Aus:
Tangens/padeluun (Hg.),
Schwarzbuch
Datenschutz.
Ausgezeichnete Datenkraken der BigBrotherAwards
Edition Nautilus, Hamburg 2006.
Der BigBrotherAward der
Kategorie "Politik" geht an den Innensenator von Berlin Dr. Eckart
Werthebach für die geplante Erweiterung und Erneuerung der Telefonüberwachungsanlagen
und die geplante Anschaffung von sogenannten IMSI-Catchern[1]
in der Bundeshauptstadt. Damit soll in Berlin die Telekommunikation in
zunehmendem Maße ohne jede Erfolgskontrolle abgehört werden.
Die Verleihung des BigBrotherAward an den Berliner
Innensenator erfolgt exemplarisch für die Bestrebungen in vielen Bundesländern,
die Möglichkeiten der polizeilichen Telekommunikationsüberwachung massiv
auszubauen. Anfang September 2000 beantragte der Senator für Inneres beim
Berliner Abgeordnetenhaus die Beschaffung von weiterer Gerätetechnik für die
Telefonüberwachung. Bis 1999 waren hierfür Investitionen in Höhe von 3 Mio.
Mark getätigt. Damit wurde die Erneuerung und Erweiterung auf 75 Aufzeichnungsgeräte
und 55 Auswertungsgeräte erreicht. Bis 2003 sollen weitere 4,7 Mio. Mark
hierfür ausgegeben werden. Außerdem wird die Genehmigung von 0,5 Mio. Mark
für die Mobilfunküberwachung (IMSI-Catcher) gefordert. Dabei wird die
Telefonüberwachung als ein ”absolut unverzichtbares polizeitaktisches Mittel
zur Informationsgewinnung im Bereich der Schwerstkriminalität” bezeichnet.
Es soll von der Jury nicht bestritten werden, dass
Telefonüberwachungs-Maßnahmen zur Aufklärung von Straftaten wirksam sein
können. Die undifferenzierte Forderung nach immer mehr Telefonüberwachung
stellt aber eine massive Gefährdung für das Fernmeldegeheimnis dar. Vorhandene
Überwachungstechnik wird (dies ist eine praktische Erfahrung) im Interesse
optimaler Ausnutzung von Ressourcen, auch genutzt. Dadurch werden immer mehr unschuldige
Menschen von – gesetzlich erlaubter – Telefonüberwachung erfasst und
ausgehorcht. Seit Jahren ist Deutschland Weltmeister im Abhören. 1999 erreichte
die Zahl der Überwachungen mit 3066 Strafverfahren und 6646 Anschlussinhabern
und seit Jahren anhaltend zweistelligen Zuwachsraten einen neuen Höchststand.
Weit höher ist die offiziell nicht bekannte Zahl
betroffener Einzelanschlüsse sowie der überwachten Beteiligten. Auch
öffentliche Fernsprecher wie Telefonzellen werden abgehört. Rund 40 % der
Abhörmaßnahmen, deren Dauer ebenfalls stieg, richteten sich 1999 gegen
unverdächtige Anschlussinhaber. Undifferenziert betroffen sind auch
Vertrauenspersonen wie ÄrztInnen oder RechtsanwältInnen. In einem einzigen
großen Ermittlungsverfahren wurden einmal mehr als 40.000 Telefongespräche abgehört.
Innensenator Dr. Werthebach fordert mehr
Telekommunikationsüberwachung, ohne deren Effektivität nachweisen zu können und
zu wollen. Eine von den Datenschutzbeauftragten seit Jahren geforderte
Evaluation wurde bis heute weder in Berlin noch in anderen Ländern vorgenommen.
Ebenso wenig ist eine nachträgliche richterliche Kontrolle vorgesehen. Dessen
ungeachtet versuchen die Innenverwaltungen, den weltweiten Spitzenplatz bei der
Telefonüberwachung weiter auszubauen – auf Kosten des Fernmeldegeheimnisses.
Aufgerüstet wird nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ.
Dies gilt z.B. für die Nutzung des
Telefons als Wanze, für den Einsatz von Stimmerkennungssystemen oder wie von
Dr. Werthebach gefordert – durch die Beschaffung von IMSI-Catchern. Die Beschaffung
von IMSI-Catchern durch andere Länder ist bisher nicht bekannt. Damit werden
nicht nur die Handynummern von eventuellen Verdächtigen ”gecatcht”, sondern
auch die von völlig Unbeteiligten. Um festzustellen, dass diese tatsächlich unbeteiligt
sind, muss gegen sie ermittelt werden. Der IMSI-Catcher-Einsatz, dessen
Legalisierung 1997 vom Bundesgesetzgeber abgelehnt wurde, verursacht zugleich
eine Störung des Mobilfunkverkehrs. Mit ihm kann grundsätzlich auch der
Gesprächsinhalt abgehört werden. Dies wäre nach den Worten des
Bundesbeauftragten für den Datenschutz ein ”eklatanter Verstoß gegen das Recht
auf unbeobachtete Kommunikation”.
2001: Preisträger der Kategorie "Politik"
Der
BigBrotherAward der Kategorie "Politik" und damit der Hauptpreis geht
an den Bundesminister des Innern, Otto Schily, weil er unter dem Deckmantel der
Terrorbekämpfung für den Abbau von Bürgerrechten, für den Abbau von Datenschutz
und die Einschränkung der informationellen Selbstbestimmung in Deutschland und
Europa eintritt.
Er setzt sich dauerhaft – und seit dem 11.9.2001[2]
nochmals verstärkt – für neue Ermittlungsbefugnisse der Polizei und der
Geheimdienste ein, ohne die verfassungsmäßig garantierten Bürgerrechte zu
berücksichtigen.
Und er mißachtet in besonderer Weise das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung von ausländischen Bürgerinnen und Bürgern.
Otto Schily hat sich sozusagen überqualifiziert: Er
erhielt mit Abstand die meisten Nominierungen für die diesjährige
Preisverleihung. In der Jury bestand Einigkeit, dass Innenminister Schily in
diesem Jahr der Hauptpreis gebührt.
Von allen deutschen Politikern, die seit den
terroristischen Anschlägen in den USA den Datenschutz in Frage stellen, hat
sich Otto Schily am deutlichsten hervorgetan. Schily plädierte dafür, dass der
Datenschutz "neu definiert" werden müsse, dass "Sicherheitsinteressen
nicht durch Datenschutzbestimmungen behindert werden dürfen". Schily
stellte die Frage, ob der Datenschutz nicht oft "übertrieben" worden
sei. Er ließ seinen Sprecher davor warnen, dass der "Datenschutz sich
nicht als Terroristenschutz auswirkt".
Schily ist nicht irgendein Politiker. Er ist der Minister,
der für die Bundesregierung die Vorschläge zur öffentlichen Sicherheit
ausarbeitet, dessen nachgeordnete Behörden diese Vorschläge umsetzen und der
für den Schutz der Verfassung, zu der vorrangig die Bürgerrechte gehören,
verantwortlich zeichnet. In dieser Eigenschaft obliegt ihm insbesondere der
Schutz des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung.
Statt dessen versucht Innenminister Schily, mit immer
neuen Vorschlägen fälschlich den Eindruck zu vermitteln, durch zusätzliche und
gegen große Bevölkerungsgruppen gerichtete Überwachungsmaßnahmen könne ein Mehr
an Sicherheit für die Bevölkerung gegen den Terrorismus erreicht werden. Schily
steht an erster Stelle jener Politiker in Deutschland, die die schrecklichen
Terroranschläge in den USA als Anlass und Legitimation zur Durchsetzung
freiheitsbeschneidender Gesetze instrumentalisieren.
Otto Schily forderte schon wenige Tage nach den
Anschlägen, Fingerabdrücke in Pässe und Personalausweise aufzunehmen. Die Folge
wäre zwangsläufig eine bundesweite daktyloskopische Erfassung der deutschen
Bevölkerung und damit eine verfassungswidrige Vorratsdatenspeicherung. Inzwischen
plant er, weitere biometrische Daten wie Gesichtsgeometrie oder Irismerkmale
auf Ausweispapieren zu speichern, mit der Folge, dass sich die ganze
Bevölkerung biometrisch vermessen lassen müsste.[3]
Schily will, dass Telekommunikationsunternehmen und
Internet-Provider verpflichtet werden, Nutzungs- und Verbindungsdaten
mindestens sechs Monate lang zu speichern. Diese ausschließlich für Zwecke der
Strafverfolgung initiierten Maßnahmen unterwerfen die gesamte Bevölkerung
pauschal einem Kriminalitätsverdacht.
Schily setzt sich außerdem ein für die Schaffung eines
Datenverbundes aller deutschen Geheimdienste und des Bundeskriminalamtes, für
verdachtsunabhängige Ermittlungskompetenzen des BKA sowie für eine umfassende
Kronzeugenregelung, die selbst dann Strafmilderung verspricht, wenn andere
fälschlich beschuldigt werden.
