutsche Firmen auf die neue Sicherheitstechnik und auf den zukunftsorientierten Wachstumsmarkt der Biometrie eingestellt haben“. Deutschland nehme so in Sachen Sicherheit eine Führungsrolle in der EU ein. Wir sehen darin allerdings eine verdeckte Wirtschaftsförderung, etwa zugunsten der Bundesdruckerei GmbH und der Chiphersteller Philips und Infineon, aber auch vorauseilenden Gehorsam gegenüber den USA, die in Sachen Biometrie auf die europäischen Regierungen massiven Druck ausgeübt hatten.

Die biometrisch-digitale Erfassung der gesamten Bevölkerung ist nicht nur ein unverhältnismäßiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung, sondern auch eine Misstrauenserklärung an die Bevölkerung. Sie muss sich behandeln lassen, wie bislang nur Tatverdächtige oder Kriminelle im Zuge einer Erkennungsdienstlichen Behandlung. Mit Schilys biometrischer Obsession werden Menschen im Namen vermeintlicher Sicherheit zu bloßen Objekten staatlicher Macht degradiert – ohne dass dies auch nur durch „Gefahrennähe“ des Einzelnen gerechtfertigt wäre. Otto Schily kontert mit dem zynischen Argument, dass „die Würde des Fingers“ auch nicht größer sei als die des Gesichts (lt. SZ 24.8.04). Im übrigen beruft er sich gerne auf spanische Ausweise, die bereits nicht-digitalisierte Fingerabdrücke enthalten. Allerdings verschweigt er, dass es sich dabei um ein Relikt aus faschistischen Franco-Zeiten handelt. Und er verschweigt, dass damit weder Anschläge der baskischen ETA noch die Anschläge von Madrid verhindert werden konnten.

Demnächst wird hierzulande selbst den hartnäckigsten Sicherheitsfanatikern das Lachen vergehen, denn ein solches wird auf den neuen Digitalfotos verboten sein – offene Münder oder blitzende Zähne könnten nämlich die Hightech-Lesegeräte irritieren. Lediglich ein leichtes Grinsen mit geschlossenen Lippen und bei ansonsten neutralem Gesichtsausdruck wird noch statthaft sein. Beim elektronischen Gesichtsabgleich werden wohl Vollbärte, dicke Brillen, aufgespritzte Lippen oder Nasenoperationen genauso zum Sicherheitsproblem, wie das unvermeidliche Älterwerden und deutlicher werdende Falten im Gesicht.

Mit dem „BigBrother-Lifetime-Award“ würdigen wir die Wandlung des anthroposophisch geprägten Preisträgers Otto Schily vom linksliberalen Anwalt über den realogrünen Oppositionspolitiker zum staatsautoritären SPD-Polizeiminister – eine Metamorphose, die viele Menschen nur schwer nachvollziehen können. Vor vielen, vielen Jahren stand sein Name als herausragender Strafverteidiger der außerparlamentarischen Linken und besonders im Stammheimer RAF-Prozess für den Kampf gegen Deformationen des Rechtsstaates, die dieser damals im Zuge der Terrorismusbekämpfung erleiden musste. Es war jene Zeit, in der Schily noch die mahnenden Worte einer Erklärung der „Humanistischen Union“ unterschrieben hatte: „Man bekämpft die Feinde des demokratischen Rechtsstaats nicht mit dessen Abbau, und man verteidigt die Freiheit nicht mit deren Einschränkung“ (1978).

So ändern sich die Zeiten – dennoch will Schily von biografischen Brüchen nichts wissen: Vom „Terroristenprozess“ in Stammheim bis zu seinen „Antiterror“-Gesetzen – kontinuierlich wähnte er sich im Einsatz für den Rechtsstaat, wenn auch in unterschiedlichen Rollen. Doch Schily hat nicht nur die Rollen, sondern die Seiten gewechselt – und zwar kompromisslos: Aus dem eloquenten Strafverteidiger, der im Interesse seiner Mandanten rechtsstaatliche Prinzipien gegen staatsautoritäre Übergriffe verteidigte, wurde spätestens in seiner Funktion als Bundesinnenminister ein autoritärer Staats-Anwalt, der die Macht des Staates zu Lasten der individuellen Freiheitsrechte ausgebaut hat. Schily machte den Staat zu seinem Mandanten, für dessen Autorität und Stärke er sich auf geradezu fundamentalistische Weise eingesetzt hat. Schon länger hält er die Angst vor dem Leviathan, also vor einer entfesselten Staatsmacht, für ein Problem von vorgestern. Der Einzelne müsse heute nicht mehr vor dem Staat geschützt werden, nur noch vor Kriminalität und Terror. Jedes Misstrauen gegen staatliche Maßnahmen ist im Schily-Staat demnach unangebracht, ja verwerflich, zumindest verdächtig.