Die Vorverlegung polizeilicher Maßnahmen ins weite Vorfeld
von Straftaten oder konkreten Gefahren sowie die Aufhebung der Trennung
zwischen Polizei und Geheimdiensten sind Merkmale, welche bereits die
nationalsozialistische Geheime Staatspolizei und die Stasi in der ehemaligen
DDR kennzeichneten. Eine solch ausufernde Sicherheitspolitik und eine
demokratisch kaum zu kontrollierende Machtkonzentration sollten nach diesen
Erfahrungen in Deutschland wirksam unterbunden werden.
Das Hauptgewicht der vorgeschlagenen Überwachungsmaßnahmen
richtet sich dabei nicht gegen die deutsche Bevölkerungsmehrheit, sondern gegen
Ausländerinnen und Ausländer, die ohnehin schon zu der am meisten überwachten
Bevölkerungsgruppe gehören. Damit schürt Schily Angst, Abwehr und Aggressionen
gegen Fremde.
Mit der Einführung eines neuen § 129b ins
Strafgesetzbuch, der die Mitgliedschaft auch in internationalen "terroristischen
Vereinigungen" unter Strafe stellen soll, wird nicht etwa ein wirksames
Instrument zur Zerschlagung derartiger Organisationen geschaffen, sondern vor
allem ein Ermittlungsparagraf, der eben auch zur strafrechtlichen Verfolgung legitimen
politischen Widerstands gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit in diktatorischen
Ländern genutzt werden kann.
Anstatt das Ausländerzentralregister (AZR)[4]
auf ein verfassungskonformes Maß zurecht zu stutzen, sollen nach dem Wunsch von
Schily die Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten des AZR noch ausgebaut
werden durch zusätzliche Speicherung personenbezogener Merkmale (z.B.
Religionszugehörigkeit), durch erweiterte Online-Zugriffsmöglichkeiten oder
durch die Neueinführung einer Nutzungsbefugnis für Sozialbehörden. Schon
im vorigen Jahr hat das Ausländerzentralregister wegen seiner jahrzehntelangen
Förderung der Diskriminierung von Ausländern, wegen seines Beitrags zur Schwächung
der Grundrechte einen BigBrotherAward erhalten.
Durch zusätzliche Maßnahmen soll der Überwachungsdruck auf
Ausländerinnen und Ausländer weiter erhöht werden, z.B. durch das Erfassen von
Fingerabdrücken bei der Visa-Beantragung, durch die Einführung der Regelanfrage
bei Geheimdiensten im Fall von Einbürgerungen und der Erteilung von
Aufenthaltsgenehmigungen, durch die Durchführung von Rasterfahndungsmaßnahmen,
durch die Einführung bundesweiter Islamismusdateien oder einer Warndatei zur
Bekämpfung von Visa-Erschleichung und Schlepperkriminalität.
Mit der Forderung nach einem verstärkten Austausch
zwischen Asylbehörden und Geheimdiensten, die ihrerseits einen Datenaustausch
mit Geheimdiensten in den Herkunfts- bzw. Verfolgerstaaten pflegen, würde faktisch
das im Asylrecht zugestandene Recht auf Schutz vor Verfolgung untergraben.
Die umfangreiche Erfassung zusätzlicher personenbezogener
Daten und die von Schily geforderte Vernetzung bzw. der Abgleich
unterschiedlicher Datenbanken von AZR, Polizei, Einwohnermeldeamt und anderen
Behörden vergrößert und erleichtert die Gefahr von Datenmißbrauch oder
Fehlinterpretationen.
All diesen Maßnahmen ist gemein, dass sie nicht geeignet
sind, terroristische Gefahren abzuwehren oder terroristische Taten aufzuklären,
dass sie aber dazu beitragen, ein Klima der Intoleranz zu fördern, in dem
Fremdenfeindlichkeit und Hass gedeihen. Dieses Klima könnte den Nährboden für weitere
terroristische Aktionen bilden. Teilweise haben die Vorschläge nicht einmal im
Ansatz einen Bezug zur Terrorismusbekämpfung. Vieles ist nichts anderes als das
Wiederaufkochen von datenschutzfeindlichen Ladenhütern, die bisher selbst unter
einer schwarz-gelben Regierung aus guten Gründen nicht realisiert worden sind.
Schilys Vorschläge ignorieren, dass die bestehenden
Regelungen bereits ein umfassendes Instrumentarium zur effektiven Bekämpfung
terroristischer Straftaten zur Verfügung stellen. Sie lenken von
Vollzugsdefiziten bei den Sicherheitsbehörden, von irrigen Lagebeurteilungen
und von der Tatsache ab, dass es keinen sicheren Schutz vor Terrorismus geben
kann, schon gar nicht vor Selbstmord-Attentaten. Terrorismusrisiken lassen sich
nicht mit der technischen Überwachung ganzer Bevölkerungsteile minimieren,
sondern durch die minutiöse Aufklärung der Taten und der sich dabei zeigenden
terroristischen Strukturen sowie durch Prävention, sowohl durch gesellschaftliche
Prävention über einen interkulturellen Austausch als auch durch den technischen
Schutz potenzieller Angriffsziele.
Otto Schily treibt im übrigen – trotz Bedenken auch in der
Bundesregierung – den weiteren Ausbau von Europol voran, etwa durch die
Zulassung neuer operativer, "exekutiver" und informationeller
Befugnisse, durch die Festlegung neuer Zuständigkeiten oder den Aufbau neuer
Ermittlungseinheiten und Dateien – ohne dabei auch nur eine Maßnahme zu
initiieren, mit der die demokratischen und rechtsstaatlichen Defizite dieser
europäischen Polizeibehörde abgebaut werden könnten. Bis heute agiert Europol
nämlich ohne jegliche parlamentarische Verantwortlichkeit und Kontrolle, und
ohne dass betroffene Bürger gerichtlichen Rechtsschutz erlangen können. Damit
ist Schily einer der Hauptverantwortlichen für die Weiterentwicklung von
Europol zu einer gesamteuropäischen Überwachungsstruktur mit erheblichem Missbrauchspotential.
Der sicherheitspolitische Aktionismus Schilys nach den
Terroranschlägen ist die Zuspitzung einer von ihm seit drei Jahren forcierten
bürgerrechtsfeindlichen Sicherheitspolitik. Er zeichnet dafür verantwortlich,
dass im Bundeskriminalamt sogenannte Gewalttäterdateien mit verharmlosenden
Namen wie "Remo", "Aumo" oder "Limo" eingerichtet
wurden, deren Speicherungen u.a. dazu führten, dass nicht vorbestrafte
Bürgerinnen und Bürger, die gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Genua
demonstrieren wollten, an der Ausreise aus der Bundesrepublik gehindert oder
über lange Zeit ohne Nachweis eines strafbaren Tuns in Italien inhaftiert
wurden. Das vom Grundgesetz garantierte Recht auf Handlungs- und Bewegungsfreiheit
wurde so außer Kraft gesetzt.
Otto Schily und sein Ministerium sind bis heute den
Nachweis schuldig geblieben, dass "der Datenschutz" die
Kriminalitäts- oder Terrorismusbekämpfung behindert hätte. Datenschutzrechtliche
Regelungen und ihre Beachtung sind Grundvoraussetzungen dafür, dass die
Bevölkerung der Arbeit der Sicherheitsbehörden Vertrauen entgegenbringt. Mit
seiner Sicherheitskampagne trägt er dazu bei, dass die Grundlagen des
demokratischen und freiheitlichen Systems, die es gegen den Terrorismus zu
verteidigen gilt, untergraben werden.
Der BigBrotherAward der
Kategorie "Behörden und Verwaltung" wird im Jahr 2002 verliehen an
das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden z.H. des BKA-Präsidenten Dr. Klaus Ulrich
Kersten, weil das Amt seit 2001 im Zusammenhang mit drei neu
eingerichteten Präventiv-Dateien gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht
der darin erfassten Personen verstößt. Es handelt sich um folgende Verbund-Dateien im
polizeilichen Informationssystem INPOL mit den bemerkenswert verharmlosenden Kürzeln
LIMO, REMO und AUMO:
um die sog. Gewalttäter Links-Datei zur "Verhinderung
politisch links motivierter Straftaten", kurz: LIMO, die sog. Gewalttäter
Rechts-Datei zur "Erfassung rechtsorientiert politisch motivierter
Straftäter", kurz: REMO, und die Datei "Straftäter politisch
motivierter Ausländerkriminalität", kurz: AUMO.
Diese Dateien werden gemeinsam von Bund und Ländern genutzt
und sind jederzeit von allen Dienststellen der Polizei und des Bundesgrenzschutzes
abrufbar. Bereits weit über tausend Menschen sind darin als "potentielle
Gewalttäter" erfasst, obwohl viele von ihnen noch nie als gewalttätig
aufgefallen sind.
Am Beispiel der "Gewalttäter-Links"-Datei lassen
sich die verfassungs- bzw. datenschutzrechtlichen Verstöße verdeutlichen:
Vorsorgliche Erfassung möglicher "Unruhestifter"
Diese Datei ist auf Beschluss der Innenministerkonferenz
durch das BKA im Wege einer "Sofortanordnung" errichtet worden – ohne
vorherige Anhörung des Bundesdatenschutzbeauftragten und wegen nicht näher
begründeter "Eilbedürftigkeit".
Erst viel später wurde eine amtliche Errichtungsanordnung
erlassen. Danach werden in dieser Datei nicht nur Gewalttäter und Gewalttaten
im engeren Sinne erfasst, sondern "Erkenntnisse" im Zusammenhang mit
insgesamt 20 Straftatbeständen – von Delikten gegen Leib und Leben oder fremde
Sachen bis hin zur "Störung öffentlicher Betriebe", die der Versorgung
dienen (§ 316b StGB) oder Straftaten nach dem Versammlungsgesetz.
Wer nun allerdings denkt, dass sich in dieser
"Gewalttäter-Datei" nur rechtskräftig verurteilte Gewalttäter wiederfinden
oder solche Personen, bei denen Waffen sichergestellt wurden, irrt sich
gewaltig. Denn Aufnahme finden auch bloß Verdächtige sowie Personen, gegen die
in der Vergangenheit lediglich Personalienfeststellungen, Platzverweise oder
Präventivhaft angeordnet wurden.
Das bedeutet: Wer mit der Polizei bei Versammlungen auch
nur in Berührung kommt und dabei erfasst wird, ohne jemals Gewalt ausgeübt zu
haben, kann sich leicht als potentieller Gewalttäter in einer der
Gewalttäter-Dateien des BKA wiederfinden.
Einzige Voraussetzung für diese "vorsorgliche
Erfassung möglicher Unruhestifter" ("Die Zeit"): Es müssen "bestimmte
Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Personen zukünftig Straftaten von
erheblicher Bedeutung begehen werden". Doch auch solche Personen
können gespeichert werden, bei denen "die Persönlichkeit des Betroffenen
oder sonstige Erkenntnisse" Grund zu der Annahme geben, dass künftig
Strafverfahren gegen sie zu führen sein werden.
Auch bloße "Kontakt- und Begleitpersonen" von
Verdächtigen können gespeichert werden, "soweit dies zur Verhütung oder
zur Vorsorge für die künftige Verfolgung einer Straftat mit erheblicher
Bedeutung erforderlich ist".
Es handelt sich bei diesen Voraussetzungen letztlich um
reine Prognoseentscheidungen, die allein der Polizei überlassen bleiben.
Insofern sind diese Dateien weitere Bausteine in einer längst eingeleiteten
Präventionsstrategie, die immer weiter im Vorfeld von strafbaren Handlungen und
des Verdachts ansetzt. Damit geraten immer mehr Menschen – auch vollkommen
unbescholtene Personen – in polizeiliche Maßnahmen, die tief in die Persönlichkeitsrechte
eingreifen.
Entsprechend "auffällig" gewordene Erwachsene
und Jugendliche werden grundsätzlich drei bzw. fünf Jahre lang, Kinder (!), die
das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, zwei Jahre lang gespeichert. Da
drängt sich unwillkürlich die Frage auf, was Kinder in einer polizeilichen
Präventiv-Datei zu suchen haben. Im übrigen ist eine Verlängerung der
Speicherzeit ohne weiteres möglich. Andererseits führt die Einstellung eines
Ermittlungsverfahrens oder ein Freispruch – trotz genereller Berichtigungspflicht
des BKA – in der Praxis noch lange nicht zu einer Löschung der Daten.
Fragwürdige Präventivdaten als Basis für Reiseverbote
Diese "Gewalttäter-Dateien" sind nicht allein
wegen der Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bürgerrechtsschädigend
– denn die Präventiv-Speicherungen können noch weitere gravierende Grundrechtsbeschränkungen
für die Betroffenen nach sich ziehen: So kann es passieren, dass sich
solchermaßen erfasste Personen bei Kontrollen und Grenzübertritten repressiven
Polizei-Maßnahmen ausgesetzt sehen – bis hin zu polizeilichen Meldeauflagen,
Pass-Entzug und Ausreiseverboten.
Das bekamen in den Jahren 2001 und 2002 insbesondere
Globalisierungskritiker zu spüren, die an Demonstrationen im Ausland teilnehmen
wollten. So steht etwa der umstrittene G-8-Gipfel in Genua 2001 nicht nur für
Ausschreitungen und polizeilich-militärische Eskalation, sondern auch für ein
dunkles bundesdeutsches Kapitel in Sachen Bewegungs- und Reisefreiheit, für
eine neue Qualität der präventiven Intoleranz:
Zahlreichen Menschen wurde an der Grenze die Ausreise
verwehrt, obwohl sie weder mit Haftbefehl noch sonst polizeilich gesucht
wurden. Sie durften nicht nach Genua reisen, nur weil sie früher schon mal
polizeilich erfasst worden waren – etwa anlässlich einer Polizeikontrolle am
Rande einer Demonstration. Obwohl gegen sie keine Verfahren eingeleitet, keine
Anklagen erhoben worden waren, galten sie als potentielle
"Gewalttäter", die in der "Gewalttäter-Links-Datei"
gespeichert sind und denen auf dieser "Erkenntnis"-Grundlage die
Ausreise verwehrt wurde. Sie waren über diese Verdatung nicht informiert
worden, so dass sie sich dagegen auch nicht rechtlich zur Wehr setzen konnten.
Als Rechtsgrundlage für Ausreiseverbote dient das
Passgesetz, das erst im Jahr 2000 entsprechend verschärft worden ist. Danach
können Reisebeschränkungen in die Pässe von "Gewalttätern"
eingetragen und Ausreiseverbote von der Polizei verhängt werden, sofern
"Tatsachen die Annahme rechtfertigen", die Betroffenen gefährdeten
"die innere und äußere Sicherheit" oder "sonstige erhebliche
Belange" der Bundesrepublik – auch wenn ihnen aktuell nichts vorgeworfen
werden kann. Wer dennoch auszureisen versucht, kann mit Freiheitsstrafe von bis
zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft werden.
Auch Menschen, die es trotz der verschärften Polizei- und
Grenzkontrollen bis Genua geschafft hatten, wurden von ihrem Datenschatten
eingeholt. Denn bereits im Vorfeld des Genua-Gipfels hatte das BKA Auszüge aus
der "Gewalttäter-Links"-Datei in einer "lista tedesca" an
die italienische Polizei weitergegeben. Dabei zeigte sich: Wenn gespeicherte
Verdachtsmomente, also ungesicherte Präventiv-Daten über verdächtige Personen
oder "Risikogruppen" im Wege des polizeilichen Datenaustauschs an
ausländische Sicherheitsbehörden weitergegeben werden, kann das für die
Betroffenen fatale Folgen haben. Manche konnten tatsächlich anhand der Liste
als "polizeibekannt" aussortiert werden und sahen sich daraufhin
Haftverlängerungen, Schikanen sowie folterähnlichen Praktiken der italienischen
Polizei ausgesetzt.
Fazit: Verletzung verfassungsrechtlicher Prinzipien
Die Kombination von fragwürdigen Präventivdateien,
verschärftem Passgesetz, exekutiven Reiseverboten und schikanösen
Polizeipraktiken kann leicht zur Verletzung der Grundrechte auf Freizügigkeit,
der Handlungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit führen und selbst die
körperliche Integrität der Betroffenen verletzen.
Es ist ein Skandal, dass solche gravierenden
Exekutiv-Eingriffe allein auf ungesicherte präventive Polizeidaten in
"Gewalttäter"-Dateien gestützt werden können – weitere Erkenntnisse
müssen jedenfalls nicht hinzukommen. Diese Vorratsdaten-Speicherungen stempeln
die Betroffenen zu "polizeibekannten reisenden Gewalttätern".
Die vagen Kriterien für die Aufnahme in die
"Gewalttäter"-Dateien, die Speicherdauer von drei bis fünf Jahren,
die Erfassung von Kindern und die Nichtbenachrichtigung der Betroffenen
widersprechen datenschutzrechtlichen Prinzipien. Sie verletzen das Recht auf Informationelle
Selbstbestimmung, die Unschuldsvermutung und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Der
BigBrotherAward im Bereich Politik wird verliehen an die Regierungen/Innenminister
der Bundesländer Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen weil sie
im Windschatten der Terrorismusbekämpfung die Verschärfung ihrer
Landespolizeigesetze betreiben und damit drastische Einschnitte in elementare
Grund- und Freiheitsrechte einer Vielzahl unverdächtiger Personen einkalkulieren.
Bedroht sind insbesondere das Brief- und Fernmeldegeheimnis, das Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung und damit das Recht auf freie Kommunikation
ohne Angst vor Repressalien.
1. In allen genannten Bundesländern soll die präventive
Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) durch die Polizei legalisiert werden – also
das vorsorgliche Abhören von Telefonen und Handys sowie das vorsorgliche Mitlesen
von Faxen, SMS und Emails, ohne dass eine Straftat oder ein Anfangsverdacht
vorliegen muss. Zur Begründung heißt es: Beim Abhören könnte sich ja der
Verdacht auf eine Straftat ergeben, die dann verhindert werden könnte, so die
Logik der Gesetzesmacher. Dabei sollen schon vage Anhaltspunkte ausreichen, um
potentielle Störer "zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben
oder Freiheit einer Person oder bedeutende Sach- und Vermögenswerte"
belauschen zu können; oder aber um Personen zu überwachen, "bei denen tatsächliche
Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass sie zukünftig schwerwiegende
Straftaten begehen" (Formulierungen der Entwürfe variieren).