Schon als Oppositionspolitiker hatte der von den Grünen zur SPD konvertierte Schily die spätere rot-grüne Koalition mit schweren Hypotheken belastet – so mit dem Großen Lauschangriff. Schily, der in Stammheim selbst Opfer von Lauschangriffen geworden war, hatte an der dafür nötigen Verfassungsänderung, die ohne die SPD nicht zustande gekommen wäre, maßgeblich mitgewirkt - und damit an der Aushöhlung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Jahre später hat das Bundesverfassungsgericht dieses Machwerk für weitgehend verfassungswidrig erklärt. Verfassungswidrige Betätigung – strenggenommen ein Fall für den „Verfassungsschutz“, im Fall Schily offenbar eine höchst paradoxe Empfehlung für den Posten des Innenministers, der schließlich auch als Verfassungs(schutz)minister fungiert.

Als Geburtshelfer des Großen Lauschangriffs hatte Schily ursprünglich sogar für eine noch weit schärfere Fassung gefochten: Wäre es nach ihm gegangen, wären elektronische Wanzen auch gegen Berufsgeheimnisträger wie Journalisten oder Ärzte einsetzbar gewesen. Seit jener Zeit sind zumindest erhebliche Zweifel an seiner Verfassungstreue angebracht, zumal er zuvor schon die faktische Abschaffung des Asylgrundrechts betrieben hatte. Man muss sich seitdem fragen: Ist Schily bereit, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten, wie es von jedem Beamten gefordert wird, oder neigt er dazu, diese vermehrt zugunsten der Staatsräson und zu Lasten der Bürgerrechte einzuschränken?

Unser Preisträger hat mit seiner Law-and-order-Politik einen gehörigen Beitrag dazu geleistet, dass bürgerrechtliche Grundwerte in der herrschenden Sicherheitspolitik mehr und mehr verdrängt worden sind – ganz besonders nach den Terroranschlägen vom 11.9.2001 in den USA. Damals verkündete Schily als Bundesinnenminister, die rot-grüne Koalition werde „alle polizeilichen und militärischen Mittel aufbieten, über die die freiheitlich-demokratische Staatsordnung, die wehrhafte Demokratie verfügt“. Mit dieser martialischen Androhung trat Schily einen fatalen Gesetzesaktionismus los, bediente den krankhaften Sicherheits-Wahn so mancher Bürger, und nutzte ihn zur Legitimierung langgehegter Nachrüstungspläne, ließ sie aus den Schubladen der Macht kramen, zu voluminösen „Otto-Katalogen“ schnüren und mit Antiterror-Etiketten bekleben. Anstatt der Bevölkerung die Wahrheit über Unsicherheitsfaktoren in einer Risikogesellschaft zuzumuten und deutlich zu machen, dass absolute Sicherheit leider nicht und nirgendwo zu erreichen ist, machen Schily und andere Regierungspolitiker mit symbolischer Politik bis heute unhaltbare Sicherheitsversprechen.

Mit den sog. Antiterror-Gesetzen, für die Otto Schily wie kein anderer steht, haben Polizei und Geheimdienste erweiterte Aufgaben und Befugnisse erhalten. Damit wurde die ohnehin hohe Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft noch weiter erhöht. Vermehrt können Beschäftigte in sog. lebens- oder verteidigungswichtigen Einrichtungen geheimdienstlichen Sicherheitsüberprüfungen unterzogen werden – mitunter auch ihre Lebenspartner und ihr soziales Umfeld. Betroffen sind Einrichtungen und sicherheitsempfindliche Stellen, so heißt es im Gesetz wörtlich, „die für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind und deren Beeinträchtigung erhebliche Unruhe in großen Teilen der Bevölkerung entstehen lassen würde“. Gemeint sind Einrichtungen, die der Versorgung der Bevölkerung dienen, wie Energie-Unternehmen, Krankenhäuser, Chemie-Anlagen, Bahn, Post, Banken, Telekommunikationsbetriebe, aber auch Rundfunk- und Fernsehanstalten können betroffen sein.