Mit einer solchen Befugnis, wie sie bislang nur in
Thüringen legalisiert ist, kann die Polizei die Telekommunikation von
"vorverdächtigten" Personen im weiten Vorfeld eines Anfangsverdachts
vorsorglich überwachen – selbst wenn rein zufällige und unverdächtige Kommunikationspartner
wie Verwandte, Nachbarn, Arbeitskollegen und sonstige Bekannten von den
Lauschaktionen betroffen werden. Zum Teil soll sogar die Kommunikation mit unverdächtigen
Kontakt- und Vertrauenspersonen wie Rechtsanwälten, Abgeordneten, Ärzten,
Journalisten, Psychotherapeuten oder Seelsorgern überwacht werden können – und
zwar ungeachtet der besonderen Schweigepflichten, denen solche Personen
unterliegen. Auf diese Weise wird das gesetzlich verankerte Zeugnisverweigerungsrecht
von Berufsgeheimnisträgern ausgehebelt, ebenso wie wesentliche Elemente der
Pressefreiheit: nämlich der Schutz von Informanten und das Redaktionsgeheimnis.
Unabhängige Recherchen wären so nicht mehr zu gewährleisten.
Dass die Maßnahme von einem Amtsrichter angeordnet werden
muss, ist kein ausreichender Schutz, wie die ausufernde Praxis der Telefonüberwachung
zur Strafverfolgung zeigt. Denn es gibt bis heute keine Ermittlungskompetenz
des Richters und keine gerichtliche Verlaufs- und Erfolgskontrolle solcher
Überwachungsmaßnahmen. Schon gehört die Bundesrepublik allein in diesem Bereich
mit jährlich über 15.000 abgehörten Telefonanschlüssen und Millionen von
Betroffenen zu den weltweiten Spitzenreitern im Abhören – ein trauriger Rekord,
der den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling dazu brachte, das
Brief- und Fernmeldegeheimnis als "Totalverlust" abzuschreiben
(Grundrechte-Report 2003, S. 15). Das Recht auf freie Kommunikation ohne Angst
vor Überwachung und Repressalien ist nicht mehr garantiert.
2. Die präventive Überwachung der Telekommunikation
schließt neben der Inhaltskontrolle auch die näheren Umstände der
Telekommunikation ein (Erfassung und Speicherung von Verbindungsdaten). Wer
geschäftsmäßig Telekommunikationsdienstleistungen erbringt oder auch nur daran
mitwirkt, wird gesetzlich verpflichtet, der Polizei die Überwachung und
Aufzeichnung der Telekommunikation zu ermöglichen: Zu diesem Zweck müssen sie
die notwendigen technischen Voraussetzungen schaffen, um damit Unmengen von
Überwachungsdaten auf Verdacht und Vorrat erfassen und speichern zu können. Die
Diensteanbieter müssen der Polizei jederzeit Auskünfte über die näheren
Umstände und Verbindungen früherer, aktueller und künftiger Telekommunikationsprozesse
erteilen: Wer hat mit wem, wann und wie lange von wo nach wo fernmündlich oder
schriftlich kommuniziert, welche SMS- oder Internetverbindungen genutzt.
3. Auch die Standortfeststellung von Telekommunikationsteilnehmern
mit Hilfe sog. IMSI-Catcher[5]
ist geplant. Einerseits können mit diesen schuhkartongroßen Geräten die individuellen
Kennungen und Gerätenummern von Handys ausgeforscht werden. Aufgrund dieser
Identifikation kann die Polizei dann Verbindungsdaten der Mobilfunkteilnehmer
beim jeweiligen Telekommunikationsunternehmen abfragen. Andererseits können zur
genauen Standortbestimmung Handys elektronisch geortet werden, auch wenn diese
nur standby geschaltet sind. Dadurch wird der Polizei die Möglichkeit eröffnet,
Bewegungsbilder ihrer Besitzer und Nutzer zu erstellen – nicht etwa zur
Verfolgung von Straftätern, nein: zur Verfolgung von Personen, denen künftig
Straftaten zugetraut werden (also zur Verfolgung von prinzipiell Unverdächtigen).
Die Bürgerrechtsorganisation "Humanistische
Union" hat im Juli diesen Jahres vor dem Bundesverfassungsgericht
Verfassungsbeschwerde gegen den Einsatz des IMSI-Catchers zum Zwecke der
Strafverfolgung erhoben, der Anfang 2003 in der Strafprozessordnung legalisiert
worden ist. Der IMSI-Catcher-Einsatz führe zur unterschiedlosen Erfassung
gänzlich unverdächtiger Personen und verstoße deshalb gegen das Fernmeldegeheimnis
des Art. 10 Grundgesetz, das auf diese Weise undifferenzierten
Ermittlungsmethoden geopfert werde.
4. In Rheinland-Pfalz ist der Einsatz von elektronischen
Wanzen und Video-Kameras zum präventiven Großen Lausch- und Spähangriff in und
aus Wohnungen geplant, wie er bereits in Thüringen (und Baden-Württemberg) legalisiert
worden ist. Zur Installation der Lausch- und Spähwanzen soll die Polizei die
auszuforschende Wohnung unerkannt betreten können. Damit kann das Grundrecht
auf Unverletzlichkeit der Wohnung bereits im Vorfeld, ohne Vorliegen eines
Straftatverdachts gegen die Eigentümer, Mieter, Mitbewohner oder Besucher ausgehebelt
werden.
Der richterliche Beschluss zur Anordnung dieser Maßnahme
ist nach jeweils dreimonatiger Aktion zu erneuern, ohne dass eine zeitliche
Obergrenze vorgesehen ist. Bei Gefahr im Verzug soll – trotz der Schwere des
Eingriffs – eine Anordnung durch den Behördenleiter ausreichen. Die besonderen
Berufsgeheimnisse von zeugnisverweigerungsberechtigten Personen sind keineswegs
ausreichend geschützt.
Nachdem inzwischen selbst die eigenen vier Wände objektiv
nicht mehr vor Lauschangriffen sicher seien, so der frühere Bundesverfassungsrichter
Jürgen Kühling, drohe "ein Zivilisationsverlust, der unsere Demokratie
verändern wird" (Grundrechte-Report 2003, S. 20).
5. In Bayern ist die automatische Erfassung von
Auto-Kennzeichen und deren Abgleich mit Polizeidateien (Fahndungs- und
sonstigem Datenbestand) geplant. Ergibt sich bei diesem Datenabgleich ein
Verdacht, so wird das betreffende Fahrzeug verfolgt. Die bayerische Polizei
testet bereits ohne jegliche Rechtsgrundlage entsprechende Systeme. Ob mit
diesem Massenscreening nur Autokennzeichen oder auch andere, etwa biometrische
Kennzeichen zum Zwecke der Gesichtserkennung erfasst und abgeglichen werden
sollen, ist ebenso ungeklärt wie die Frage, was mit den erfassten Daten
geschieht, ob sie etwa zur Erstellung von Bewegungsbildern und Reiseprofilen
bestimmter Personen genutzt werden können.
Außer an den bayerischen Grenzen soll der automatische
Kennzeichenabgleich auch an sogenannten gefährdeten Orten wie Flughäfen, Bahnhöfen
und militärischen Einrichtungen erfolgen, darüber hinaus zur Überwachung von
Straßen, Autobahnen, Einkaufszentren oder Parkplätzen. Vor Demonstrationen
sollen auf diese Weise "bekannte Störer" ausgefiltert werden.
Fazit: Solche präventiven Regelungen sind in ihren
Auswirkungen tendenziell uferlos, kaum kontrollierbar und daher unverhältnismäßig.
In diesem zur Maßlosigkeit neigenden Präventionskonzept werden immer mehr unverdächtige
Menschen polizeipflichtig gemacht und in Ermittlungsmaßnahmen involviert. Die
zahlreichen Betroffenen merken in aller Regel nichts von den intensiven
Eingriffen.
Wo die Prävention zur vorherrschenden Polizeilogik erhoben
wird, da verkehren sich rasch die Beziehungen zwischen Bürger und Staat: Da
verliert eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, nämlich die Unschuldsvermutung,
unter der Hand ihre machtbegrenzende Funktion. Der Mensch mutiert zum
(potentiellen) Sicherheitsrisiko – ein generalisiertes Misstrauensvotum, wie es
schon bei der Schleier- und Rasterfahndung sowie bei der ausufernden
Video-Überwachung im öffentlichen Raum zum Ausdruck kommt, in die alle
Passanten einbezogen werden, ohne zu wissen, was mit den Aufzeichnungen anschließend
geschieht.
Die neuen Instrumente machen einem präventiven
Überwachungsstaat alle Ehre – einem Sicherheitsstaat, in dem Rechtssicherheit
und Vertrauen allmählich verloren gehen, Verunsicherung und Verängstigung
gedeihen. Angesichts einer solchen Entwicklung gibt die ehemalige Präsidentin
des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, zu bedenken:
"Eine demokratische
politische Kultur lebt von der Meinungsfreude und dem Engagement der Bürger.
Diese dürften allmählich verloren gehen, wenn der Staat seine Bürger biometrisch
vermisst, datenmäßig durchrastert und seine Lebensregungen elektronisch
verfolgt."
Im CDU-regierten Thüringen ist der Frontalangriff auf
elementare Freiheitsrechte bereits im Juni 2002 umgesetzt worden. Insofern
erhält die Thüringer Landesregierung den BigBrother Award für eine vollendete
Tat. Diesem Pilotprojekt wollen nun Bayern (CSU), Niedersachsen (CDU/FDP) und
Rheinland-Pfalz (SPD/FDP) folgen. Deshalb erhalten die dafür Verantwortlichen
den Preis
Die
sogenannte "Bundesagentur für Arbeit", vertreten von Frank Jürgen
Weise, erhält den BigBrotherAward in der Kategorie "Behörden und Verwaltung"
wegen a) der inquisitorischen Fragebögen zu ALG2, b) der Unwilligkeit, die
Fragebögen vor 2005 datenschutzgerecht zu überarbeiten, sowie c) der vermuteten
Zugriffsmöglichkeit auf die Daten der Arbeitssuchenden ("Kunden" ist
ein Euphemismus) von sämtlichen Arbeitsagenturen aus bundesweit.
...für
die Ausgabe eines 16seitigen Antragsformulars an Langzeitarbeitslose, mit dem
hochsensible Daten teils unzulässig abgefragt werden und Informationen auch
unbefugten Stellen zugänglich werden können. Damit verstößt die Bundesagentur
massiv gegen den Sozialdatenschutz, das Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung und den Grundsatz der Datensparsamkeit.
"Haben ... die mit Ihnen im Haushalt lebenden
Angehörigen Vermögen? Bank- und Sparguthaben, Bargeld..., Kraftfahrzeug,
Wertpapiere..., Kapitallebensversicherungen, Bausparverträge..., Wertsachen,
Gemälde?"
oder "Kann [Ihr Angehöriger] ... Ihrer Einschätzung nach mindestens
drei Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit ... nachgehen?"
Dies sind Zitate aus dem Antragsbogen für das kommende
Arbeitslosengeld II. Die Antragsteller müssen auf diesen Formularen entblößende
Auskünfte über Einkommens-, Vermögens-, Wohn- und Familienverhältnisse offenbaren.
Das betrifft Millionen Arbeitslose, denen seit Juli 2004 entsprechende
Formulare zugesandt worden sind.
Hartz IV/ALG II stellen einen Generalangriff auf den
Sozialstaat dar, der zu massiven sozialen Verwerfungen führen kann. Doch allein
schon die datenschutzrechtlichen Probleme sind einen BigBrotherAward wert. Mit
dem Antragsbogen sind gravierende Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung,
die Persönlichkeitsrechte, die Privat- und Intimsphäre der Antragsteller verbunden.
Nur drei Beispiele:
1. Offenlegung der Lebensverhältnisse Dritter: In den Erfassungsbögen
müssen nicht nur die Antragsteller Angaben zu ihren Einkommens-, Vermögens-,
Familien- und Wohnverhältnissen machen und durch entsprechende Nachweise
belegen. Sie sehen sich auch gezwungen, sensible Daten über andere Personen anzugeben,
insbesondere über ihre Kinder, Ehe- und Lebenspartner, andere Angehörige oder
Mitbewohner in sogenannten Bedarfsgemeinschaften. Diese wissen im Zweifel noch
nicht mal von der Weitergabe und Verarbeitung ihrer Daten.
2. Mangelhafte Eingrenzung der Fragen: Darüber hinaus wird
in den Antragsbögen an vielen Stellen nicht unterschieden zwischen einerseits
der "Bedarfsgemeinschaft", zu der Eltern und Kinder gehören, und andererseits
einer "Haushaltsgemeinschaft", also der bloßen Wohngemeinschaft, auch
wenn es sich bei dem Mitbewohner um einen Onkel handelt. Zu reinen
Haushaltsgemeinschaften müssen zumeist keine Angaben gemacht werden, aber
dieser Hinweis fehlt in den Antragsformularen. Auf diese Weise werden
Antragsteller hinters Licht geführt und zu Informationen verleitet, die sie
weder machen müssen, noch eigentlich machen dürfen.
3. Einsicht Unbefugter in geschützte Daten: Vom
Antragsteller sowie von dessen erwerbstätigen Angehörigen und Mitbewohnern wird
verlangt, Verdienstbescheinigungen von den jeweiligen Arbeitgebern
beizubringen. Dafür ist das so genannte Zusatzblatt 2 ("Einkommenserklärung/Verdienstbescheinigung")
vorgesehen – und zwar die Rückseite. Auf der Vorderseite findet der Arbeitgeber
oder irgendein ausfüllender Kollege aus der Personalabteilung die eigentlich zu
schützenden Daten ihrer Mitarbeiter und der Antragsteller. Normalerweise
braucht aber niemand seinem Arbeitgeber zu offenbaren, was er sonst noch für
Einnahmen hat, dass er ALG II beantragen muss oder dass er mit einem ALG-II-Empfänger
zusammenlebt. Das wäre mit dem Sozialgeheimnis und dem Persönlichkeitsrecht
nicht vereinbar und könnte sich im Einzelfall nachteilig auswirken.
Angesichts der massiven Kritik an den Antragsbögen lud
Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) Arbeitslose ein, sich doch an
ihn persönlich zu wenden, falls Probleme beim Ausfüllen auftreten sollten:
"Wer nicht zurecht kommt, soll mich anrufen", lautet sein saloppes
Angebot. Das Ausfüllen dauere höchstens eine halbe bis drei-viertel Stunde. Ein
– vielleicht willkommener – Nebeneffekt des flotten Ausfüllens ist: Wer so
schnell ausfüllt, übersieht am ehesten die Tücken, auch die
datenschutzrechtlichen. Dieser Beschwichtigungsversuch ist also so populistisch
wie zynisch – denn die gravierenden Mängel der Fragebögen sind auch nach
berechtigter Fachkritik nicht behoben worden.
Seit Juli 2004 wurden die Antragsbögen verschickt, im
August gab es ein dringendes Gespräch mit dem Bundesbeauftragten für
Datenschutz, Peter Schaar, wegen erheblicher rechtlicher Bedenken. Das
Ergebnis: Die Bundesanstalt für Arbeit hat die Kritik weitgehend eingesehen.
Zukünftig sollen datenschutzgerechte Antragsbögen verwendet werden. Das ist die
gute Nachricht – die schlechte: Vor Februar 2005 seien diese neuen Bögen aber
nicht einsetzbar. Millionen von Menschen müssen also, wenn sie im Januar Geld
zum Leben erhalten wollen, die alten, datenschutzwidrigen Formulare verwenden.
Zwar hat die Bundesagentur im September neue Ausfüllhinweise (Stand 16.9.04)
herausgegeben und darin etliche Fehler eingestanden und zu korrigieren
versucht; aber die kamen für manche Antragsteller zu spät, bzw. sind vielen
noch immer nicht bekannt.
Mit den Melde- und Nachweispflichten werden zukünftige
Empfänger von Arbeitslosengeld praktisch unter den Generalverdacht des
potentiellen Leistungsmissbrauchs gestellt – Bundeskanzler Gerhard Schröder
(SPD) hat es klar und deutlich ausgedrückt, als er von der
"Mitnahme-Mentalität" bei staatlichen Sozialleistungen bis weit in
die Mittelschicht hinein gesprochen hat. Auch nach Antragstellung müssen
Leistungs-Empfänger damit rechnen, weiter durchleuchtet zu werden. Außerdem
sind ihre personenbezogenen Daten nicht ausreichend geschützt. Drei Beispiele:
1. Fehlerhafte Software: Die geplante automatische
Verarbeitung der mit den Antragsformularen erhobenen Daten stößt auf erhebliche
datenschutzrechtliche Bedenken – zumal inzwischen bekannt geworden ist, dass
die Software mit systematischen Fehlern behaftet ist. Bisher weist alles darauf
hin, dass es bei dem bundesweiten Datenverarbeitungssystem keinerlei Zugriffsbeschränkungen
gibt. Dies bedeutet, dass nicht nur die örtliche Sachbearbeiterin, sondern
sämtliche Sachbearbeiter aller Arbeitsagenturen bundesweit auf sämtliche hochsensiblen
Daten aller Arbeitslosen Zugriff erhalten, ohne dass wirksame
Missbrauchsvorkehrungen getroffen wären. Wir fragen uns, ob das ein Fehler in
der Software ist oder ein gewünschter Effekt.
2. Geplanter Datenabgleich: Die Bundesagentur hat
angekündigt, im Falle von "Ungereimtheiten" (z.B. Diskrepanzen zu
früheren Angaben, widersprüchliche Angaben aus der Bedarfsgemeinschaft etc.)
die Auskünfte der Betroffenen mit den Daten anderer Behörden, etwa der
Finanzämter oder Rentenversicherungsträger, abzugleichen. Um die Kontrolle zu
perfektionieren, lässt sich sogar auf "Antiterror"-Gesetze
zurückgreifen: Danach müssen alle Geldinstitute über eine
Computer-Schnittstelle jederzeit Informationen über sämtliche Konten und Depots
von allen Bankkunden zum Abruf für die Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) bereithalten (§ 24c KWG – Kreditwesengesetz)
– ohne dass die Banken oder ihre Kunden von den Online-Abfragen etwas merken.