Migrantinnen und Migranten, unter ihnen besonders Muslime, werden praktisch per Gesetz unter Generalverdacht gestellt, zu gesteigerten Sicherheitsrisiken erklärt und einem rigiden Überwachungssystem unterworfen – denken wir nur an die biometrische Erfassung von Fingerabdrücken und Stimmprofilen, an geheimdienstliche Regelanfragen, an erleichterte Auslieferungen und Abschiebungen. Ohne wirklichen Nachweis, dass von ihnen mehr Terror ausgehe als von Deutschen, werden Migranten oft – unter Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes – einer entwürdigenden Sonderbehandlung unterzogen, die für viele existentielle Folgen haben kann.

Die „Antiterror“-Gesetze bewirken eine verhängnisvolle Lockerung des Datenschutzes, ganz im Sinne Otto Schilys, der den Datenschutz ohnehin für „übertrieben“ hielt – gerade so, als könnten selbstmörderische Terroranschläge mit weniger Datenschutz und mehr Eingriffen in die Privatsphäre der Bürger verhindert werden. Doch die meisten Gesetzesverschärfungen taugen nur wenig zur Bekämpfung eines religiös-aufgeladenen, selbstmörderischen Terrors; sie schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Freiheitsrechte um so mehr. Etliche der Antiterror-Maßnahmen sind unverhältnismäßig, ja maßlos – sie zeigen Merkmale eines nicht erklärten Ausnahmezustands und eines autoritären Präventionsstaates, in dem letztlich Rechtssicherheit und Vertrauen verloren gehen. Die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, verliert in dieser Sicherheitskonzeption ihre machtbegrenzende Funktion. Der Mensch wird zum potentiellen Sicherheitsrisiko, der seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muss – während Otto Schily die vermeintliche Sicherheit zum Supergrundrecht erklärt, das die wirklichen Grundrechte der Bürger - als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates - in den Schatten stellt.

In seinem missionarischen Eifer als Staatsschützer schreckte der Preisträger selbst vor extremistischen Forderungen aus dem Arsenal von Diktaturen nicht zurück: So würde er allzu gerne „gefährliche“ Personen ohne konkreten Verdacht in präventive Sicherungshaft nehmen lassen. Otto Schilys zuweilen obrigkeitsstaatliche Interpretation des Rechtsstaats zeigt sich auch in seinen folgenden Staatschutzprojekten:

Er hat mit einem gemeinsamen Antiterror-Lagezentrum und mit dem Plan einer zentralen „Islamistendatei“ Grundsteine für einen Datenverbund aller Geheimdienste und des Bundeskriminalamts gelegt. Eine noch engere Vernetzung würde die Aufhebung des verfassungsmäßigen Gebots der Trennung von Polizei und Geheimdiensten bedeuten – immerhin eine Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo im Nationalsozialismus. Damit nimmt Schily eine Machtkonzentration in Kauf, die kaum noch wirksam kontrollierbar sein wird.

Schily hat sich mit Vehemenz dafür eingesetzt, dass alle Telekommunikationskontakte – ob per Telefon, SMS, Email oder Internet ‑ zur Terror- und Kriminalitätsbekämpfung deutschland- und europaweit für mindestens zwölf Monate auf Vorrat gespeichert werden. Also: Wer hat mit wem, wann, wie oft und wie lange von wo nach wo fernmündlich oder schriftlich kommuniziert, welche SMS- oder Internet-Verbindungen genutzt, welche Suchmaschinen mit welchen Begriffen benutzt, welche websites besucht und mit welchen Email-Empfängern kommuniziert? Mit dieser beispiellosen Vorratsdatensammlung ließe sich das Kommunikations- und Konsumverhalten einzelner Telekommunikationsnutzer heimlich ablesen – Verhaltens- und Kontaktprofile inklusive.