Den Arbeitsagenturen stehen ab 2005 solche Finanz-Daten der Leistungsempfänger
sowie der Kinder, Ehepartner, Lebensgefährten und Mitbewohner innerhalb einer
Bedarfsgemeinschaft zur Verfügung, "wenn eigene Ermittlungen", etwa
Nachfragen beim Betroffenen oder bei Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft durch
die Arbeitsagenturen, "keinen Erfolg versprechen" (§ 93 Abs. 8 AO).
3. Hausbesuche: Die Bundesagentur für Arbeit hat bereits
angekündigt, zur Überprüfung von Vermögensangaben und Wohnverhältnissen auch
Hausbesuche zu machen. Solche Heimsuchungen und Schnüffelmethoden stellen einen
schweren Eingriff in die Privatsphäre der Betroffenen dar und verletzen das
Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Kontrollen in privaten
Wohnräumen, um die Lebensverhältnisse der Antragsteller zu inspizieren, darf es
ohne Einwilligung der Betroffenen nicht geben. Dabei stellt sich aber die Frage,
welche Konsequenzen es haben kann, wenn jemand seine Einwilligung verweigert.
Nach momentaner Rechtslage verletzt er damit seine Mitwirkungspflicht und macht
sich erheblich verdächtig. Von Freiwilligkeit kann hier wohl kaum die Rede
sein.
Fazit: Der Umgang der Bundesagentur mit sensiblen
personenbezogenen Daten ist erschreckend. Die behördliche Neugier macht vor
kaum einem Lebensbereich der Millionen von Betroffenen halt. Mit den
Erfassungsbögen und der weiteren Datenverarbeitung werden die Persönlichkeitsrechte
von Langzeitarbeitslosen ausgehöhlt, sie mutieren zu gläsernen
Leistungsempfängern. Die Datenerhebung ist in weiten Teilen rechtlich unzulässig,
weil mehr personenbezogene Daten abgefragt werden, als für die Feststellung des
Leistungsanspruchs unabdingbar sind. Zwar versicherte die Bundesregierung, nur
die erforderlichen Daten würden gespeichert und überflüssige gelöscht
(Pressemitteilung vom 24.08.2004). Doch sie hat nicht mitgeteilt, wie sie dafür
sorgen will, dass die unzulässig erhobenen Informationen aus den
Hunderttausenden von Akten wieder entfernt werden sollen.
Der Big Brother Award 2005 in der Kategorie „Lifetime“
geht an
Bundesinnenminister
Otto Schily (SPD).
Otto Schily erhielt in diesem
Jahr mit Abstand die meisten Nominierungen – wie übrigens schon im Jahr 2001,
als er für seine „Otto-Kataloge“ den „BigBrotherAward“ in der Kategorie
„Politik“ verliehen bekam. In der Jury bestand große Einigkeit, dass Schily in diesem Jahr, zum
mutmaßlichen Ende seiner politischen Karriere, der „Lifetime-Award“ für
langjährige „Verdienste“ gebührt – wohlwissend, dass wir mit unserer Würdigung
im Rahmen der Verleihung eines Negativpreises einer so schillernden
Persönlichkeit wie Otto Schily und seiner gesamten Lebensleistung bei Weitem
nicht gerecht werden können. Leider können wir hier und heute nur eine Auswahl
aus der Fülle seiner beeindruckendsten Projekte und Initiativen würdigen.
Otto
Schily erhält den BigBrother-Lifetime-Award 2005
Zu den großen Obsessionen unseres Preisträgers gehört die
digitale Erfassung von biometrischen Merkmalen in Ausweispapieren. Schon ab
1. November 2005, also in wenigen Tagen, wird in der Bundesrepublik
als erstem EU-Land der Reisepass mit solchen Merkmalen ausgerüstet. Auf einem
kontaktlos per Funk auslesbaren RFID-Mikrochip wird neben den Personalien
zunächst ein digitalisiertes Gesichtsbild gespeichert, ab März 2007 kommen zwei
digitale Fingerabdrücke hinzu. Die Speicherung weiterer Merkmale, etwa Irisscan
oder genetischer Fingerabdruck, ist möglich. Der nächste Schritt wird die
Einführung des biometrischen Personalausweises sein.
Unter souveräner Missachtung von Parlamenten und
Datenschützern und ohne gesellschaftliche Debatte boxte Schily sein Lieblingsprojekt
auf EU-Ebene durch - am Bundestag vorbei, ohne demokratische Legitimation.
Statt das Parlament über die Folgen für Datenschutz und Bürgerrechte
entscheiden zu lassen, forcierte er eine EU-Verordnung, die unmittelbare
Gesetzeswirkung in allen EU-Ländern hat. So brachte es Schily fertig, das
Pass-Gesetz (§ 4) zu umgehen, das zur Festlegung der biometrischen Daten ein
neues, vom Bundestag zu beschließendes Gesetz fordert.
Nicht nur wir halten Schilys selbstherrlichen Akt für
zutiefst undemokratisch. Als der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar
(Grüne) diese übereilte Einführung des ePasses durch die europäische Hintertür
kritisierte und ein umfassendes sicherheitstechnisches Konzept zum Schutz der
Daten forderte, bezichtigte ihn Otto Schily des Amtsmissbrauchs. Es liege nicht
in Schaars Kompetenz, über Sinn und Zeitpunkt der Einführung biometrischer
Merkmale zu befinden, wies ihn Schily via Deutschlandfunk zurecht und empfahl
ihm gebieterisch „mehr Zurückhaltung“, auf dass er mit seinen Einwänden sein
Amt nicht mehr missbrauche.
Mit diesem selbstgerechten Angriff auf die Unabhängigkeit
des Datenschutzbeauftragten wollte der beratungsresistente Schily offenbar
einen fachkundigen Kritiker in seinem eigenen Verantwortungsbereich zum
Schweigen bringen. Doch es gehört zu den Pflichten eines
Datenschutzbeauftragten, die betroffene Bevölkerung darauf aufmerksam zu
machen, dass bis heute keine transparente Risikoanalyse existiert, um
Missbrauch und Systemanfälligkeiten der Biometrie in Ausweisen überhaupt
einschätzen zu können. Nach einer Studie des Bundesamtes für Sicherheit in der
Informationstechnik (BSI) ist die neue Technologie weder praxistauglich noch
ausgereift. So ist die Gesichtserkennung stark fehlerbehaftet, allein schon,
weil sich Gesichter im Laufe der Jahre erheblich verändern. Es steht zu
befürchten, dass täglich Tausende Menschen an Flughäfen zurückgewiesen und in
ihrer Reisefreiheit beschränkt werden, weil ihre digitalen Fotos oder
Fingerabdrücke von der Software nicht akzeptiert werden oder einem Vergleich
mit dem leibhaftigen Original nicht Stand halten. Solche Personen kommen in
Rechtfertigungszwang, schlimmstenfalls geraten sie in einen bösen Verdacht.
Schily nimmt das wissentlich in Kauf.
Elektronische Ausweise sind zudem missbrauchsanfällig: Die
biometrischen Daten können an allen Kontrollstellen im In- und Ausland ausgelesen
und in Datenbanken gespeichert werden – ohne dass die Betroffenen wissen, wer
auf die sensiblen Daten Zugriff hat und was anschließend mit ihnen passiert.
Selbst das kontaktlose und daher unbemerkte Auslesen der RFID-Chips per Funk
ist nicht wirklich auszuschließen, so dass nicht nur Grenzkontrollstellen,
sondern auch unbefugte Dritte Bewegungsprofile von arglosen Passinhabern
anfertigen könnten.
Zwar konnten die Grünen im Bundestag Schilys
ursprünglichen Plan, alle biometrischen Daten in einer Zentraldatei zu
speichern, bislang noch verhindern. Doch auch dezentrale Speicherungen würden
Risiken bergen: Mit geringem Mehraufwand könnten biometrische Passdaten aus
dezentralen Dateien automatisch mit Fahndungsdateien und Fingerabdrücken von
Straftätern und Verdächtigen abgeglichen werden, aber auch mit Fingerabdrücken,
die an Tatorten gefunden werden. Und die digitalisierten Gesichtsbilder könnten
etwa mit Video-Aufnahmen aus dem öffentlichen Raum abgeglichen werden, um eine
verdächtige oder gesuchte Person herauszufiltern. Ein großer Schritt zum
Generalverdacht gegen alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes – oder gleich
ganz Europas, denn auf EU-Ebene gibt es bereits Pläne für eine biometrische
Zentraldatei.
Im Zusammenhang mit elektronischen Ausweispapieren wird
eine milliardenteure Überwachungsinfrastruktur mit hohem Missbrauchspotential
aufgebaut. Für die Bürger steigen die Kosten eines Reisepasses um mehr als das
Doppelte von 26 auf 59 Euro – wie hoch die staatlichen Subventionen pro ePass
liegen, wagen wir nicht zu schätzen. Doch der riesige Kostenaufwand steht in
keinem vernünftigen Verhältnis zum angeblichen Sicherheitsgewinn. Denn auch der
ePass mit seinen biometrischen Merkmalen kann manipuliert werden. Im übrigen
gelten die bisherigen bundesdeutschen Ausweispapiere schon jetzt als die
fälschungssichersten der Welt.
Gleichwohl verkaufte Otto Schily sein biometrisches
Projekt als großen Fortschritt für die Sicherheit und als wichtigen Baustein im
Kampf gegen organisierte Kriminalität und internationalen Terrorismus. Mit
dieser Behauptung nährt Schily allenfalls eine riskante Sicherheitsillusion,
denn der ePass führt keineswegs automatisch zu mehr Sicherheit. Weder die
Selbstmord-Anschläge in New York, noch diejenigen von Madrid oder London hätten
mit der neuen Technologie verhindert werden können. Schließlich gibt es kein
biometrisches Merkmal, das signalisiert: „Dieser Pass gehört einem potentiellen
Terroristen ‑ bitte vor jedem Anschlagsversuch kontrollieren.“
Otto Schily nötigte uns den ePass nicht nur als
vermeintliches Sicherheitsinstrument auf, sondern auch als Innovationsprojekt
zur Sicherung nationaler Standortvorteile: Die rasche Einführung der
biometrischen Verfahren vor allen anderen EU‑Staaten liege im ureigenen
deutschen Interesse. Damit „bringen wir den Beweis“, so Schily in einer Rede am
2. Juni 2005, „wie rasch sich deutsche Firmen auf die neue Sicherheitstechnik
und auf den zukunftsorientierten Wachstumsmarkt der Biometrie eingestellt haben“.
Deutschland nehme so in Sachen Sicherheit eine Führungsrolle in der EU ein. Wir
sehen darin allerdings eine verdeckte Wirtschaftsförderung, etwa zugunsten der
Bundesdruckerei GmbH und der Chiphersteller Philips und Infineon, aber auch
vorauseilenden Gehorsam gegenüber den USA, die in Sachen Biometrie auf die
europäischen Regierungen massiven Druck ausgeübt hatten.
Die biometrisch-digitale Erfassung der gesamten
Bevölkerung ist nicht nur ein unverhältnismäßiger Eingriff in die
informationelle Selbstbestimmung, sondern auch eine Misstrauenserklärung an die
Bevölkerung. Sie muss sich behandeln lassen, wie bislang nur Tatverdächtige
oder Kriminelle im Zuge einer Erkennungsdienstlichen Behandlung. Mit Schilys
biometrischer Obsession werden Menschen im Namen vermeintlicher Sicherheit zu
bloßen Objekten staatlicher Macht degradiert – ohne dass dies auch nur durch
„Gefahrennähe“ des Einzelnen gerechtfertigt wäre. Otto Schily kontert mit dem
zynischen Argument, dass „die Würde des Fingers“ auch nicht größer sei als die
des Gesichts (lt. SZ 24.8.04). Im übrigen beruft er sich gerne auf spanische
Ausweise, die bereits nicht-digitalisierte Fingerabdrücke enthalten. Allerdings
verschweigt er, dass es sich dabei um ein Relikt aus faschistischen
Franco-Zeiten handelt. Und er verschweigt, dass damit weder Anschläge der
baskischen ETA noch die Anschläge von Madrid verhindert werden konnten.
Demnächst wird hierzulande selbst den hartnäckigsten
Sicherheitsfanatikern das Lachen vergehen, denn ein solches wird auf den neuen
Digitalfotos verboten sein – offene Münder oder blitzende Zähne könnten nämlich
die Hightech-Lesegeräte irritieren. Lediglich ein leichtes Grinsen mit geschlossenen
Lippen und bei ansonsten neutralem Gesichtsausdruck wird noch statthaft sein.
Beim elektronischen Gesichtsabgleich werden wohl Vollbärte, dicke Brillen,
aufgespritzte Lippen oder Nasenoperationen genauso zum Sicherheitsproblem, wie
das unvermeidliche Älterwerden und deutlicher werdende Falten im Gesicht.
Mit dem „BigBrother-Lifetime-Award“ würdigen wir die
Wandlung des anthroposophisch geprägten Preisträgers Otto Schily vom
linksliberalen Anwalt über den realogrünen Oppositionspolitiker zum
staatsautoritären SPD-Polizeiminister – eine Metamorphose, die viele Menschen
nur schwer nachvollziehen können. Vor vielen, vielen Jahren stand sein Name als
herausragender Strafverteidiger der außerparlamentarischen Linken und besonders
im Stammheimer RAF-Prozess für den Kampf gegen Deformationen des Rechtsstaates,
die dieser damals im Zuge der Terrorismusbekämpfung erleiden musste. Es war
jene Zeit, in der Schily noch die mahnenden Worte einer Erklärung der
„Humanistischen Union“ unterschrieben hatte: „Man bekämpft die Feinde des demokratischen
Rechtsstaats nicht mit dessen Abbau, und man verteidigt die Freiheit nicht mit
deren Einschränkung“ (1978).
So ändern sich die Zeiten – dennoch will Schily von
biografischen Brüchen nichts wissen: Vom „Terroristenprozess“ in Stammheim bis
zu seinen „Antiterror“-Gesetzen – kontinuierlich wähnte er sich im Einsatz für
den Rechtsstaat, wenn auch in unterschiedlichen Rollen. Doch Schily hat nicht
nur die Rollen, sondern die Seiten gewechselt – und zwar kompromisslos: Aus dem
eloquenten Strafverteidiger, der im Interesse seiner Mandanten rechtsstaatliche
Prinzipien gegen staatsautoritäre Übergriffe verteidigte, wurde spätestens in
seiner Funktion als Bundesinnenminister ein autoritärer Staats-Anwalt, der die
Macht des Staates zu Lasten der individuellen Freiheitsrechte ausgebaut hat.
Schily machte den Staat zu seinem Mandanten, für dessen Autorität und Stärke er
sich auf geradezu fundamentalistische Weise eingesetzt hat. Schon länger hält
er die Angst vor dem Leviathan, also vor einer entfesselten Staatsmacht, für
ein Problem von vorgestern. Der Einzelne müsse heute nicht mehr vor dem Staat
geschützt werden, nur noch vor Kriminalität und Terror. Jedes Misstrauen gegen
staatliche Maßnahmen ist im Schily-Staat demnach unangebracht, ja verwerflich,
zumindest verdächtig.
Schon als Oppositionspolitiker hatte der von den Grünen
zur SPD konvertierte Schily die spätere rot-grüne Koalition mit schweren
Hypotheken belastet – so mit dem Großen Lauschangriff. Schily, der in Stammheim
selbst Opfer von Lauschangriffen geworden war, hatte an der dafür nötigen
Verfassungsänderung, die ohne die SPD nicht zustande gekommen wäre, maßgeblich
mitgewirkt - und damit an der Aushöhlung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit
der Wohnung. Jahre später hat das Bundesverfassungsgericht dieses Machwerk für
weitgehend verfassungswidrig erklärt. Verfassungswidrige Betätigung –
strenggenommen ein Fall für den „Verfassungsschutz“, im Fall Schily offenbar
eine höchst paradoxe Empfehlung für den Posten des Innenministers, der
schließlich auch als Verfassungs(schutz)minister fungiert.
Als Geburtshelfer des Großen Lauschangriffs hatte Schily
ursprünglich sogar für eine noch weit schärfere Fassung gefochten: Wäre es nach
ihm gegangen, wären elektronische Wanzen auch gegen Berufsgeheimnisträger wie
Journalisten oder Ärzte einsetzbar gewesen. Seit jener Zeit sind zumindest
erhebliche Zweifel an seiner Verfassungstreue angebracht, zumal er zuvor schon
die faktische Abschaffung des Asylgrundrechts betrieben hatte. Man muss sich
seitdem fragen: Ist Schily bereit, jederzeit für die freiheitlich-demokratische
Grundordnung einzutreten, wie es von jedem Beamten gefordert wird, oder neigt
er dazu, diese vermehrt zugunsten der Staatsräson und zu Lasten der Bürgerrechte
einzuschränken?
Unser Preisträger hat mit seiner Law-and-order-Politik
einen gehörigen Beitrag dazu geleistet, dass bürgerrechtliche Grundwerte in der
herrschenden Sicherheitspolitik mehr und mehr verdrängt worden sind – ganz
besonders nach den Terroranschlägen vom 11.9.2001 in den USA. Damals verkündete
Schily als Bundesinnenminister, die rot-grüne Koalition werde „alle polizeilichen
und militärischen Mittel aufbieten, über die die freiheitlich-demokratische
Staatsordnung, die wehrhafte Demokratie verfügt“. Mit dieser martialischen
Androhung trat Schily einen fatalen Gesetzesaktionismus los, bediente den krankhaften
Sicherheits-Wahn so mancher Bürger, und nutzte ihn zur Legitimierung langgehegter
Nachrüstungspläne, ließ sie aus den Schubladen der Macht kramen, zu voluminösen
„Otto-Katalogen“ schnüren und mit Antiterror-Etiketten bekleben. Anstatt der Bevölkerung
die Wahrheit über Unsicherheitsfaktoren in einer Risikogesellschaft zuzumuten
und deutlich zu machen, dass absolute Sicherheit leider nicht und nirgendwo zu
erreichen ist, machen Schily und andere Regierungspolitiker mit symbolischer Politik
bis heute unhaltbare Sicherheitsversprechen.