Auch die Pressefreiheit ist vor Otto Schily keineswegs sicher: So rechtfertigt er undifferenziert und hartnäckig die höchst umstrittene Durchsuchung der Redaktionsräume des Monatsmagazins „Cicero“ und der Privatwohnung eines Journalisten durch das Bundeskriminalamt (BKA), zu der Schily die Ermächtigung erteilt hatte. Der Journalist hatte zulässigerweise aus einem geheimen BKA-Papier zitiert. Weil die undichte Stelle im BKA, also der Lieferant des Geheimdossiers, nicht zu finden war, wurde gegen den Journalisten wegen „Beihilfe zum Geheimnisverrat“ ermittelt – stundenlange Razzien und kistenweise Beschlagnahme von Recherchematerial inklusive. Das gesuchte Dokument wurde nicht gefunden, dafür „Zufallsfunde“ zuhauf, die mit dem Durchsuchungsanlass nicht das Geringste zu tun haben, aber zu weiteren Ermittlungsverfahren führten. Mit dieser Verdächtigung, als Journalist am Verrat von Dienstgeheimnissen selbst beteiligt gewesen zu sein, lassen sich Informantenschutz und Zeugnisverweigerungsrecht praktisch aushebeln – und damit das hohe Gut der Pressefreiheit. Solche Praktiken können letztlich dazu führen, kritische Journalisten einzuschüchtern und von investigativen Recherchen abzuhalten.

So sehen die fatalen Folgen aus, wenn man, wie der Preisträger, die Sicherheit zum Grundrecht kürt, wenn man die Staatsräson zum Verfassungsgrundsatz erhebt, die alles andere dominiert: Dann herrscht partielle Willkür, dann werden Bürgerrechte zur Makulatur. Angesichts überzogener Antiterrormaßnahmen und einer eskalierenden Sicherheitsdebatte warnte der frühere Datenschutzbeauftragte und Vorsitzende des Nationalen Ethikrates, Spiros Simitis, eindringlich: „Jetzt ist der Punkt erreicht, wo wir am Grundbestand unserer verfassungsrechtlichen Vorgaben angelangt sind – der Übergang in eine totalitäre Gesellschaft ist fließend“. Und der Soziologe Ulrich Beck sieht mit der „Risikogesellschaft“, in der wir leben, ohnehin eine „Tendenz zu einem ‚legitimen‘ Totalitarismus der Gefahrenabwehr“ verbunden: Ausgestattet mit „dem Recht, das Schlimmste zu verhindern“, schaffe sie in „nur allzu bekannter Manier das andere Noch-Schlimmere”. Anstatt dieser fatalen Tendenz wirksam entgegenzutreten, betätigte sich Otto Schily als ihr missionarischer Vollstrecker. Selbst sein Ministerkollege Wolfgang Clement fand deutliche Worte für Otto Schilys freiheitsbegrenzendes Wirken, als er seine Zeit nach dem Ausstieg aus der Bundesregierung so skizzierte: „Ich bin ein freier Mensch und werde jetzt von meinen Freiheitsrechten Gebrauch machen – und zwar ausgiebig ‑, natürlich nur in dem Rahmen, den Otto Schily mir noch zur Verfügung stellt...“ (WDR 10.10.2005).



[1] Geräte, mit denen Handys geortet und teilweise auch abgehört werden können. Die Problematik der IMSI-Catcher ist, dass immer alle Handys im Umkreis betroffen sind, nicht nur das von Tatverdächtigen

[2] An diesem Tag wurden in den Vereinigten Staaten von Amerika vier Flugzeuge von mutmaßlichen Terroristen entführt. Zwei davon stürzten in die Türme des World Trade Centers in New York, eines in das Pentagon das vierte stürzte in freiem Gelände ab.

[3] Am 1. November 2005 wurde der biometrische Reisepass eingeführt. Zunächst ist nur ein Bild auf dem integrierten Funkchip gespeichert. Später sollen Fingerabdrücke folgen.

[4] BigBrotherAwards-Preisträger im Jahr 2000

[5] Eine Erklärung, was IMSI-Catcher sind, findet sich in der Laudatio in der Kategorie Politik des Jahres 2000