Mit den sog. Antiterror-Gesetzen, für die Otto Schily wie
kein anderer steht, haben Polizei und Geheimdienste erweiterte Aufgaben und
Befugnisse erhalten. Damit wurde die ohnehin hohe Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft
noch weiter erhöht. Vermehrt können Beschäftigte in sog. lebens- oder verteidigungswichtigen
Einrichtungen geheimdienstlichen Sicherheitsüberprüfungen unterzogen werden –
mitunter auch ihre Lebenspartner und ihr soziales Umfeld. Betroffen sind
Einrichtungen und sicherheitsempfindliche Stellen, so heißt es im Gesetz
wörtlich, „die für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind und deren
Beeinträchtigung erhebliche Unruhe in großen Teilen der Bevölkerung entstehen
lassen würde“. Gemeint sind Einrichtungen, die der Versorgung der Bevölkerung
dienen, wie Energie-Unternehmen, Krankenhäuser, Chemie-Anlagen, Bahn, Post,
Banken, Telekommunikationsbetriebe, aber auch Rundfunk- und Fernsehanstalten
können betroffen sein.
Migrantinnen und Migranten, unter ihnen besonders Muslime,
werden praktisch per Gesetz unter Generalverdacht gestellt, zu gesteigerten
Sicherheitsrisiken erklärt und einem rigiden Überwachungssystem unterworfen –
denken wir nur an die biometrische Erfassung von Fingerabdrücken und
Stimmprofilen, an geheimdienstliche Regelanfragen, an erleichterte Auslieferungen
und Abschiebungen. Ohne wirklichen Nachweis, dass von ihnen mehr Terror ausgehe
als von Deutschen, werden Migranten oft – unter Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes
– einer entwürdigenden Sonderbehandlung unterzogen, die für viele existentielle
Folgen haben kann.
Die „Antiterror“-Gesetze bewirken eine verhängnisvolle
Lockerung des Datenschutzes, ganz im Sinne Otto Schilys, der den Datenschutz
ohnehin für „übertrieben“ hielt – gerade so, als könnten selbstmörderische
Terroranschläge mit weniger Datenschutz und mehr Eingriffen in die Privatsphäre
der Bürger verhindert werden. Doch die meisten Gesetzesverschärfungen taugen
nur wenig zur Bekämpfung eines religiös-aufgeladenen, selbstmörderischen
Terrors; sie schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Freiheitsrechte
um so mehr. Etliche der Antiterror-Maßnahmen sind unverhältnismäßig, ja maßlos
– sie zeigen Merkmale eines nicht erklärten Ausnahmezustands und eines
autoritären Präventionsstaates, in dem letztlich Rechtssicherheit und Vertrauen
verloren gehen. Die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen
Errungenschaften, verliert in dieser Sicherheitskonzeption ihre
machtbegrenzende Funktion. Der Mensch wird zum potentiellen Sicherheitsrisiko,
der seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muss – während Otto Schily die
vermeintliche Sicherheit zum Supergrundrecht erklärt, das die wirklichen
Grundrechte der Bürger - als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates - in den
Schatten stellt.
In seinem missionarischen Eifer als Staatsschützer
schreckte der Preisträger selbst vor extremistischen Forderungen aus dem
Arsenal von Diktaturen nicht zurück: So würde er allzu gerne „gefährliche“
Personen ohne konkreten Verdacht in präventive Sicherungshaft nehmen lassen.
Otto Schilys zuweilen obrigkeitsstaatliche Interpretation des Rechtsstaats
zeigt sich auch in seinen folgenden Staatschutzprojekten:
Er hat mit einem gemeinsamen Antiterror-Lagezentrum und
mit dem Plan einer zentralen „Islamistendatei“ Grundsteine für einen
Datenverbund aller Geheimdienste und des Bundeskriminalamts gelegt. Eine noch
engere Vernetzung würde die Aufhebung des verfassungsmäßigen Gebots der
Trennung von Polizei und Geheimdiensten bedeuten – immerhin eine Konsequenz aus
den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo im Nationalsozialismus. Damit nimmt
Schily eine Machtkonzentration in Kauf, die kaum noch wirksam kontrollierbar
sein wird.
Schily hat sich mit Vehemenz dafür eingesetzt, dass alle
Telekommunikationskontakte – ob per Telefon, SMS, Email oder Internet ‑
zur Terror- und Kriminalitätsbekämpfung deutschland- und europaweit für
mindestens zwölf Monate auf Vorrat gespeichert werden. Also: Wer hat mit wem,
wann, wie oft und wie lange von wo nach wo fernmündlich oder schriftlich kommuniziert,
welche SMS- oder Internet-Verbindungen genutzt, welche Suchmaschinen mit
welchen Begriffen benutzt, welche websites besucht und mit welchen
Email-Empfängern kommuniziert? Mit dieser beispiellosen Vorratsdatensammlung
ließe sich das Kommunikations- und Konsumverhalten einzelner
Telekommunikationsnutzer heimlich ablesen – Verhaltens- und Kontaktprofile inklusive.
Auch die Pressefreiheit ist vor Otto Schily keineswegs sicher: So rechtfertigt er undifferenziert und hartnäckig die höchst umstrittene Durchsuchung der Redaktionsräume des Monatsmagazins „Cicero“ und der Privatwohnung eines Journalisten durch das Bundeskriminalamt (BKA), zu der Schily die Ermächtigung erteilt hatte. Der Journalist hatte zulässigerweise aus einem geheimen BKA-Papier zitiert. Weil die undichte Stelle im BKA, also der Lieferant des Geheimdossiers, nicht zu finden war, wurde gegen den Journalisten wegen „Beihilfe zum Geheimnisverrat“ ermittelt – stundenlange Razzien und kistenweise Beschlagnahme von Recherchematerial inklusive. Das gesuchte Dokument wurde nicht gefunden, dafür „Zufallsfunde“ zuhauf, die mit dem Durchsuchungsanlass nicht das Geringste zu tun haben, aber zu weiteren Ermittlungsverfahren führten. Mit dieser Verdächtigung, als Journalist am Verrat von Dienstgeheimnissen selbst beteiligt gewesen zu sein, lassen sich Informantenschutz und Zeugnisverweigerungsrecht praktisch aushebeln – und damit das hohe Gut der Pressefreiheit. Solche Praktiken können letztlich dazu führen, kritische Journalisten einzuschüchtern und von investigativen Recherchen abzuhalten.
So sehen die fatalen Folgen aus, wenn man, wie der Preisträger, die Sicherheit zum Grundrecht kürt, wenn man die Staatsräson zum Verfassungsgrundsatz erhebt, die alles andere dominiert: Dann herrscht partielle Willkür, dann werden Bürgerrechte zur Makulatur. Angesichts überzogener Antiterrormaßnahmen und einer eskalierenden Sicherheitsdebatte warnte der frühere Datenschutzbeauftragte und Vorsitzende des Nationalen Ethikrates, Spiros Simitis, eindringlich: „Jetzt ist der Punkt erreicht, wo wir am Grundbestand unserer verfassungsrechtlichen Vorgaben angelangt sind – der Übergang in eine totalitäre Gesellschaft ist fließend“. Und der Soziologe Ulrich Beck sieht mit der „Risikogesellschaft“, in der wir leben, ohnehin eine „Tendenz zu einem ‚legitimen‘ Totalitarismus der Gefahrenabwehr“ verbunden: Ausgestattet mit „dem Recht, das Schlimmste zu verhindern“, schaffe sie in „nur allzu bekannter Manier das andere Noch-Schlimmere”. Anstatt dieser fatalen Tendenz wirksam entgegenzutreten, betätigte sich Otto Schily als ihr missionarischer Vollstrecker. Selbst sein Ministerkollege Wolfgang Clement fand deutliche Worte für Otto Schilys freiheitsbegrenzendes Wirken, als er seine Zeit nach dem Ausstieg aus der Bundesregierung so skizzierte: „Ich bin ein freier Mensch und werde jetzt von meinen Freiheitsrechten Gebrauch machen – und zwar ausgiebig ‑, natürlich nur in dem Rahmen, den Otto Schily mir noch zur Verfügung stellt...“ (WDR 10.10.2005).
[1] Geräte, mit denen Handys geortet und teilweise auch abgehört werden können. Die Problematik der IMSI-Catcher ist, dass immer alle Handys im Umkreis betroffen sind, nicht nur das von Tatverdächtigen
[2] An diesem Tag wurden in den Vereinigten Staaten von Amerika vier Flugzeuge von mutmaßlichen Terroristen entführt. Zwei davon stürzten in die Türme des World Trade Centers in New York, eines in das Pentagon das vierte stürzte in freiem Gelände ab.
[3] Am 1. November 2005 wurde der biometrische Reisepass eingeführt. Zunächst ist nur ein Bild auf dem integrierten Funkchip gespeichert. Später sollen Fingerabdrücke folgen.
[4] BigBrotherAwards-Preisträger im Jahr 2000
[5] Eine Erklärung, was IMSI-Catcher sind, findet sich in der Laudatio in der Kategorie Politik des Jahres 2000